1.2 Einführung in „Anti-Aging für die Stimme“ – ein Trainingsprogramm für eine leistungsfähige Stimme

In den 60er Jahren begann man in Schweden, sich mit der alternden Stimme zu beschäftigen. Eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Stimmforschern, Phoniatern, Gesangspädagogen, Sängern, Sprech­erziehern, Logopäden und Psychologen, kam zusammen, um genau zu untersuchen, was mit der Stimme im Alter passiert.

Dass es dazu kam, hängt wahrscheinlich mit den Singgewohnheiten in Skandinavien zusammen. Das Singen ist dort viel mehr in das Alltagsleben integriert als es heute in Deutschland der Fall ist. Fast jeder gehört einem Chor oder einer Singgruppe an. Ein Fest, eine Party ohne „allsång“ (allgemeines, gemeinschaftliches Singen) ist nicht denkbar. Bei Hochzeitsfesten, Geburtstagsfeiern, Firmen- und Betriebsfesten, Jubiläen jeglicher Art – überall wird kräftig gesungen! Die im August so beliebten Krebsfeste könnten gar nicht ohne Singen stattfinden! Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass jeder daran interessiert ist, möglichst lange singen zu können. Für einen engagierten Chorsänger, der lebenslang im Chor gesungen hat, im Chor seine Freunde und soziales Umfeld hat, ist es ein rabenschwarzer Tag, wenn er aufhören muss, weil seine Stimme nicht mehr mitmacht.

Die Arbeitsgruppe untersuchte nun systematisch, was mit der Stimme im Alter passiert. Was verändert sich, und ist es möglich, den Alterungsvorgang hinauszuzögern?

Bei allen körperlichen Aktivitäten, sei es gezielte Bewegung/Sport oder Singen, empfiehlt es sich, MIT dem Körper und nicht GEGEN ihn zu arbeiten. Der Gegenstand der Sport- und Bewegungswissenschaft ist dabei unter anderem die Analyse von Bewegungen und das Herausarbeiten von idealen funktionellen Bewegungsmustern und -abläufen. Dies betrifft jeden Menschen und nutzt ihm, schonend mit seinem Körper bei jeglicher Form von Bewegung und Haltung umzugehen und dabei, z. B. im Falle des Leistungssports, Höchstleistungen zu vollbringen.

Dasselbe gilt für das Singen. Leider gibt es auf dem stimmlichen Gebiet große Unkenntnisse. Selbst Gesangslehrer und Chorleiter, die sich intensiv mit Stimmen beschäftigen, haben oft unzureichende oder gar falsche Kenntnisse über die Funktionsweise der Stimme.

Ein Problem bei der stimmlichen Arbeit ist, dass man die verschiedenen, für die Klangerzeugung verantwortlichen Körperteile nicht sehen kann – sie sind ja alle IN uns. Sehen können wir nur das „Gehäuse“, den Körper.

Das vielleicht allergrößte Problem ist, dass es kein „Stimmorgan“ gibt, wie z. B. unser Sehorgan, das Auge. Das, womit wir unsere Stimme produzieren, ist die Koordination verschiedenster Körperorgane, die alle eine andere Primärfunktion haben. Wer schön singt, beherrscht die perfekte Koordination der Systeme. Es gibt Menschen, die von Natur aus eine gute Koordination haben – das sind die „geborenen Sänger“. Bei denen funktioniert einfach alles mühelos! Das ist aber ein kleiner Teil der Menschheit. Die meisten werden mit ungeordneten Funktionen geboren, können aber lernen, geschickt mit ihrer Stimme umzugehen.

Jeder kann singen lernen. Natürlich wird nicht jeder ein Caruso oder eine Callas, aber jeder kann lernen, so mit seiner Stimme umzugehen, dass er viel Freude daran hat und auch anderen eine Freude damit machen kann.

Man kann aus einem mittelmäßigen Stimmmaterial eine gute Stimme machen und aus einem schlechten Stimmmaterial eine mittelgute Stimme. Es ist aber ein Lernprozess. Wie jeder Lernprozess braucht es Zeit, Fleiß, Geduld, gute Anleitung und große Liebe zum Singen.