Die Abschaffung der Aggression ist weder möglich noch wünschenswert. Doch ist, dem Gesetz der Schmerzgrenze folgend, eine Abnahme von Aggression zu erwarten, wo zwischenmenschliche Bindungen und gegenseitiges Vertrauen einen hohen Stellenwert haben. Mit erhöhter Gewaltbereitschaft muss dort gerechnet werden, wo Bedrohung, Ausgrenzung und Demütigung vorherrschen. Auch Armut kann, wie bereits erwähnt, Ausgrenzung bedeuten. In einer Gesellschaft, in der alle unter in etwa gleichermaßen schlechten wirtschaftlichen Bedingungen leben, fehlen jedoch die Adressaten, an welche sich die durch Armut hervorgerufene Gewaltbereitschaft richten könnte. Die Situation verändert sich jedoch, wenn ein Teil der Menschen innerhalb einer Gesellschaft von einem signifikanten Mangel an Lebenschancen und Gütern betroffen ist, während ein anderer Teil der Bevölkerung deutlich weniger oder keine Not leidet. Im Angesicht anderer, die keine Not leiden, in Armut zu leben, ist eine Ausgrenzungs- und Demütigungserfahrung mit massiver Einwirkung auf die Schmerzgrenze. In einem solchen Falle sollte daher mit einer Zunahme von Aggression und Gewalt zu rechnen sein. Trifft dies zu? Inwieweit gilt das Gesetz der Schmerzgrenze nicht nur für Individuen, sondern auch für Gesellschaften als Ganze?
Die Gewaltbereitschaft eines Landes lässt sich objektiv erfassen, indem die Zahl der Tötungs- und Morddelikte erfasst und auf die Einwohnerzahl bezogen wird. Tötungs- und Morddelikte pro 100 000 Einwohner werden in der Fachliteratur als Homizidraten (»homicide rates«) bezeichnet. Sie zeigen zwischen verschiedenen Ländern der Erde eine erhebliche Streubreite: Die höchsten und niedrigsten Homizidraten auf dieser Erde unterscheiden sich um das bis zu über 80-Fache. Eine erste systematische Analyse aller weltweit verfügbaren Daten zur Beziehung zwischen Tötungs- und Morddelikten einerseits und Armut andererseits unternahmen 1993 die US-Forscherin Meredith Pugh und ihre taiwanesische Kollegin Ching-Chi Hsieh212. Die beiden Wissenschaftlerinnen fanden eine Korrelation zwischen Mord und Totschlag einerseits und dem Wohlstandsniveau eines Landes. Die Tötung- und Morddelikte korrelierten aber vor allem mit den Wohlstandsunterschieden innerhalb eines Landes 213: Je höher die Einkommensunterschiede eines Landes, desto häufiger sind Mord und Totschlag. Eigentumsdelikte (inklusive Raub, aber ohne Tötungen) korrelierten in der Studie von Pugh und Hsieh interessanterweise »nur« mit einem allgemein niederen Wohlstandsniveau, nicht aber mit dem Ausmaß des Wohlstandsunterschiedes214.
Ein Jahrzehnt später wandte sich eine weitere Gruppe von Wissenschaftlern dem Thema erneut zu215. Auf einer internationalen Rangliste von Ländern entlang ihrer Mord- und Totschlagsraten belegte Kolumbien mit 85 Homiziden pro 100 000 Einwohner pro Jahr den Spitzenrang. Weitere Spitzenplätze hatten Russland, Brasilien und Mexiko mit 25 bis 18 Fällen inne. Einen Mittelplatz nahmen die USA ein mit 10 Homiziden pro 100 000 pro Jahr, unmittelbar hinter Staaten wie Armenien oder Trinidad/Tobago und direkt vor Kuba (7 Fälle pro 100 000 pro Jahr). Länder wie die Schweiz, Deutschland und Japan bewegten sich im Bereich von einem Mord- oder Tötungsereignis pro 100 000 Einwohner pro Jahr und darunter. Was war der wichtigste Einflussfaktor für den Gewaltlevel innerhalb der untersuchten Länder? Über 50 Prozent der Unterschiedlichkeit (der sogenannten Varianz) der Häufigkeit von Totschlags- und Morddelikten erklärte sich durch den allgemeinen Wohlstand und durch die relative Ungleichheit des Einkommens innerhalb der betroffenen Länder.
Eine Korrelation zwischen Einkommensungleichheit und Homiziden lässt sich auch innerhalb großer Staaten wie den USA oder Kanada finden. Eine Analyse, in die alle US-AMERIKANISCHEN Bundesstaaten und sämtlichen kanadischen Provinzen einbezogen waren, ergab eine komplett lineare Beziehung zwischen der Einkommensungleichheit (wie sie innerhalb der untersuchten Bundesstaaten und Provinzen festzustellen war) und den Homizidraten216. Eine klare Korrelation zwischen Einkommensungleichheit und Homizidraten zeigte sich auch bei einer kürzlich durchgeführten Untersuchung, in die alle europäischen Staaten einbezogen waren217. Die Erklärung bildet – dies ist meine These – das Gesetz der Schmerzgrenze. »Wo größere Einkommensungleichheit herrscht«, so der britische Epidemiologe Richard Wilkinson, »dort verlieren mehr Leute ihre Jobs, ihre Einkommen, ihre Wohnung und ihre Fahrzeuge. Die Erniedrigung durch Armut im Angesicht von Reichtum macht Menschen verwundbar und in besonderer Weise empfindlich gegenüber dem Gefühl, nicht geachtet zu sein. Solche Menschen reagieren empfindlicher auf Vorfälle, die mit einem Gesichtsverlust verbunden sind.«218 (Kursivierung durch J.B.)
Ihren Einfluss auf die Gewaltbereitschaft übt die innerhalb eines Landes herrschende Ungleichheit von Einkommen nicht nur direkt (via Schmerzgrenze), sondern auch indirekt aus. Faktoren, welche diesen indirekten Effekt vermitteln, sind die Bereiche seelische Gesundheit und Bildung. Menschen mit seelischen Erkrankungen und fehlender Bildung sind von sozialer Ausgrenzung in besonderer Weise betroffen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung steigt, wenn Menschen unter stark ungleichen Bedingungen zusammenleben. Die Häufigkeit schwerer psychischer Störungen korreliert international gesehen nahezu linear mit der Einkommensungleichheit 219: Länder mit einer im internationalen Vergleich relativ gering ausgeprägten Einkommensungleichheit wie Japan oder Deutschland liegen mit ihren Prozentsätzen akut psychisch erkrankter Personen bei etwa 10 Prozent und damit etwa halb so hoch wie Länder mit relativ höherer Einkommensungleichheit wie Kanada oder Neuseeland, wo die psychischen Erkrankungsraten zwischen 18 Prozent und 22 Prozent liegen. Die »Spitzengruppe« bilden Länder wie Australien, Großbritannien und die USA, wo stark ausgeprägte Einkommensunterschiede mit hohen psychischen Erkrankungsraten um etwa 25 Prozent (!) einhergehen. Bei den Bildungschancen zeigt sich ein ähnliches Verhältnis. Die in Deutschland im internationalen Vergleich nur mittelmäßigen Schulleistungen im Bereich Mathematik und Sprachen werden interessanterweise von solchen Ländern (wie Finnland und Japan) übertroffen, die eine noch stärkere Gleichverteilung des Einkommens als hierzulande haben. Länder wie Italien, Portugal oder die USA sind uns bezüglich der Einkommensunterschiede deutlich »voraus«, weisen zugleich aber die schlechtesten durchschnittlichen Schülerleistungen aus.
Menschen bedürfen – auch aus neurobiologischer Sicht – keiner Gleichheit aller. Das menschliche Gehirn sucht Herausforderungen, will sich an Aufgaben bewähren und toleriert sich daraus ergebende wirtschaftliche Unterschiede zwischen Menschen vor allem dann, wenn offensichtlich ist, dass von Einzelnen erzielte wirtschaftliche Vorteile auf einer entsprechend höheren Leistungsbereitschaft basieren. Andererseits zeigen alle vorliegenden Daten, dass eine zu große Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen nicht nur Gewalt fördert, sondern eine Gesellschaft insgesamt zerrüttet. Wie Untersuchungen zeigen, korrelieren Gesundheits- und Bildungsdefizite, die sich ihrerseits aus einer Ungleichverteilung von Chancen ergeben, direkt mit der Geburtenrate von Kindern sehr junger Mütter (Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren). Die Geburtenraten jugendlicher Mütter stehen ihrerseits wiederum in einem direkten Verhältnis zu den Homizidraten 220. Kinder, die ohne hinreichende wirtschaftliche Fürsorge, ohne stabile Bindungen und ohne Förderung heranwachsen, werden – aus den in Kapiteln 2 und 3 genannten Gründen – zu Jugendlichen und Erwachsenen mit einer besonders empfindlichen Schmerzschwelle und werden entsprechend ihren fatalen »Beitrag« zur Gewaltbereitschaft eines Landes leisten.
Die Zerrüttung einer Gesellschaft durch krasse Ungleichverteilung von Lebenschancen geht über die Bereiche Gewalt, Gesundheit und Bildung weit hinaus. Länder, die sich – unter Inkaufnahme großer Einkommensunterschiede – ein wachsendes internes Gewaltpotenzial heranziehen, haben es nicht nur mit einer wachsenden Zahl psychisch erkrankter Personen, sondern auch mit hohen Zahlen an Gefängnisinsassen zu tun. Die USA, eines der Länder mit der weltweit krassesten Ungleichverteilung von Einkommen, haben in ihren von einer »Gefängnisindustrie« betriebenen Haftanstalten knapp 600 Insassen pro 100 000 Einwohner221 und liegen damit um das Dreifache über den Häftlingszahlen der internationalen Mittelgruppe, die von Staaten wie Israel, Großbritannien oder Neuseeland gebildet wird (mit 150 bis 200 Insassen pro 100 000 Einwohnern). Länder wie Deutschland, Schweden oder Japan bilden mit deutlich unter 100 Häftlingen pro 100 000 Einwohner das Schlusslicht dieser wenig ehrenvollen Rangliste222. Folgeprobleme, die sich aus der Ungleichverteilung von Lebenschancen innerhalb eines Landes ergeben, schlagen auf zahlreiche weitere Parameter des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch, insbesondere auf den Status der Frau und auf die allgemeine (Nicht-)Beachtung von Menschenrechten223.
Ein wichtiger neurobiologischer Schutzfaktor, der die menschliche Gewaltbereitschaft vermindert, ist Vertrauen. Vertrauen lässt sich als gegenseitige Vorhersehbarkeit kooperativen oder unterstützenden Verhaltens definieren, es ist ein Kernelement jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Vertrauen steigert die Ausschüttung von Oxytozin, welches die Ansprechbarkeit des Aggressionsapparates – insbesondere die Empfindlichkeit des Angstzentrums – dämpft (siehe Kapitel 2 und 3 sowie Abbildung 3). Erlebtes Misstrauen dagegen senkt die Oxytozinausschüttung, erhöht den Testosteronspiegel und damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Betroffenen ihrerseits misstrauisch oder aggressiv agieren.Vertrauen und Misstrauen sind in Experimenten testbare und insoweit auch objektivierbare Beziehungsphänomene. Anders als man intuitiv vermuten würde, spielt Vertrauen aber nicht nur im persönlichen Umfeld eine Rolle. Auch innerhalb ganzer Gesellschaften und in staatlichen Gemeinschaften herrscht ein unterschiedlich ausgeprägtes Maß an gegenseitigem Vertrauen.
Stellt man in verschiedenen Ländern unseres Globus’ einer repräsentativen Stichprobe von Einwohnern die Frage »Sind Sie der Meinung, dass man den meisten Menschen vertrauen kann?«, so erhält man einen länderspezifischen Prozentsatz derer, die angeben, dies sei der Fall224. Die sich daraus ergebende Länder-Rangliste zeigt sehr hohe »nationale Vertrauensspiegel« (über 60 Prozent) für wohlhabende Länder wie Norwegen und Dänemark. Länder wie die USA, Deutschland und Großbritannien liegen im mittleren Bereich (mit Werten um 30 Prozent), Länder wie Südafrika, Rumänien, Uganda und Brasilien bilden das untere Ende der Skala (mit Werten um 10 Prozent für Südafrika und Rumänien und 2 Prozent für Brasilien). Auf den ersten Blick scheint die von 29 Ländern gebildete Skala einen Zusammenhang zwischen Vertrauen und Wohlstandsniveau abzubilden. Die nähere Betrachtung zeigt jedoch Ausreißer: So zeigen Länder mit relativ geringem Wohlstand wie China und der Iran (mit ca. 50 Prozent) hohe Vertrauenslevel und liegen damit noch vor den USA und Deutschland, während ein relativ wohlhabendes Land wie Frankreich (mit ca. 20 Prozent) im unteren Drittel der internationalen Vertrauensskala rangiert. Welche Einflussfaktoren erzeugen Vertrauen? Und was ist der Grund dafür, wenn es fehlt?
Wie entsteht in einem Land Vertrauen? Diese Frage muss als derzeit noch ungeklärt betrachtet werden. Sicher spielen hier viele Einflüsse eine Rolle. Eine vom US-Forscher Paul Zak durchgeführte Analyse ergab, dass die Ernährung einen signifikanten statistischen Einfluss auf den jeweiligen »nationalen Vertrauensspiegel« hat: Je höher der Anteil an Nahrungsmitteln mit pflanzlichen Östrogenen (sogenannten Phyto-Östrogenen), desto stärker ausgeprägt scheint die Bereitschaft der Bewohner zu sein, sich gegenseitig zu vertrauen225. Phyto-Östrogene sind insbesondere in Sojaprodukten enthalten, aber auch in verschiedenen Gemüsearten sowie in Nüssen, Bohnen, Reis, Datteln und Tee. Östrogene erhöhen die Wirksamkeit des Vertrauenshormons Oxytozin, indem sie die Zahl der Empfängermoleküle (der sogenannten Oxytozinrezeptoren) im Gehirn nach oben regulieren.
Ein weiterer Vertrauensbereitschaft fördernder Einflussfaktor war merkwürdigerweise das Ausmaß der in einem Land herrschenden Umweltverschmutzung. Der Grund, so jedenfalls die Vermutung von Paul Zak, könnte die mit erhöhter Umweltbelastung durch Müll einhergehende Verbreitung von künstlichen Östrogenen (sogenannten Xeno-Östrogenen) sein. Wichtigste Vertreter der Xeno-Östrogene sind Pestizide (Pflanzenschutzmittel), aber auch das in sämtlichen Plastikprodukten enthaltene Bisphenol A sowie eine Reihe von Haushalts- und Industriechemikalien (Lösungsmittel etc.). Die Umstellung der Ernährung auf mehr pflanzliche Nahrungsmittel scheint also eine »vertrauensbildende Maßnahme« zu sein. Was die Umweltbelastung betrifft, so sollte sie uns allerdings – nicht zuletzt wegen des Krebs fördernden Potenzials der erwähnten Xeno-Östrogene – weiterhin Sorgen machen.
Eine Einkommens- und Vermögensungleichverteilung jenseits der Schmerzgrenze ist mit Ausgrenzungs- und Demütigungserfahrungen verbunden und begünstigt die Gewaltbereitschaft der Bevölkerung eines Landes. Von diesem Gedanken ausgehend, ergeben sich Bezüge zum Konzept der Anerkennung, wie es seit Längerem von philosophischer und soziologischer Seite vertreten wird226. Dass die Erlangung von Anerkennung ein zentrales Ziel gesellschaftlichen Handelns darstellt, deckt sich mit der neurobiologischen Erkenntnislage. Gesellschaftliche Anerkennung ist ein komplexes, von zahlreichen Faktoren beeinflusstes Phänomen. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer unterscheidet eine »positionale«, eine »moralische« sowie eine »emotionale« Form der Anerkennung227. »Positionale« Anerkennung meint die Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft, »moralische« Anerkennung die Möglichkeit, am politischen Diskurs teilnehmen zu können, gehört zu werden und mitentscheiden zu können. Mit »emotionaler« Anerkennung beschreibt Heitmeyer das Bedürfnis eines jeden Menschen, im persönlichen bzw. privaten Umfeld Wertschätzung zu erleben und sinnstiftende Erfahrungen machen zu können. Die drei Anerkennungsbereiche stehen untereinander in engem Zusammenhang.
Auch in unserem Land wünschen sich Menschen Anerkennung und faire Teilhabe228. Doch was sind die pragmatischen Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass dieses Ziel noch nicht hinreichend eingelöst ist? »Mit der Erwartung einer gerechteren Welt ist die Welt noch nicht gerechter geworden«, wie es Bernhard Schlink treffend formulierte229. Das Konzept, Anerkennung für die Benachteiligten einzufordern, ist einleuchtend, doch an wen appelliert es in einem Land mit demokratischen Strukturen? Das soziologische Anerkennungskonzept entwirft implizit ein Bild, in dem sich zwei Gruppen gegenüberstehen: Auf der einen Seite Akteure, die vorhandene gesellschaftliche Güter verwalten und diese – im Falle ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse – zurückhalten. Auf der anderen Seite Anspruchsberechtigte in klagender Wartestellung, die nicht erhalten, was ihnen zusteht. Für Schwächere einzutreten – vor allem wenn es sich um Kinder und Jugendliche handelt – ist wichtig und richtig. Doch sollten wir darauf achten, dass das Anerkennungskonzept, indem es die sozial Schwächeren sozusagen mit moralischer Legitimation »abfüttert«, nicht eine passive Haltung verstärkt, anstatt die Betroffenen zu ermutigen, sich auf den Weg zu machen230. Wer soll in einem demokratischen Land die Voraussetzungen für Partizipation schaffen und berechtigte Ansprüche realisieren, wenn die Betroffenen – wir alle – nicht selbst aktiv werden?231
Einer Position der Verteilungsgerechtigkeit, wie sie von Wilhelm Heitmeyer und Axel Honneth vertreten wird, steht im derzeitigen öffentlichen Diskurs unseres Landes eine Gegenposition gegenüber, die u.a. von Peter Sloterdijk formuliert wurde. Er beansprucht, für jene zu sprechen, die behaupten, einen besonderen, überdurchschnittlichen Beitrag bei der Erwirtschaftung von materiellen und nichtmateriellen Gütern zu leisten und die dafür eine angemessene Gratifikation erwarten232. Hinter der Bühne, auf der diese beiden Positionen derzeit diskutiert werden, verbirgt sich eine tiefer gehende globale Problematik: Unsere in starker Vermehrung befindliche Spezies befindet sich in einem Wettlauf mit den Problemen, die sich ihr aufgrund eines wachsenden Ressourcenmangels entgegenstellen, und der Suche nach immer wieder neuen, intelligenten Lösungen, die wir zur Lösung eben dieser Probleme benötigen (wobei viele technisch-industrielle Lösungen inzwischen ihrerseits selbst neue Probleme verursachen). Dies bedeutet, dass parallel zur Frage der gerechten Verteilung von Gütern und Lebenschancen ein mindestens ebenso bedeutsamer eigenständiger Prozess darauf gerichtet ist, die für unser Überleben erforderlichen Ressourcen überhaupt erst bereitzustellen (bevor sie mehr oder weniger gerecht verteilt werden können). Dieser Prozess verlangt von Menschen, die demokratisch partizipieren und nicht abgekoppelt werden wollen, dass sie in der Lage und bereit sind, für den Prozess der Ressourcenerwirtschaftung mehr zu tun als das Allernötigste.
Die Mitwirkung bei der Ressourcenerwirtschaftung und der Steuerung unserer gesellschaftlichen Entwicklung bedeutet, sich erheblichen Anstrengungen und Anpassungen zu unterziehen, die deutlich über das hinausgehen, was unserer Spezies evolutionär bisher zugemutet worden war. Partizipation beinhaltet in unserer derzeitigen globalen Situation den mühsamen Weg durch lange Bildungs- und Ausbildungswege, die Bereitschaft zur Mobilität und eine bis an die Grenze der Belastbarkeit gehende Verausgabungsbereitschaft für die berufliche Arbeit. Für ein tieferes Verständnis unserer derzeitigen Situation ist es notwendig, einen Konflikt zu beschreiben, der sich daraus ergibt, dass wir als Spezies einerseits zu Kooperation und Fairness neigende neurobiologische Anlagen haben, andererseits aber in einer realen, technisch aufgerüsteten Welt der knappen Ressourcen leben, in der nicht nur die gerechte Verteilung von Gütern, sondern auch deren Bereitstellung eine immer schwierigere Aufgabe geworden ist.