Kapitel 3

Seltsamerweise schlief ich ausgezeichnet. Tief und fest und traumlos. Als ich aufwachte, war es Viertel nach elf, und ich schwitzte. Nicht vor Angst, sondern wegen der 34 Grad Celsius, die wir in der Stadt hatten. Es war immerhin Ende Juni, und sogar in München scheint ab und zu die Sonne. Ich setzte mich auf. Unter mir raschelte etwas. Ich drehte mich um und zog die völlig verknitterte Abendzeitung unter mir hervor. Sie lag mit der Schlagzeile nach unten, und so ließ ich sie erst mal.

Im Badezimmerspiegel sah ich, daß die Druckerschwärze ausgiebig auf meine Kehrseite abgefärbt hatte, und stellte mich unter die Dusche. Ich glaube, die erfrischende Wirkung dieser Einrichtung wird stark überschätzt. Als ich aufgewacht war, hatte ich mich munter und ausgeruht gefühlt; jetzt, unter dem kalten Wasser und dem so ernüchternd alltäglichen Duft der Seife, fiel die Erinnerung an gestern mit Wolfszähnen über mich her, noch bevor ich meinen Verdrängungsmechanismus mit Hilfe von Kaffee und einem kräftigen Frühstück hätte aufbauen können.

Eine halbe Stunde später saß ich in Jeans und Hemdbluse am Küchentisch, verbrannte mir die Zunge am kochendheißen Nescafé, nagte lustlos an einem trockenen Knäckebrot und las angewidert die verdrückte Zeitung. Scheißspiel, hatte dieser miese Typ gesagt, dieser Ferdi. In diesem Punkt waren wir einer Meinung … Ich stand auf und stopfte die scheußliche Zeitung in den Mülleimer. Dann stellte ich frisches Wasser auf und füllte richtigen Kaffee in einen Filter. Steckte zwei Weißbrotscheiben in den Toaster und deckte den Tisch, als wäre ich mein eigener Gast. Butter, Honig, Lachsschinken. Und dazu die bügelfrische Süddeutsche vom Fußabstreifer.

Der Bericht stand nicht auf der ersten Seite, war aber etwas ausführlicher. Ich faltete die Zeitung zusammen und lehnte sie so gegen das Honigglas, daß ich den Artikel gleich neben dem Teller hatte. Gestern am frühen Nachmittag hatten also drei Männer die Filiale des Bankhauses Fischer am Habsburger Platz überfallen. Einer von ihnen hielt mit einer Maschinenpistole die Anwesenden – sechs Angestellte und zwei Kunden, darunter eine Frau mit einem kleinen Kind – in Schach, während die beiden anderen zum Schalter gingen und dem Kassierer zwei Plastiktragtüten zum Füllen hinhielten. Der Kassierer, Bernhard Schröder (46), wollte ein Blutvergießen vermeiden und füllte für ein paar tausend Mark Banknoten in die Tragetüten. Aber die Gangster forderten mehr. Als er zögerte und nach einer Ausrede suchte, drehte der Mann mit der Maschinenpistole durch. Er sprang vor und ballerte wild in die Gegend. Schröder brach getroffen zusammen. Einer der Banditen forderte jetzt die Bankangestellte Jutta Heinrich (23) auf, weitere Banknoten zu holen. Sie gehorchte. Als die Männer mit ihrer Beute die Schalterhalle verlassen wollten, begann das kleine Kind plötzlich zu schreien. Völlig hysterisch richtete der eine Gangster die Waffe jetzt auf das Kind. Aber einer der anderen sprang auf ihn zu und schlug ihm die MP aus der Hand. Die beiden anderen rannten mit den Geldtüten hinaus, der dritte hob die Waffe auf und folgte ihnen. Die Mutter des Kindes behauptet, so etwas wie »Tut mir leid« gehört zu haben. Vor der Bank wartete ein vierter Mann in einem grünen Peugeot, mit dem sie unerkannt fliehen konnten.

Der Kaffee schmeckte wunderbar, und der Toast war genau richtig, nicht zu dunkel, nicht zu hell. Max hatte nicht geschossen. Er hatte sogar das Leben des Kindes gerettet. Vor diesem schießwütigen Messerheini – ich war sicher, daß er das gewesen war. Erleichtert überflog ich den Rest. Mein Name wurde überhaupt nicht genannt. Na also. Ich lehnte mich zurück und steckte mir eine Zigarette an. Also war die Welt nicht nur morgens um sieben – gräßliche Vorstellung, nebenbei – in Ordnung, sondern manchmal auch noch gegen Mittag … Na ja, relativ.

Sehr relativ. Ich goß mir noch eine Tasse Kaffee ein. Schön, Max hatte nicht geschossen. Aber so aufregend war das Kribbeln gestern abend auch wieder nicht gewesen, daß ich mich jetzt als edle Gangsterbraut auf Gedeih und Verderb sehen konnte. Im Gegenteil. Ich hätte sonstwas dafür gegeben, wenn ich einen Weg gewußt hätte, um aus der Geschichte rauszukommen. Zur Polizei gehen? Zu diesem Gerstl? Der hatte mir ja schon gestern kein Wort geglaubt. Wenn der erst vier Belastungszeugen hatte, würde er mich vermutlich erst mal an die Kette legen und auf der letzten Isar-Galeere anschmieden lassen … Die vier hatten die Bank überfallen und würden dafür verurteilt werden, wenn man sie erwischte. Und dann war denen alles wurscht. Nein, im Gegenteil – ihr Möglichstes würden sie tun, um mich reinzulegen, wenn ich sie erst verpfiffen hatte … Ich mit meinem verdammten Hang zur Exotik. Was mußte ich auch in diese idiotische verräucherte Grüne 8 gehen. Was mußte ich auch einen wildfremden Typ an der Bar anplinkern, nur weil er so was Irres im Blick hatte. Oder weiß Gott warum! Ich hätte mich ohrfeigen, mich mit der Neunschwänzigen Katze …

Es läutete an der Tür.

Ich fing sofort an zu flattern. Die Polizei. Was soll ich tun? Was soll ich sagen? Ich bin nicht da. Ich bin einkaufen. Ich bin verreist, verschwunden, tot. Es läutete zum zweitenmal. Ich stand auf und ging zur Wohnungstür. Es war mir nie aufgefallen, wie viele Kilometer der Flur lang war.

Es war Uwe.

Ich fiel ihm um den Hals, schleifte ihn in die Küche, goß ihm Kaffee ein und röstete ihm Toast, obwohl er keinen Hunger hatte. Mann, war ich froh.

»Ich hab mir freigenommen«, sagte er. »Ich habe in der Zeitung von dem Überfall gelesen. Das hat sich ja direkt vor deinem Haus abgespielt. Ich hab mir Sorgen gemacht.«

Das ist Uwe. Er macht sich Sorgen um mich. Er nimmt sich extra frei, um nach mir zu sehen. Er kümmert sich um mich. Er liebt mich. Er ist einfach ein prima Kumpel. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn ich ihn heiraten würde. Ein kleines Fertighaus irgendwo am Stadtrand, zwei Kinder, ein Zweitwagen zum Einkaufen … Auch eine ziemlich exotische Vorstellung für mich, aber in diesem Moment schien sie mir die Lösung aller meiner Probleme in Ewigkeit, amen.

Uwe wedelte eine Wolke Zigarettenrauch von seinem Gesicht weg, machte aber keine seiner üblichen Bemerkungen über Lungenkrebs.

Ich lächelte ihn liebevoll an. »Weißt du was! Wir fahren raus. Zum Starnberger See, zum Baden. Am Wochentag ist dort alles leer, und dann gehen wir lecker essen, und …«

Er unterbrach mich. »Unmöglich. In einer Stunde habe ich einen Klienten. Und außerdem jede Menge Arbeit.«

»Wenn man was will, dann kann man auch«, hielt ich ihm sein eigenes Argument von gestern vor.

Er sah bloß auf die Uhr. »Zwanzig Minuten hab ich noch, dann muß ich weg. Eher noch etwas früher. Bei dem Verkehr weiß man ja nie.«

»Oder nur zum Poschinger Weiher!« bat ich. »Nur eine Stunde in der Sonne liegen und an nichts denken.«

»Das bleibt doch nie bei einer Stunde, das weißt du doch selber.« Er wedelte heftiger gegen den Zigarettenrauch an. »Wir könnten uns ja heute abend treffen. Im Leopold läuft ein neuer Woody Allan.«

Ich sah ihn an, sah sein ordentlich gebürstetes Haar, das runde, freundliche Gesicht, die sportliche Krawatte und den dunkelgrauen Flanellanzug. Im letzten Woody Allan-Film hatte er immer an den Stellen gelacht, die ich überhaupt nicht komisch fand, und bei den wirklich witzigen und hintergründigen Sätzen hatte er nur steinern und verständnislos auf die Leinwand gestarrt. So was gibt einem schon zu denken.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Heute abend ist ja noch weit weg.«

»Du hast wohl schon was anderes vor?«

Da war es wieder. Ich stand auf und drückte meine Zigarette aus. »Ich habe überhaupt nichts vor. Ich kann nur keine so weitreichenden Pläne machen.«

»Weitreichend? Das ist doch lächerlich!«

Für ihn vielleicht. Er plant ja immer für das ganze Jahr voraus und kommt sich noch mächtig spontan dabei vor. »Wir können ja noch mal telefonieren«, schlug ich vor.

Er stand auch auf. »Du meinst, wenn der andere keine Zeit hat.«

»Welcher andere?«

»Wie soll ich denn das wissen? Du hältst es ja nie für nötig, mich zu informieren.«

»Über was denn, um Gottes willen? Du bist doch nicht mein Vormund!« Also, wirklich nicht. Und die Sache mit dem Fertighäuschen kam auch nicht in Frage. »Mach bloß nicht so ein Gesicht … Jetzt geht das schon wieder los! Ich finde, wir sollten endlich Schluß machen. Ich meine, endgültig; nicht so so lala wie bisher.«

»Aber Dora, ich …« Er kam auf mich zu, die Arme ausgestreckt, Gefühl im Blick.

»Nein!« Ich hätte schreien können. »Hör auf … Hör auf, oder ich spring aus dem Fenster! Das wird doch nie was!«

»Können wir nicht ruhig darüber sprechen?«

»Nicht jetzt. Ich muß arbeiten. Tschüs.«

Sein letzter Blick sagte mir deutlich genug, daß er so schnell nicht aufgeben werde, aber wenigstens war ich wieder allein. Weiß der Teufel, warum er nicht begreifen konnte, daß ich die falsche Frau für ihn war. Vermutlich wollte er mich bessern, denn an die Richtigkeit seiner Lebensführung glaubte er ebenso wie an die Beständigkeit von Recht und Ordnung … Oder vielleicht war ich auch für ihn ebenso exotisch wie Max für mich? Okay; aber dazu gehören natürlich zwei … Doch bevor ich mich noch ausgiebiger meiner Selbstkritik widmen konnte, läutete er schon wieder. Ich sah förmlich, wie er im Treppenhaus stand, seine sorgfältig zusammengekramten Argumente wie ein Eilpaket vor sich hertragend … Ich riß die Tür auf und brüllte: »Schluß, hab ich gesagt!«

Draußen stand Gerstl. Grinsend. »Ich habe doch noch gar nicht richtig angefangen.«

»Ich hab nicht Sie gemeint … Was wollen Sie denn schon wieder?«

»Mit Ihnen sprechen. Darf ich reinkommen?«

»Ich glaube nicht.« Ich hatte die Nase voll.

»Dann reden wir halt hier miteinander. Mir macht das nichts aus.« Er schaute bedeutungsvoll zur Nachbartür hinüber.

»Mir auch nicht«, gab ich zurück. »Ich hab nichts zu verbergen.«

»Mein Gott – wer hat schon nichts zu verbergen …« Er hatte heute eine Aktentasche dabei, in der er jetzt herumzukramen begann. »Schauen Sie, ich wollte Ihnen einen Gefallen tun. Ich hätte Sie ja auch in die Ettstraße bestellen können. Aber weil ich sowieso grad hier war, da dachte ich halt nur, es wäre Ihnen angenehmer.«

Ich seufzte und machte einen Schritt zur Seite. Er stapfte an mir vorbei und ließ sich unaufgefordert auf die Couch fallen.

»Oh, riecht schön nach Kaffee!«

Ich ging in die Küche, holte Tassen und Kaffeekanne – hatte ich hellseherische Fähigkeiten? Wieso hatte ich ganz für mich allein die große Kanne … Na ja – und goß ihm ein. Für mich auch eine Tasse.

»Ich bin berühmt für meine Gastfreundschaft.«

»Ja, ich weiß.« Er nippte an dem Kaffee und breitete dabei einige Papiere und Schnellhefter vor sich aus. Sah plötzlich auf. »Nicht daß Sie denken, das ist alles über Sie. Ich such's nur gerade.«

Meine Tasse war leer, ich hatte eine Zigarette in der Hand, konnte mich aber weder daran erinnern, den Kaffee getrunken noch mir die Zigarette angezündet zu haben. Was hatte er damit sagen wollen? Er kannte meine Gastfreundschaft … Ließ er meine Wohnung beobachten? Hatte er heute nacht … Wieso gab es eine Akte über mich? Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte, und jetzt spielten keine grundsätzlichen Überlegungen mehr mit, sondern nur noch ein Gedanke: Wie komm ich raus aus der Sache?

»Ah, da!« Er zog einen dünnen Papierstoß hervor, höchstens fünf oder sechs Blätter, mit einer Klammer zusammengeheftet. »Weil ich mich nämlich immer schon gewundert habe …« Er nahm einen Schluck Kaffee » … daß man mit Büchern, ich meine mit Kriminalromanen, gleich soviel Geld verdient.«

»Was heißt das, gleich soviel?«

»Na ja – so wie Sie leben …« Er umfaßte meine Wohnung mit einer Handbewegung.

»Ich bin 32«, fuhr ich auf, »und ich hab jahrelang in einer Bruchbude gehaust. Steht es mir vielleicht nicht zu, eine normale Wohnung zu haben, mit normalen Möbeln?«

»Normal ist ein etwas relativer Ausdruck. Es gibt sicher einige Leute, die sogar diese Wohnung als bescheiden bezeichnen würden.« Er strich sich etwas Kaffee von seinem Schnauzer. »Aber Sie gehören nicht dazu. Im Gegenteil – Sie haben sich da etwas übernommen.«

»Wie meinen Sie das?« Ich starrte auf die Papiere in seiner Hand. Es waren teilweise Fotokopien, aber ich konnte nichts entziffern. »Wovon reden Sie überhaupt?«

»Von Ihren Schulden«, sagte er freundlich. »So an die zehntausend nach meinen bisherigen Ermittlungen; viel Zeit hatte ich ja noch nicht … Da sind etwas über viertausend an das Finanzamt fällig, Nachzahlung für das letzte Jahr; dann Ihr Konto bei der Bank; um zweieinhalb überzogen, obwohl Ihr Limit bei zwei liegt. Dann …« Er blätterte.

Ich beugte mich vor und riß ihm die Blätter aus der Hand. »Das nennt man wohl Bankgeheimnis, wie?« Ich las verwirrt die Zahlenkolonnen auf der Fotokopie … Eine Unfallstatistik der bayerischen Bundesstraßen aus dem Jahr 68. Ich warf ihm die Blätter wieder hin. »Reizende Methoden haben Sie! Wirklich zauberhaft … Anstatt sich um die Verhütung von Verbrechen zu kümmern und um die Resozialisierung von entlassenen Strafgefangenen, haben Sie nichts anderes im Sinn, als Ihre Erfolgsquote zu erhöhen, sich neue Jagdtrophäen zu verschaffen und Angst und Terror zu verbreiten, indem Sie Unschuldige verdächtigen, bespitzeln, bedrängen?«

»Ach, wissen Sie … Wer ist schon unschuldig?«

»Ich!«

Er lachte. »Klingt seltsam aus Ihrem Mund. Und Sie fühlen sich von mir bedrängt? Terrorisiert? Sie entschuldigen schon, aber das klingt nicht sehr überzeugend.«

»Ich habe nicht gesagt, daß Sie mit Ihren Versuchen Erfolg haben.«

»Nein? Immerhin haben Sie doch zugegeben, daß Sie Schulden haben, oder?«

»Und das ist ganz allein meine Sache! Das geht Sie überhaupt nichts an. Das steht sogar im Grundgesetz dieses Staates, dessen Diener zu sein Sie vorgeben.«

»Jetzt kommen Sie mir bloß nicht damit! Im Grundgesetz ist auch das Leben unantastbar – und was hat jetzt der Bankkassierer davon? Ein schönes Grab, wenn er Pech hat.«

»Und Sie meinen, das berechtigt Sie dazu, in meinem Bankkonto herumzuschnüffeln, Leute auszufragen und alle paar Minuten hier bei mir anzutanzen?«

»Sie haben etwas verschwiegen, da bin ich sicher. Da hab ich einen Riecher dafür … Nein, ich kann's nicht beweisen – noch nicht. Sie haben etwas verschwiegen, und ich möchte wissen, weshalb Sie mir was verschwiegen haben … Gestern, da hielt ich es noch für absurd: Sie schienen viel zu verdienen – warum sollten Sie an einem Banküberfall beteiligt sein? Aber jetzt, wo ich weiß, daß Sie 10 000 Mark Schulden haben – bei einem Einkommen von etwa 30 000 im Jahr! – da schaut's doch schon anders aus, finden Sie nicht?«

Mir blieb die Luft weg. Buchstäblich. Ich japste. Das war's … Max und seine Freunde brauchten gar nicht erst mit ihrem angedrohten Märchen anzukommen; die Polizei hatte sich schon selber eines gebastelt …

Gerstl packte seine Papiere wieder zusammen. »Es ist ja auch nicht so, daß wir wahllos jeden verdächtigen. Sie sind immerhin noch nicht vorbestraft. Aber wenn man Ihre Bücher liest, diese fast fanatische Sympathie für Ganoven – also, da wird man halt nachdenklich, ja?« Er lächelte, wartete auf eine Antwort.

Oder auf ein Geständnis?

Ich hatte mich wieder einigermaßen gefangen. »Sie haben in der kurzen Zeit ja offenbar recht gründlich recherchiert, aber ein bißchen fehlt Ihnen ja doch noch. Im Gegensatz zu Ihrem Einkommen ist meines keineswegs konstant. Stimmt: mit den Büchern verdiene ich keine goldenen Berge. Aber im letzten Jahr habe ich zwei Fernsehspiele gemacht. Und daraufhin hab ich mir die Wohnung eingerichtet … Übrigens, die Brücken und den Empire-Sekretär, die hab ich geerbt – nur zu Ihrer Information. Stimmt auch, daß es im Moment nicht ganz so läuft. Aber darüber brauchen Sie sich nun wirklich keine Sorgen zu machen. Diese zehntausend Mark, die Ihnen so ungeheuerlich vorkommen, die kann ich auch ohne Mord und Banküberfälle zurückzahlen. Mit meiner kleinen Hände Arbeit.« Ich stand auf. »Und nun würde ich Sie doch gern bitten zu gehen. Sie halten mich nämlich von besagter Arbeit ab.«

Einen Augenblick lang musterten wir uns wie zwei Katzen, die beide den Verdacht haben, die andere könnte eine getarnte Maus sein; dann senkte er den Blick. Zu meiner Befriedigung sah ich, daß sein Hals über dem Kragen rotgescheuert war und daß sein Hemd Schweißflecken hatte.

Ich war betont höflich, als ich ihn zur Tür begleitete, und meine Bemerkung, wie sehr ich mich über seinen Besuch gefreut hätte, klang kaum ironisch. Er nickte dazu und drehte sich erst im Treppenhaus noch einmal nach mir um:

»Nur eins noch: Die Banknoten, die gestern gestohlen wurden, die sind alle registriert …« Und, schon im Hinuntergehen: »Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren.«

Ich ging ins Schlafzimmer, machte mein Bett und packte meine Badesachen zusammen. An Arbeiten war unter diesen Umständen gar nicht zu denken. Ich wollte allein sein, mich bewegen, in der Sonne liegen, nachdenken. Ich hatte das Gefühl, einen endgültigen Schritt getan zu haben, und war unglaublich froh und erleichtert. Die lähmende Unentschlossenheit lag hinter mir; ich hatte eindeutig Stellung bezogen. Und auch wenn das nicht ganz freiwillig vonstatten gegangen war, so entsprach es doch meiner Einstellung. Ich hatte auch keine Angst mehr. Ich lebte.

In meinem Hinterreifen war kaum noch Luft; ich pumpte ihn auf und trug das Rad aus dem Keller. Draußen lehnte ich es an die Hauswand und schnallte meine Badetasche auf dem Gepäckträger fest.

»Hast du kein Auto?« sagte hinter mir eine Stimme.

Ich fuhr herum. Max lehnte an einem Alleebaum, die Hände in den Taschen, eine Zigarette im Mund. Ich stieg auf das Rad und fuhr los. Er rannte hinterher und bekam den Gepäckträger zu fassen. Beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren und wäre auf das Pflaster geknallt.

»Bist du übergeschnappt?«

»Aber du hast doch gesagt, ich soll mitkommen!« Er hielt den Gepäckträger immer noch fest und ging neben mir her.

»Ich hab gar nichts gesagt!« Vor dem Friseur stand ein Herrenrad, mit Nummernschloß gesichert.

»Und wo fahren wir hin?« Max ließ mein Rad los, blieb bei dem anderen stehen und sah sich kurz um.

Ich trat in die Pedale. Im Rückspiegel sah ich, wie er sich über das Schloß beugte. Zwei Minuten später hatte er mich eingeholt. Der Sattel war zu niedrig für ihn, er stieß mit den Knien fast an den Lenker. Ich fuhr noch schneller.

»Du spinnst! Ich wohn doch hier! Jeder kennt mich!«

»Aber mich doch nicht!« Er grinste, verschränkte die Arme und fuhr freihändig ein paar Kurven. Ein Auto hupte.

An der Ampel hielt er sich an meinem Lenker fest. »Aber nicht ins Ungererbad, da ist es mir zu voll.«

Und nicht an den Poschinger Weiher, dachte ich, da ist es mir zu einsam … Im Englischen Garten kurvte er um mich herum, machte Faxen auf dem Rad, sang und scheuchte Hunde und alte Weiblein. Er wirkte so jung und unbekümmert, daß es mir immer schwerer fiel, ihn mit dem Überfall und dem verletzten Kassierer in Verbindung zu bringen. Wir veranstalteten ein Rennen bis zum Wehr, fuhren dann auf dem Damm an der Isar entlang, und einem Rentner, der uns nachrief, daß hier Radfahren verboten sei, erklärten wir, daß wir von der Stadtverwaltung seien und die Nistplätze der Haubentaucher zu überprüfen hätten. Im Aumeister fuhren wir einmal zwischen den Tischen des Biergartens hindurch, um zu kontrollieren, ob dort irgendwelche Bekannten saßen, und vor der Floriansmühle paßte Max auf, daß ich mit meinem Schloß die beiden Räder nicht nur zusammensperrte, sondern auch noch den Laternenpfahl mit dranhängte. »Es gibt halt so wenige ehrliche Menschen heut«, meinte er und zahlte an der Kasse auch meine Karte. Er hatte einen Fünfzig-Mark-Schein und stopfte das Wechselgeld achtlos in die Hosentasche. Trotz der Hitze war das Bad nicht sehr voll.

»Die Banknoten sind alle registriert«, sagte ich leise, als wir nebeneinander am Becken entlang zu den Liegewiesen gingen.

Max schien mich nicht zu hören. Er winkte zwei Mädchen zu, die am Beckenrand saßen und sich einölten, nahm gelassen die Ovationen von zwei anderen entgegen, die ihn anscheinend kannten und die offensichtlich zu der hübschen Sorte model gehörten, die man überall antrifft, nur nicht an Arbeitsplätzen. Ich überlegte mir gerade, daß diese Art der Einschätzung bei mir möglicherweise einer besonders hinterhältigen Sorte von Eifersucht zuzuordnen war und merkte nicht, daß Max mich bis zum hintersten Zaun führte, wo außer ein paar Liebespaaren niemand lag. Er holte das Handtuch aus meiner Tasche, legte es auf den Rasen und begann ungeniert sich auszuziehen. Er war sehr braun und trug unter den Jeans eine winzige Hose aus Tiger-Plüsch. Er war auch viel muskulöser, als ich erwartet hatte … Wenn ich ganz ehrlich war, er sah aus wie ein gepflegter Zuhälter. Ich drehte mich um und zog mich auch aus, froh darüber, daß ich den Bikini schon drunter anhatte.

Er kicherte. »Heute nacht hast du mir besser gefallen.«

Ich antwortete nicht, sondern rannte zum Wasser hinüber und sprang todesmutig hinein. Ich bekam fast einen Herzschlag. Das Ding heißt nicht umsonst Eisbach. Ihm schien die Kälte nichts auszumachen. Er kraulte um mich herum, spritzte und versuchte mich zu tauchen. Ich hatte bald genug; ich kletterte an Land und legte mich auf das Handtuch. Ich hatte mich gerade einigermaßen erwärmt, als er sich neben mich quetschte, naß und kalt wie eine tiefgefrorene Forelle. Aber sonst tat er nichts; er lag nur auf dem Bauch und schnaufte. Ich rückte von ihm weg, geriet auf eine Distel oder sonst etwas Stachliges und kehrte reumütig zurück. Ich schloß die Augen und begann zu dösen. Die Sonne glühte auf meiner Haut, es roch nach frisch gemähtem Gras, Insekten summten, und weit weg lärmte der übliche Badebetrieb. Auch der Fischkörper neben mir erwärmte sich, und die Bewegungen, mit denen er sich an mich drängelte, schienen keineswegs zufällig zu sein. Wieder spürte ich dieses Kribbeln. Ich überlegte mir, ob ich liegen bleiben, gegendrängeln oder aufstehen und ins Wasser gehen sollte. Die Entscheidung wurde mir abgenommen. Kaltes Wasser spritzte auf meinen Rücken, und mit einem Quietschen rollte ich herum. Über uns stand Vitus, der samtäugige Landpfarrer.

»Servus!« Er hockte sich neben uns ins Gras.

In seinen altmodischen Badeshorts wirkte er seltsam nackt. Seine Haut war bleich; dunkle Haare kräuselten sich über einer etwas eingefallenen Brust, die oberhalb des Hosengummis in einen leichten, aber unübersehbaren Bauchansatz überging. Auch der Vollbart wirkte in diesem Aufzug deplatziert; es sah aus, als habe er vergessen, ihn an der Garderobe abzugeben. Aber er schien sich ganz wohl zu fühlen, denn seine Augen glänzten wie die eines Kindes unter dem Weihnachtsbaum.

»Ich hab euch schon vorhin gesehen, aber ich dachte, ihr wollt vielleicht lieber allein sein.«

Max setzte sich auf, zupfte sich Grashalme von den Beinen. »Du hättest Bier mitbringen können.«

»Ich hol welches!«

Vitus stand auf, hielt Max seine Hand hin, und Max wühlte Geld aus seiner Hose, die er vorher als Kopfkissen benützt hatte. Er sah Vitus nach, der ungelenk mit seinen nackten Füßen über das stachlige Gras hüpfte.

»Der hat einen Kopf«, sagte er leise. »Da ist mehr drin, als bei uns allen zusammen.«

»Sogar mehr als bei dir?« Ich lachte.

Max blieb ernst. »Ehrlich. Er kommt vom Land. So echt aus dem tiefsten Wald. Sein Vater ist der Mutter weggerannt und hat sie mit neun Kindern sitzenlassen. Da hat sie den Vitus in ein Stift gesteckt … Die Pfaffen haben ihn ganz schön fertiggemacht.«

»Du willst doch nicht etwa sagen, daß er wirklich ein Pfarrer ist?«

»Quatsch. Das war eine ganz normale Schule. Nur eben von Pfaffen geleitet. Er hat Abitur und wollte studieren. Aber das lief nicht.« Er seufzte und ließ sich auf das Handtuch zurücksinken. »Er ist einfach zu gescheit. Das ist es, glaube ich.«

»Und ich glaube, ihr spinnt. Alle miteinander.«

»Kann schon sein«, gab er träge zu. »Aber du auch, Mutter. Das schwör ich dir.« Da lag er neben mir in seinem Tigerhöschen, sein Magen eine Mulde unter den Rippenbögen, das Gesicht selbstgefällig entspannt, die Augen geschlossen … Er sah gut aus, aber nicht gerade intelligent. Das Kribbeln war weg.

Vitus kam mit den Bierdosen zurück, und wir setzten uns auf. Max öffnete seine Büchse und deutete mit dem Kopf auf mich:

»Sie hat gesagt, daß die Noten alle registriert sind.«

»Woher weißt du das?« Vitus sah mich an.

Ich hatte Schwierigkeiten mit meiner Bierdose; sie war verbogen und ging nicht auf. Max gab mir seine. Ich trank erst mal einen Schluck.

»Gerstl war wieder bei mir. Er hat rumgeschnüffelt und rausgefunden, daß ich Schulden habe. Jetzt denkt er sonstwas.«

Max lächelte zufrieden; Vitus nickte ernsthaft. »So was hab ich mir schon gedacht.«

»Es muß aber nicht stimmen.« Max hatte auch die Dose aufbekommen, trank aber noch nicht. »Wenn der Bulle ihr wirklich nicht ganz traut, wieso sagt er ihr dann so was? Doch nicht aus lauter Freundlichkeit.«

»Er wollte mir Angst einjagen.«

»Na schön; nehmen wir an, du hast das Geld: Dann bist du jetzt gewarnt und traust dich nicht, es auszugeben. Wenn die Dinger aber registriert sind, wäre das für die Bullen der beste Weg, um die Täter zu kaschen.«

»Wenn sie aber nicht registriert sind«, überlegte Vitus, »und sie das nur so gesagt haben, damit man sich nicht traut, etwas davon auszugeben, dann rechnen sie damit, daß etwas anderes passiert.«

»Daß einer von uns Scheiße baut.« Max setzte die Dose an, sein Adamsapfel hüpfte beim Trinken auf und ab.

Vitus legte den Kopf schief. »Von uns haben sie keine Ahnung. Der Bulle hat das nur zu ihr gesagt … Wirst du beobachtet?«

»Keine Ahnung.« Ich schaute zu Max hinüber.

Der zuckte die Achseln. »Ich hab mich umgesehen. Da war keiner.«

»Du meinst, du hast keinen gesehen.« Ich begann mich wieder anzuziehen, die Jeans über den noch nicht ganz trockenen Bikini.

Max schaute von unten zu mir herauf. »Da war keiner. Ich kann sie riechen.«

»Wo sind die anderen?« fragte Vitus.

Max stand auch auf und zog sich an. »Wir suchen sie. Hol deine Klamotten.«

Er nickte und verschwand hinter den Büschen. Max und ich warteten draußen bei den Rädern auf ihn. Eine Gruppe Schulkinder lief lärmend an uns vorbei. Es roch nach dem teergetränkten Holz der Umkleidekabinen und nach Ferien. Ich wurde traurig, ohne zu wissen warum. Vitus kam, und angezogen sah er wieder mehr denn je wie ein Landpfarrer aus. Er trug schwarze Hosen und ein weißes Leinenhemd ohne Kragen. Vielleicht sah er auch eher wie ein Büßer aus. Verwundert betrachtete er die Räder. »Wo ist denn das her?«

»Ich bin auf dem Gesundheitstrip.« Max zeigte auf den Fahrradständer, in dem mindestens hundert Räder abgestellt waren. »Nimm dir auch eins. Wird dir guttun.«

»Du meinst – stehlen?« Vitus' Gesicht drückte blankes Entsetzen aus. »Nein, nicht!« protestierte er, als Max sein Rad wieder anlehnte und zu dem Radständer hinüberging. »Laß doch!«

Max suchte sich ein dunkelblaues Sportrad aus, das mit einem Steckschloß gesichert war. Er bückte sich und bog das Schloß heraus. Die alte Frau an der Kasse sah ihm dabei desinteressiert zu. Er zog das Rad heraus und kam zu uns zurück.

»Du kannst meins nehmen«, bot er Vitus an und fuhr los.

Ich hatte es eilig, hinter ihm herzukommen, und achtete nicht weiter auf Vitus, aber kurz vor der Straße war er neben mir. Beim Aumeister waren jetzt sämtliche Tische besetzt, und die Kellnerinnen schleppten die vollen Bierkrüge dutzendweise heran, als stünde die Weltdurstkatastrophe dicht vor der Tür. Spatzen hüpften über den Kies und nährten sich von den Brotzeitresten, und die allgemeine Verbrüderung am Biertisch feierte Hochstand. Wir hörten Dschako brüllen und entdeckten ihn an einem der äußeren Plätze, die vom Schatten der hohen Kastanien nicht mehr ganz erreicht wurden. Die Räder stellten wir hinter den Gebäuden ab, und ich sperrte sie alle drei zusammen. Max und Vitus warteten auf mich, dann gingen wir zusammen zu Dschako. Die Typen, mit denen er zusammensaß, schwitzten in der prallen Sonne und schienen alle schon einiges getrunken zu haben; sie grölten, stemmten ihre Bierkrüge und hatten ziemlich glasige Augen.

Max organisierte von anderen Tischen noch drei Stühle, und Vitus stellte sich nach Bier an. Der Typ, neben dem ich saß, stank nach Zwiebeln. Er starrte mich an. Ich grinste vorsichtig, und er bot mir seinen halbleeren Bierkrug an. Gegenüber saß einer, dem die Vorderzähne fehlten; so wie er aussah, hatte er sie bereits im Ersten Weltkrieg verloren. Er musterte mich ausgiebig und forderte dann lallend: »Stellen Sie mich der Dame vor!« Er vergaß mich aber sofort wieder, als Vitus mit dem frischen Bier zurückkam. Ich fühlte mich unbehaglich, schaute zu den anderen Tischen, konnte aber kein bekanntes Gesicht entdecken. Dschako nahm Vitus einen Krug ab und schob ihn mir über den Tisch zu. Jetzt, in der Sonne, sah ich, daß sein Haar rötlich war und seine vorstehenden Augen blaßblau. Er trug ein grünes Militärunterhemd, und auch auf seinen Schultern kräuselten sich rote Löckchen.

»Trink, Mutter!«

Ich trank. Der zahnlose Alte sah mir dabei zu. »So eine junge Mutter«, sinnierte er und versuchte Vitus einen der vollen Krüge wegzuschnappen; er war aber nicht schnell genug. Der Zwiebelfan neben mir beugte sich über meinen Ausschnitt und wurde von Max durch einen scharfen Zuruf von weiterem abgehalten.

»Finger weg – das ist meine Braut!«

Daraufhin sahen mich alle am Tisch mit anderen Augen an. Ich konnte nur nicht entscheiden, ob es Respekt war oder Mitleid. Ich konnte auch nicht rausfinden, ob es sich bei den Typen um eine zufällige Biergartenbekanntschaft handelte oder um den Rest der Bankräuberclique; ich sah nur, daß sie alle Max zu kennen schienen und verstand nicht so recht, was ich dabei sollte. Ich stand auf. Max, Vitus und Dschako sahen sofort zu mir hin.

Ich grinste. »Ich muß mal.«

Ich spürte ihre Blicke auf meinem Rücken, als ich zwischen den Tischreihen hindurchging und weiter, an der Bier- und Brotzeittheke vorbei, zu den Toiletten. Fünf Frauen standen Schlange. Ich ging um sie herum, duckte mich und lief um das Häuschen herum, über den Parkplatz und den Kiesweg zum Haus. Gefährlich war nur das letzte Stück, aber die drei, die mich kannten, saßen alle mit dem Rücken zu mir; es war kaum anzunehmen, daß einer von ihnen mich gesehen hatte.

Ich sperrte mein Rad auf und fuhr los. Wieder über den Parkplatz, ein Stück über die Straße, an der Isar entlang und zurück in den Englischen Garten. Ich strampelte, bis ich keine Luft mehr bekam. Meine Badetasche! fiel mir ein. Die war noch am Tisch: Na wennschon. Ein Handtuch und der Bikini. Ich ließ das Rad ein Stück rollen, hörte hinter mir Keuchen, drehte mich um. Ein Trimm-dich-Onkel mit Bauch und Trainingsanzug. Sonst nur Spaziergänger, Kinder und Hunde.

Ich fuhr langsamer. Mein Rücken brannte. Das kommt davon, wenn man den ganzen Sommer als weiße Papiermaus hinter dem Schreibtisch verbringt. Meine Knie taten weh. Es war schwül und drückend. Bald würde es ein Gewitter geben. Der Kleinhesseloher See sah kühl und friedlich aus, ich hätte jetzt gern mit Uwe in einem Ruderboot gesessen und hätte mir Geschichten angehört über Leute wie Max und Dschako, die nur in Büchern vorkamen oder in Zeitungen. Bei dem Gedanken an die beiden trat ich wieder heftiger in die Pedale, aber sobald ich die Straße hinter mir hatte und in den südlichen Teil kam, erlahmten meine Beine wieder.

Ich stellte mir die Zeiten vor, in denen dieser Park angelegt worden war, und als ich an dem Holzkarussell vorbeikam, das einmal für den kleinen Kronprinzen Rupprecht gebaut worden war, überlegte ich mir, was ich in der damaligen Zeit wohl gewesen wäre. Kaum mehr als ein Hausmädchen oder ein Wirtstöchterlein. Im Höchstfall das, was auch Uwe aus mir machen wollte, eine verheiratete Bürgersfrau. Arm aber reinlich. Dazu wären hundert Jahre Geschichte nicht nötig gewesen. Ich kam zum Chinesischen Turm und wollte gerade nach rechts abbiegen, als mich plötzlich etwas festhielt.

Ich wurde vom Schwung über den Lenker geworfen und wäre gestürzt, wenn mich nicht eine Hand an der Schulter gepackt und festgehalten hätte. Die Hand ließ mich auch nicht los, als ich schon auf dem Boden stand. Im Gegenteil, sie krallte sich noch tiefer fest, und ich war nah dran, vor Schmerz aufzuschreien. Ich unterließ es lieber, als ich das Gesicht von Ferdi sah. Ferdi, dem Messerhelden. Dem Mann mit der Maschinenpistole … Er trug eine altmodische Silberdrahtbrille mit dunklen Gläsern und eine Jeansweste über dem nackten Oberkörper. Auch er war sehr braun, seine Haare sonnengebleicht und sein Gesicht glatt, irre jung und fast schön. In der Nacht war mir das nicht aufgefallen, aber da hatte ich auch nur das Messer gesehen … Sein Gesicht hatte diese vollkommene Ebenmäßigkeit, diese gemeißelte Schönheit, wie man sie sonst nur von den retuschierten Fotos mittelmäßiger Schauspieler kennt. Ich konnte seine Augen hinter den dunklen Gläsern nicht sehen, und so war sein Mund das einzig Lebendige in seinem Gesicht ein sehr schmaler, zu einem unpersönlichen Grinsen breitgezogener Mund.

»Ich sitz da drüben«, sagte er, als wäre es völlig selbstverständlich, daß ich nur mit dem einen einzigen Gedanken durch den Englischen Garten irrte, ihn zu finden. Er ließ meinen Arm nicht los, hob mit der anderen Hand mein Rad hoch, wirbelte es ohne jede sichtbare Anstrengung durch die Luft und setzte es links neben sich auf den Boden. Wir gingen zusammen zu den Tischen und sahen für Außenstehende sicher so aus wie eines von diesen jungen gutaussehenden Paaren, die sich lieben, weil das Wetter so schön ist.

Ich glaube, er grinste, als ich darauf bestand, mein Rad sorgfältig abzusperren, aber sicher war ich nicht. Ich überlegte, ob ich schreien sollte oder, als er dann meinen Arm losließ, wegrennen. Aber ich verzichtete auf beides. Er war unter Garantie schneller als ich, und an den langen Holztischen sah ich keinen, der so aussah, als wenn er auch nur einen Finger krumm machen würde, um mir zu helfen. Also ging ich brav mit und setzte mich auf die Holzbank, auf der sieben oder acht Typen zusammenrutschten, damit wir Platz hatten. Ich war eingekeilt.

Jemand stellte mir einen Bierkrug vor die Nase; ich trank. Ein paar von den Gesichtern kannte ich aus Pinten wie der Grünen 8. Zähne waren kaum dabei, drei oder vier; bei einem Typ war ich mir nicht ganz sicher, ob es ein Junge war oder ein Mädchen. Sie sahen überhaupt alle gleich aus; jede Menge T-Shirts, Jeans, ein paar Westchen und Ketten. Und ich saß mitten drin und paßte genau dazu …

Aber es war das gleiche Gefühl wie im Aumeister: Ich gehörte eben nicht dazu. Die Erkenntnis war schlagartig da, und ich empfand sie überraschend. Jahrelang hatte ich mich zu ihnen zugehörig gefühlt, in vieler Hinsicht zugehörig jedenfalls – ausgerechnet ich, der beobachtende Schreiberling. Und jetzt, wo ich auf eine so fatale Weise wirklich zu ihnen gehörte, waren sie mir auf einmal sehr fremd … Vielleicht lag es daran, daß das Ganze kein Spiel mehr war und daß ich trotzdem noch nicht bereit war, endgültig Farbe zu bekennen; vielleicht lag es auch einfach an der animalischen Angst, die mir Ferdi einjagte.

Er saß dicht neben mir und hatte einen Arm um meine Schultern gelegt, aber etwas anderes konnte er kaum machen, sonst wäre er von der Bank gerutscht. Er beteiligte sich kaum an den Gesprächen, wurde aber immer wieder von den anderen um Rat gefragt oder um seine Meinung gebeten, so als wäre er etwas wie eine allwissende Graue Eminenz. Sein Bierkrug, aus dem auch ich getrunken hatte, war leer, aber er machte keine Anstalten, einen neuen zu holen. Als einer von den anderen aufstand, hielt er ihm schweigend den Krug hin, und der nahm ihn mit und brachte ihn voll zurück, ohne dafür Geld zu verlangen. Es war ein wüster Typ mit schulterlangem Haar und grobknochigem Bauerngesicht, gut einen Kopf größer als Ferdi. Aber die Bewegung, mit der er ihm den vollen Krug reichte, und sein Gesichtsausdruck hatten etwas Unterwürfiges.

Die Sonne ging unter; Ferdi nahm die dunkle Brille ab. Ich wollte seine Augen sehen, und als ob er meine Gedanken erraten hätte, drehte er sich zu mir um. Ich hätte darauf verzichten können. Zwei mattblaue Porzellankugeln unter makellos geschwungenen Brauen. Er sah wieder weg, schob plötzlich zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Zwei Minuten später standen Max, Vitus und Dschako neben uns. Vitus hielt meine Badetasche unter dem Arm. Fahrräder hatten sie keine dabei.

Ferdi stand auf. »Meine Karre steht auf dem Platz.«

Kein Hallo und grüß Gott, gar nichts. Schweigend gingen sie mit mir in der Mitte zum Parkplatz. Bei meinem Rad wollte ich stehenbleiben, aber Dschako zog mich weiter.

»Scheiß auf die Mühle!«

Max, der plötzlich wieder neben mir war, fuhr mir mit einer seltsam zärtlichen Bewegung über den Rücken. »Ich kauf dir ein neues.«

Wir quetschten uns zu fünft in den alten VW, den Ferdi als seine Karre bezeichnete, und fuhren los. Ich saß hinten zwischen Max und Vitus und dachte immerzu an mein Fahrrad. Na schön, es war schon ziemlich alt, aber es lief großartig, und es hatte Gangschaltung … Ich hatte ja die Chance eins zu tausend, daß es morgen früh immer noch am Chinesischen Turm stand. Eins zu einer Million. Es war idiotisch, ich hatte so viele Schulden, daß es auf einen Fünfziger für ein neues altes Rad auch nicht mehr ankam. Außerdem hatte ich noch den 2 CV. Der brauchte zwar eine neue Batterie, aber immerhin: Nein, darauf kam es nicht an. Es kam mir einfach so vor, als hätte ich mein Rad im Stich gelassen, und das Rad war plötzlich ein Symbol meiner bisher wenn schon nicht besonders bürgerlichen, so doch völlig unkriminellen Existenz. Ich hätte losheulen können. Als Max etwas von Essen sagte, merkte ich, daß ich wahnsinnigen Hunger hatte. Das war's wohl.

Wir gingen ins Java und vertilgten an einem wachstuchgedeckten Tisch Unmengen von Reis mit Hühnerfleisch und Sojasoße. Ich hatte erwartet, daß sie nach dem Essen von dem Überfall reden würden oder von den registrierten Banknoten. Aber sie schwiegen; sie schienen unruhig zu sein. Vitus schlug Lokalwechsel vor; Max zahlte für mich mit, was ich nicht verhindern konnte, und wir fuhren hinüber ins Underwear. Ferdi parkte den VW auf dem Gehweg, direkt vor dem Eingang, und beim Aussteigen blieben sie wieder alle um mich herum. Auch als wir die Kellerstufen hinunterstiegen … Es konnte natürlich Zufall sein.

Wie immer war es gerammelt voll, und die Stereoboxen dröhnten, daß man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Wir quetschten uns zwischen den kleinen Tischen hindurch zur Theke und bestellten Bier. Es kam eine langsame Nummer, und Max zog mich zu der zigarettenschachtelkleinen Tanzfläche. Wir schoben einen über die Bühne, und ich war froh, als die nächste Nummer kam, aber Max hielt mich fest und ließ mich weder frei tanzen noch zur Theke zurückgehen. Ich schwitzte, bekam keine Luft und hatte Durst. In einer Ecke hielt ein Zahn eine Zigarette mit beiden Händen, die mir sehr nach Joint aussah. Was, wenn jetzt hier eine Razzia wäre? Ich war nicht mehr der lustige Partygast, der seinen Ausweis vorzeigt und von den Bullen eine Entschuldigung zu hören bekommt. Ich war mittendrin. Wir kamen an der Tür mit der aufgeklebten Plastik-Lady vorbei, und ich brüllte Max ins Ohr, daß ich mal da reinmüsse. Ich mußte wirklich. Aber ich konnte es ihm kaum übelnehmen, daß er mich hinbrachte und vor der Tür stehenblieb.

Drinnen war es etwas kühler. Ich hockte mich hin und las die Filzstiftkritzeleien auf der Tür. Im Vorraum lief Wasser; ein Mädchen kicherte, ein anderes fragte:

»Ist da drin wer eingeschlafen, oder liegt da eine Leiche?«

Die erste kicherte wieder, murmelte etwas Unverständliches und sagte dann lauter: »Diese Typen, die gestern die Bank überfallen haben, die möcht ich kennen. 100 000! Das würde mir auch reichen für ein paar Wochen.«

»Das waren sicher die Perser«, meinte die andere. »Die Unsrigen trauen sich doch so was schon lang nicht mehr.«

»Gib mir mal deinen Lippenstift, ja?«

Schweigen; Wasserpritscheln.

Dann wieder die Stimme der ersten: »Dieser eine Typ da …« Schmatzen. Pause » … den die da angeschossen haben …« Undefinierbares Kratzen » … der ist heute gestorben. Im Krankenhaus. Jetzt haben die Mord am Hals.«

Ich drehte mich um, aber die einzige Öffnung, die dieser Raum hatte, war eine winzige Lüftungsklappe in zwei Meter Höhe.