69 – Clara

Am einen Ende des Sees kommt der Fluss vom Berg runter, eiskalt und grün zu jeder Jahreszeit und bei jeder Lufttemperatur.

Am anderen Ende wird der See schmal, das Wasser sammelt sich glatt und fließend, verschwindet in einem gewaltigen weißen Inferno.

Dazwischen liegt ein klassischer Bergsee. Und am Hang auf einer der Längsseiten unsere Sommeralm.

Das Morgenlicht ist frisch und zart, die Luft kühl und klar. Haavard und ich stehen nebeneinander am Ufer wie zwei Wettschwimmer am Beckenrand, die bereit sind zum Kampf. Heute Morgen habe ich lange wach gelegen, während Haavard noch schlief, habe Atemübungen gemacht. Heute muss ich in Höchstform sein.

»Na, skeptisch?«, frage ich.

»Sehr.« Er friert ganz deutlich, hat Gänsehaut, er schlingt sich die Arme um den Leib.

Trotzdem wirkt er irgendwie angriffslustig.

Aber jetzt heißt es er oder ich. Durch seinen Besuch bei Agnes hat er sein Schicksal besiegelt.

Auf der Wanderung gestern habe ich darauf geachtet, hinter ihm zu gehen, den Rücken frei zu haben. Es hat funktioniert. Ich werde wohl weiter Glück haben.

Er ist mit mir hierhergefahren, hat mich nicht angezeigt, hat nicht mal etwas zu mir gesagt. Aber so wird es nicht mehr lange weitergehen. Dann meldet er mich bei der Polizei, oder er bringt mich um. Ich tippe auf Letzteres.

Nur so kann ich mich retten, nur so kann ich mein Projekt fortführen, meiner Bestimmung folgen.

Ich stelle mich neben ihn, gehe auf die Zehenspitzen, küsse ihn. In seinen Augen zeichnet sich eine Art verwirrte, furchtsame Freude über den Kuss ab, die Fortsetzung der Nähe von neulich Abend.

Unsere Telefone haben wir im Haus gelassen. Eben bin ich noch mal rein, um meine Uhr abzulegen, und habe von seinem Telefon aus eine SMS an Sabiya geschickt.

Habe wie versprochen das Tier im Wald vergraben. Ich fürchte nur, es könnte stinken. Vielleicht woanders hinbringen? Lieben Gruß aus Westnorwegen.

Die beiden haben die Glock ja selbst »das Tier« genannt.

Ich streichle ihm die Wange. »Bereit?«

»So bereit, wie ich nur sein kann.«

Hier ist das Wasser längere Zeit flach. Haavard watet zielbewusst hinein.

Ich nur so weit, bis mir das Wasser an die Oberschenkel reicht. Die Sonne, der helle Sand am Boden des Sees und die leicht gekräuselte Oberfläche, alles glänzt golden.

Ich schwimme los.

Es ist eiskalt. Doch wie immer kommt es mir nach einigen Sekunden geradezu warm vor. Es brennt, reinigt.

Ich drehe mich zu Haavard um: »Komm schon!«

»Ich geh ein bisschen weiter rechts rein«, sagt er. Er will wohl dafür sorgen, dass ich näher am Wasserfall bin.

Weil die Strömung dort scheinbar stärker ist.

»Besser, wir bleiben hier in der Mitte«, sage ich. »Ist sicherer.«

Hinter mir höre ich Haavard nach Luft schnappen, sicher wegen der Kälte.

Ich schwimme rasch, nach links, vom Wasserfall weg.

Gleich erreichen wir den Teil, wo es plötzlich sehr tief wird, dort herrscht die stärkste Strömung.

»Clara? Alles unter Kontrolle?«, fragt er. »Ist es weiter rechts nicht besser?«

Ich drehe mich um, er ist direkt hinter mir, hat einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.

»Na, wer von uns beiden kennt sich hier besser aus? Komm schon.« Ich zwinge mich zu lächeln.

Ich bin die bessere Schwimmerin von uns beiden, ich kenne diesen See genau, bin hier zu Hause. Trotzdem fühle ich mich nicht ganz sicher.

Er ist ein Mann. Ist gut in Form. Und stärker als ich.

So weit draußen war ich nicht mehr, seit ich Lars aus dem Wasser geholt habe. Damals war der See wärmer, führte weniger Schmelzwasser, und die Strömung war schwächer.

In diesem Frühling und Sommer war es hier lange ebenso trocken wie im Osten des Landes, aber in den letzten Wochen hat es viel geregnet. Flüsse und Seen sind in Rekordzeit angeschwollen und führen jetzt mehr Wasser als jemals.

Ich habe keine Garantie, dass das gut geht.

Schlimmstenfalls sind die Jungs heute Abend Vollwaisen.

Jetzt nähern wir uns der Mitte des Sees. Erst war Haavard nach rechts geschwommen, ich nach links. Aber jetzt schwimmt er direkt auf mich zu. Will er mich unter Wasser ziehen? Mich Richtung Wasserfall locken?

Egal, ich habe ihn genau dorthin bringen können, wo ich ihn haben wollte. Mitten auf dem See, wo das Wasser trügerisch still und harmlos wirkt.

Ich drehe mich noch einmal um, sehe sein konzentriertes Gesicht, es ist hart und verschlossen.

Jetzt muss es geschehen. Das ist der Moment.

Ich zähle innerlich bis drei, während ich tief einatme, mache eine Rolle und tauche ab.

Tiefer, immer tiefer.

Zum Grund des Sees.

Jetzt bin ich unten. Aber auch hier noch spüre ich den Sog nach rechts. Die Strömung ist viel stärker, als ich sie in Erinnerung habe.

Verdammt noch mal. Ich habe keine Kontrolle mehr.

Muss noch weiter runter. Endlich liege ich fast flach am Boden, spüre ihn an Zehenspitzen und Ellbogen. Hier zerrt der Wasserfall weniger an mir.

Aber jetzt muss ich wieder hoch, Luft holen, ich bin kältestarr, es fällt mir schwer, mich zu bewegen.

Hoch jetzt. Für die Jungs. Hoch, weiter, atmen, atmen.

Schon bin ich oben. Da ist das Ufer. Aber wo ist Haavard?

Ich drehe mich auf den Rücken, sehe, dass er immer noch dort draußen ist. Aber jetzt schon ein Stück weiter als in dem Moment, wo ich abgetaucht bin. Er kämpft gegen die Strömung.

»Clara!«, ruft er. »Clara! Was machst du denn? Komm her!«

Für einen kleinen Moment erwäge ich, hinzuschwimmen und ihm an Land zu helfen.

Aber das geht nicht. Jetzt ist es unmöglich, in jeder Hinsicht.

Trotzdem muss ich die Augen zumachen, als er von einer Art Spirale ohne Anfang oder Ende eingefangen wird, einem Strudel, der ihn langsam, aber sicher zu dem donnernden weißen Inferno davonträgt.

Er wird immer kleiner, kommt immer näher zu der Stelle, wo das Wasser hinabstürzt.

Wenn stimmt, was man sich erzählt, dann sind früher häufig Leute im Wasserfall umgekommen. Oder Kühe. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Haavard ist jedenfalls der erste in moderner Zeit.

Ich hoffe, dass sein Körper gefunden wird.

Ein Grab, das sie aufsuchen können, das wäre gut für die Jungs.

Kurz sehe ich ihn bei unserem ersten Besuch hier vor mir, es war fast ein Schock für ihn, den Ärmsten, alles war so anders als die Hütten in Ustaoset und Kilsund, wo er aufgewachsen ist.

Und dann sein Gesicht, als er die Jungs zum ersten Mal im Arm hielt, jeden auf einer Seite. Müde, verschwitzt, glücklich. Sein Gesicht, als er mit ihnen spielt, auf dem Trampolin herumtollt, sie kitzelt, so tut, als wollte er sie auffressen. Sie finden das immer noch toll.

Magnes Leiche wurde nicht geborgen. Ich erzählte der Polizei, wie ich versucht hatte, ihn zu retten, so, wie ich jetzt erklären werde, wie ich Haavard retten wollte.

Sie werden mir glauben. Die Leute glauben mir immer. Das ist eine meiner Stärken.

»Leb wohl«, flüstere ich, als ich seinen Kopf verschwinden sehe.

Als ich wieder in knietiefem Wasser bin, setze ich mich an den Boden, grabe die Finger in den Sand, der so hell ist wie in der Wüste. Ich hebe die Hände, lasse mir den Sand durch die Finger rinnen, mehrere Male.

Will mich im Sand vergraben, ganz tief.

Ringsum kräuselt sich das glitzernde und leuchtende Wasser in den Sonnenstrahlen, die zwischen den dicken, dunkelgrauen Wolken durchdringen.

Und dann, ungewöhnlich so früh am Tag, entlädt sich die seit Langem anhaltende Schwüle in ein paar heftigen Donnerschlägen weiter oben, hinter dem Heksefjell, in Richtung Trollskavlen.

Gleich darauf prasselt der Regen los.

Wie Hagelkörner treffen die Tropfen auf das Wasser, bilden kleine Kreise.

Auf der Haut fühlen sie sich an wie kleine Peitschenhiebe.

Zum zweiten Mal in meinem Leben als Erwachsene weine ich, und diesmal kann ich nicht aufhören.