Kapitel 6

Um neun Uhr hatte der Lärm auf der Straße seinen Höhepunkt bereits wieder überschritten. Der morgendliche Berufsverkehr ebbte langsam ab, und die Müllmänner zogen weiter zum Nachbarhaus. Übrig blieb ein einschläferndes Brummen und Brodeln, das zu einer anderen Welt zu gehören schien. Wir hatten die Vorhänge nicht zurückgezogen und lagen in einer weichen Höhle, in der es außer uns beiden nichts gab. Wir wußten nicht einmal, wie das Wetter draußen war, und es interessierte uns auch nicht. Es war ein seltsam intensives Gefühl des Zusammenseins, das für jeden von uns neu war und über das wir nicht zu sprechen wagten aus Angst, es kaputt zu machen.

Das schrille Klingeln an der Tür traf mich wie ein körperlicher Schmerz, und auch Max zuckte zusammen und rückte etwas von mir weg. Gleich darauf läutete es noch einmal, dann noch ein drittes Mal. Ich kletterte über Max hinweg aus dem Bett und zog mir hastig Hosen und Bluse an. Es läutete schon wieder, und als ich im Flur war, noch einmal. »Wer ist da?« fragte ich an der Tür.

»Polizei.« Gerstl. Ich rührte mich nicht. »Machen Sie auf!«

»Moment! Ich muß mich erst anziehen!« Ich rannte zurück, schloß die Tür zum Schlafzimmer, sah mich gehetzt um, kam an der Küche vorbei und sah den für zwei gedeckten Tisch. Ich nahm einen Teller und eine Tasse und stellte sie, schmutzig wie sie waren, in den Schrank. Ich versuchte es leise zu tun, aber die Tasse schepperte unüberhörbar auf der Untertasse, und die Schranktür knarrte auch. Als ich die Wohnungstür aufmachte, war mir so schlecht, daß ich mich an der Wand festhalten mußte.

Gerstl schob sich sofort an mir vorbei in die Wohnung, Hofstetter blieb in der Tür stehen.

»Ich möchte Sie bitten, uns zu begleiten«, sagte Gerstl, aber es klang keineswegs wie eine Bitte.

»Verhaften Sie mich?« fragte ich, und es klang so zitterig, daß ich mich wunderte, als er mich verstand.

»Nein«, sagte er knapp. Er stand in der Küchentür und schaute über den Tisch hinweg.

Wo der Teller von Max gestanden hatte, lag noch sein Messer, mit Butter dran. Ich schob mich zu dem Tisch hin, nahm meine Tasche auf und achtete darauf, zwischen Gerstl und dem Tisch mit dem Messer zu bleiben. Aber er sah gar nicht zu mir hin, sondern in das Wohnzimmer und damit genau auf die Schlafzimmertür.

»Was dann?« fragte ich, bemüht, seine Aufmerksamkeit abzulenken. Er wandte mir den Kopf wieder zu – zögernd, wie mir schien. »Nur eine kleine Fahrt. Wir möchten Ihnen gern etwas zeigen.«

Ich hatte nur eines im Kopf – ihn so schnell wie möglich aus der Wohnung zu bekommen. »Nach Ihnen«, sagte ich und deutete auf die Tür; »ich muß noch absperren.«

Er zögerte, ich mußte noch einmal zurück, um die Schlüssel zu holen, dann ging er endlich vor mir her und hinaus. Ich wollte nur so tun, als würde ich abschließen, aber Hofstetter sah mir dabei so angestrengt auf die Finger, daß ich den Schlüssel umdrehen mußte.

Keiner von ihnen sprach, als wir die Treppe hinuntergingen, und ich sagte auch nichts, weil ich meiner Stimme nicht traute. Vor dem Haus stand ein hellgrauer BMW; Hofstetter setzte sich ans Steuer, und Gerstl hielt mir die rechte Vordertür auf. Es war keine Geste der Höflichkeit; er wollte offensichtlich verhindern, daß ich plötzlich hakenschlagend zwischen den Häusern verschwand. Gerstl stieg hinten ein und lehnte sich zurück.

Wir fuhren zur Leopoldstraße, dann nach links und wieder nach rechts hinüber über die Kennedybrücke, ein Stück auf der Heinrich-Mann-Straße isarabwärts und dann über den Fußgängerweg bis direkt an die Uferböschung. Zwischen den Bäumen standen drei oder vier Grüne Mäuse, ein Krankenwagen und jede Menge Blaue. Spaziergänger drängten sich in Scharen und wurden von den Uniformierten mit Mühe zurückgehalten.

»Kommen Sie raus«, sagte Gerstl und hielt mir wieder die Tür auf.

Ich hatte Mühe, vom Sitz hochzukommen. Hofstetter stand schon auf der Böschung und wartete auf uns. Es war heiß. Die Zuschauer wandten ihr Interesse mir zu und nahmen mich mit ihren Blicken auseinander. Gerstl ging so nah neben mir, daß es aussah, als seien wir mit Handschellen aneinandergefesselt. Niemand sagte etwas, und doch lag so etwas wie ein kollektives Wispern über der Menge. Zwischen den alten Buchen, denen selbst die Uferplanierung nichts hatte anhaben können, und den Weidenbüschen kletterten wir den schmalen Trampelpfad hinunter zum Ufer. Hofstetter ging voraus, fand immer wieder Wurzeln, auf die man treten konnte, und hielt mir von unten her die Hand entgegen, um mir zu helfen. Oder um mich festzuhalten. Gerstl blieb dicht hinter mir. Das harte Ufergras war braun und schütter und mit Steinbrocken und Papierfetzen gesprenkelt.

Direkt am Wasser stand eine Gruppe von Männern. Uniformen, Lederjacken, ein paar helle Sommeranzüge und zwei weiße Sanitätermäntel. Ich blieb stehen. Ein Mann schaute zu uns herüber; wie auf ein Zeichen öffnete sich der Kreis für uns, und Gerstl schob mich mitten hinein.

Das erste, was ich sah, war ein aufgerissenes Hosenbein. Darunter gelbe Haut, eine lange Wunde mit einem weißlichen Fleischrand. Kein Blut. Eine Hand, schwarz von schlammiger Erde, und unter einem hochgerutschten Hemd ein weißer Bauch.

»Kennen Sie diesen Mann?« fragte neben mir Gerstl.

Ein unheimlich nackter Hals, um den sich nasse Wasserpflanzen wie Narben ringelten, und ein flaches, fast konkaves, nach hinten gebeugtes Gesicht mit offenem Mund. Zusammengeklebte Haarsträhnen. Halboffene Augen ohne Iris und Pupille, kleine weiß blinkende Miniaturmünder.

Dschako.

Sein Kopf lag fast noch im Wasser. Neben ihm kniete ein älterer Mann mit einer Aktentasche. Er richtete sich auf und sah Gerstl an.

»Stumpfer Gegenstand. Möglicherweise ein kantiger Stein. Todeszeit irgendwann heute früh zwischen sechs und sieben.« Er verschloß seine Tasche. »Ihr könnt ihn mitnehmen.«

Mein Magen stieg hoch und quetschte sich durch die Speiseröhre. Ich drehte mich um und taumelte zu den Weiden, um mich zu übergeben. Jemand hielt mich fest dabei, reichte mir ein Päckchen Tempotaschentücher, führte mich zu einem Baumstumpf und ließ mich auch nicht los, als ich schon saß. Hofstetter.

Neben ihm stand Gerstl. Ich putzte mir die Nase, wischte mir die Augen trocken und verbrauchte noch zwei Tücher, um mein Gesicht und meine Hände sauber zu kriegen. Neben mir landete eine Hummel summend auf einer Schafgarbenblüte; auf der Brücke hupte ein Auto, ein LKW röhrte, und die Isar plätscherte vor sich hin. Ich schneuzte mich noch einmal, um zu verbergen, daß ich weinte. Dann kramte ich, ohne hochzuschauen, meine Zigaretten aus der Tasche und zog eine heraus. Hofstetter gab mir Feuer. Nach dem ersten Zug wurde mir wieder übel, nach dem dritten ging's.

»Sie kennen ihn also«, stellte Gerstl fest.

»Woher soll ich ihn kennen?« Ich flüsterte nur. Gerstl schob sich näher. »Das will ich ja gerade von Ihnen wissen.«

»Aber ich kenn ihn nicht! Wer ist das?« Ich schaute hoch, über die Krawatte, das Doppelkinn, den Schnauzbart und die behaarten Nasenlöcher zu den dunklen Augen, die von den Lidern fast bedeckt wurden.

»Sein Name ist Jakob Lehl, 24 Jahre, zwei Vorstrafen, ohne Beruf … Glauben Sie, daß er es wert ist?«

»Was wert?«

»Ihr Schweigen.«

»Aber ich kenn ihn nicht! Ich hab ihn noch nie gesehen!«

»Finden Sie nicht, daß Ihre Reaktion etwas heftig war bei einem, den Sie noch nie gesehen haben?«

Unter seinem Bart zeigten sich gelbe Zähne; ich nahm an, daß er lachte. Ich schaute wieder auf den Boden, auf dem sich ein Junikäfer seinen Weg durch das dürre Gras bahnte.

»Ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht haben, als Sie mich hierher holten«, sagte ich und wunderte mich darüber, wie sicher meine Stimme klang. »Vermutlich wollten Sie mich schocken, indem Sie mir eine Wasserleiche zeigen. Dann haben Sie Erfolg gehabt. Im Gegensatz zu Ihnen seh ich sowas nicht jeden Tag. Um ganz ehrlich zu sein, es ist der erste Tote, den ich überhaupt in meinem Leben gesehen habe. So nahe jedenfalls. Und wenn Sie daraus irgendwelche Schlüsse ziehen, dann ist das Ihre Sache.«

Der letzte Satz klang in meinem Kopf nach. Da stimmte etwas nicht. Ich hatte einen Fehler gemacht. Mein Gehirn begann wieder zu arbeiten. Ich mußte mich normal verhalten. Das war's. Ich sah wieder hoch.

»Was soll ich hier überhaupt? Verdächtigen Sie etwa mich, ihn in die Isar geschubst zu haben?«

Gerstl begann in seinen Taschen herumzusuchen. »Er ist nicht ertrunken. Sie haben genau gehört, was der Arzt gesagt hat. Ein stumpfer Gegenstand. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen …«

Er hatte gefunden, wonach er suchte. Ein DIN-A5-Plastikkuvert, an dessen Innenseite sich so viel Kondenswasser gebildet hatte, daß es kaum noch durchsichtig war. Er hielt es mir unter die Nase, und ich konnte erkennen, was drin war. Ein feuchter Tausend-Mark-Schein.

»Den haben wir bei ihm gefunden. Die Seriennummer stammt aus dem Banküberfall, der vorgestern direkt unter Ihrem Fenster verübt worden ist. Bei dem ein Mann getötet wurde.« Er zog die Hand mit dem Umschlag zurück und ließ sie in der Brusttasche verschwinden. »Das ist jetzt schon der zweite Tote. Und vielleicht geht Ihnen doch endlich auf, mit was für Leuten Sie sich da eingelassen haben. Und daß Sie immer tiefer da rein geraten, wenn Sie nicht bald den Mund aufmachen.«

»Das ist eine Unverschämtheit!« schrie ich. »Sie versuchen dauernd, mich da in eine Sache mit hineinzuziehen, von der ich nichts weiß und mit der ich nichts zu tun habe …«

Ich sprang auf und fühlte mich gleich etwas stärker, weil ich einen halben Kopf größer war als Gerstl. Er grinste und machte eine Bewegung, als wolle er nach meinem Ellbogen greifen.

»Gehen wir!«

»Wohin?« Ich wich seiner Hand aus, aber dicht hinter mir stand Hofstetter, und so ging ich wieder brav zwischen ihnen zum Uferhang und kletterte hinauf. Neben dem Auto wartete ein Uniformierter auf uns. Als er Gerstl sah, ging er ihm entgegen und gab ihm einen Zettel:

»Die Adresse. Ist eben über Funk durchgekommen.«

»Sehr schön.« Gerstl nahm den Zettel, warf einen kurzen Blick darauf und nickte nachdrücklich. »Wir fahren hin. Wenn Fischer hier fertig ist, soll er nachkommen.« Dann wandte er sich wieder zu mir: »Sie haben mir jetzt so oft und so glaubhaft versichert, daß Sie nichts wissen, daß ich es ja bald glauben muß. Da tun Sie mir halt leid, weil eine Krimiautorin doch mehr wissen sollte. Und drum haben Sie jetzt Gelegenheit, der Polizei bei der Arbeit zuzuschauen.« Er machte die vordere Autotür auf und verbeugte sich einladend. »Bitte!«

Die Leute, die herumstanden, glotzten voller Hoffnung auf irgendein Spektakel, ich war unsicher, weil ich nicht wußte, was Gerstl vorhatte, und vor allem, was er wirklich wußte. Also setzte ich mich neben Hofstetter, schon um erst mal von hier wegzukommen.

Wir fuhren zurück nach Schwabing in die Clemensstraße und parkten vor einem rosa-weiß renovierten Jugendstilhaus. Gerstl ging wieder voraus, zur Tür des Nachbarhauses. Es stammte aus der gleichen Zeit, hatte aber offenbar seit der Erbauung keinen Maler mehr gesehen. Hofstetter mußte dreimal läuten, bevor ein heiserer Summer knurrte und die Tür sich öffnen ließ.

Im Treppenhaus war es düster; einen Lift gab es nicht. Zweiter Lehrgang der Bergsteigerprüfung. Im dritten Stock begann ich zu schnaufen und kleine lila Punkte vor den Augen zu sehen. Im fünften Stock erwartete uns ein alter Mann in einer Wolke von Bratkartoffelduft. Zusammengeschrumpelt steckte er in einer viel zu weiten Hose, die, von monströsen Hosenträgern gehalten, um seinen eingefallenen Bauch herumwaberte. Gelbe Zahnstummel bleckten uns entgegen.

»In diesem Haus ist Betteln verboten!« keifte er.

Gerstl hielt ihm seine Marke unter die Nase; der Alte machte sich nicht die Mühe hinzuschauen.

»Gehen's weg! Ich brauch nix!«

»Polizei«, erklärte Gerstl, und der Alte hüpfte sofort einen Schritt in die Wohnungstür zurück. »Sie haben einen Untermieter, Jakob Lehl …« Er brauchte nicht weiterzusprechen; eifrig reckte der Alte einen mageren Arm nach oben.

»Verhaften s' ihn! Zweihundert Mark krieg ich von dem! Ein Verbrecher ist das!«

»Haben Sie einen Schlüssel zu seinem Zimmer?«

»Schlüssel? Ha! Bei dem gibt's nix zu holen!« Der Alte zog sorgfältig die Tür hinter sich zu und kletterte vor uns her eine schmale Holzstiege hinauf, eine Fortsetzung der Treppe ins Dachgeschoß. Dabei zog er pfeifend die Luft ein und brabbelte ohne Unterbrechung vor sich hin – über die jungen Leute, die alle Verbrecher sind, über das harte Los der Hausbesitzer ganz allgemein, denen man alle Rechte weggenommen hat, und sein spezielles Schicksal, seit die Frau tot ist und er alles allein machen muß … Wir kamen auf einen schmalen Gang mit drei rohen Holztüren. Die erste verriet die Bestimmung des dahinterliegenden Raumes durch scharfen Uringeruch; vor der zweiten blieb der Alte stehen.

»Vielleicht müssen Sie ihn ausräuchern!« wisperte er voller Hoffnung.

Gerstl schob ihn zur Seite und stieß die Tür auf. Ein Miefschwall von ungelüftetem Bettzeug und alten Socken nahm mir den Atem, und ich wäre zurückgeprallt, wenn der Alte mich nicht mit in das Zimmer hineingedrängt hätte.

Ein winziger Raum mit schrägen Wänden und einem rohen Holzdielenboden. Ein altes Vertiko mit abgeplatzten Intarsien, ein eisernes Bettgestell mit einem Haufen Decken darauf, ein Berg Zeitschriften auf dem Boden und jede Menge alte Kleider, Hosen und Strümpfe. An den Wänden Hunderte von Fotos und Zeichnungen. Nackte Frauen – sitzend, liegend, stehend, allein oder zu zweit.

»Das gehört alles mir!« japste der Alte. »Für die Miete …«

Gerstl beachtete ihn nicht. Er blieb neben der Tür stehen und beobachtete mich, während Hofstetter sich daranmachte, den Raum zu durchsuchen. »Lebte ja wirklich gemütlich, Ihr Freund«, sagte er leise.

»Er war nicht mein Freund.« Ich ging an dem Alten vorbei zur Tür zurück. »Und wenn Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich jetzt gern heimgehen. Ich habe noch was zu tun.«

Gerstl starrte mich nur an; sagte aber nichts. Er hinderte mich auch nicht daran, hinauszugehen und die Treppen hinunterzusteigen.

Draußen war es wieder glühend heiß, und es stank nach Auspuffgasen; aber was ich einatmete, kam mir wie kühle, frische Landluft vor. Ich rannte drei Blocks, bevor ich wieder normal gehen konnte.

Als ich den Schlüssel in meine Wohnungstür steckte, merkte ich, daß sie nicht abgeschlossen war, sondern nur zugezogen. Max hatte also den Weg nach draußen gefunden. In der Küche war der Tisch abgeräumt und das Geschirr gewaschen – etwas, das nicht einmal Uwe gemacht haben würde. Ich zog mich aus und duschte kalt. Diesmal half es. Meine grauen Zellen begannen wieder zu arbeiten.

Ich hatte mich genauso aufgeführt, wie Gerstl es von mir erwartete: schuldig. Und dann war ich noch nicht mal in Dschakos Zimmer geblieben, um wenigstens zu erfahren, ob sie bei ihm irgend etwas fanden, das auf Max und die anderen hinwies. Und damit auf mich … Ich trocknete mich ab.

Max, verdammt.

Ich mußte ihm Bescheid sagen und wußte nicht mal, wo er wohnte. Ich hatte nicht mal mehr ein Fahrrad, um in die Biergärten zu fahren, in denen sie sich offenbar tagsüber aufhielten … Ich konnte höchstens zu Fuß zum Chinesischen Turm gehen und es dort versuchen; sonst mußte ich halt bis abends warten, bis ich in die Grüne 8 oder ins Underwear konnte, wo ich sicher jemand traf, der Max kannte. Die Frage war nur, ob mir die Zeit reichte … Diese Idioten! Fortwährend fielen sie einem auf den Wecker, aber wenn's mal drauf ankam, verschwanden sie in ihren Löchern … Dschakos Bude fiel mir ein, und ich versuchte schnell an etwas anderes zu denken. Als ich angezogen war, läutete es an der Tür … Max? Ich rannte hin.

Es war ein junger Mann mit einem schwarzen Werkzeugkoffer. »Von der Post«, sagte er; »Sie haben eine Störung … Ich meine, Ihr Telefon.« Er grinste albern – sein ständiger Scherz, vermutlich. Am Schreibtisch blieb er verwundert stehen. »Wie haben Sie denn das fertiggebracht?«

»Ich bin drüber gestolpert«, sagte ich lahm.

Er musterte mich skeptisch, machte sich dann aber kommentarlos ans Werk. Er sagte nur, daß ich die Rechnung selber zahlen müßte.

Ich nickte und dachte an Max. So blöd war er gar nicht. Aber wie auch immer, ich mußte mir eine eigene Strategie ausdenken. Bloß, solange mich dieser Gerstl nervte … Er nervte mich nicht nur, er machte mich unsicher – pardon, er verunsicherte mich. Man ist ja ein moderner Mensch, und zum Teufel mit der deutschen Sprache … Jedenfalls, Gerstl lähmte mein strategisches Denkvermögen.

Der Telefontyp war fertig; ich gab ihm ein Trinkgeld und ließ ihn raus. Jetzt hatte ich also wieder ein Telefon.

Man kann allerhand anfangen mit so einem Ding. Die Frage war nur, was. Ich machte mir einen Nescafé und steckte mir eine Zigarette an. Das Wichtigste war doch, Gerstl abzuwimmeln. Und das konnte ich nur, wenn ich mich so verhielt, wie sich intelligente, gebildete, wohlhabende, unschuldige Bürger verhalten, wenn ihnen sture Staatsdiener auf die Füße steigen: Sie wehren sich, und zwar ganz entschieden. Sie beschweren sich beim Polizeipräsidenten. Oder sie protestieren in der Öffentlichkeit. Jawoll.

Es läutete wieder, und wenn ich einen schnaubenden Drachen zur Hand gehabt hätte, wäre ich auf ihm zur Tür geritten. Aber ich hätte ihn dann kein Feuer speien lassen. Draußen stand der Mann, den ich jetzt brauchte: Schneider, der Zeitungstyp in den engen Jeans.

»Kommen Sie rein«, sagte ich, noch bevor er den Mund aufbekam; ich bot ihm einen Platz und einen Drink an und gewährte ihm das Interview, um das er mich so herzlich bat.

Und ich kam richtig schön in Fahrt dabei. Ich lieferte ihm die Geschichte einer, äh – na ja, prominenten Bürgerin, die, nur weil sie halt zufällig in der Nähe einer überfallenen Bank wohnt, von der Polizei drangsaliert und in die Mangel genommen wird, die man zu Wasserleichen und in Verbrecherbuden schleppt und pausenlos im dritten Grad grillt – bloß weil sie die Frechheit besessen hat, während des Überfalls auf dem Klo zu sitzen, statt mit dem Fernglas … Ich schnörkelte und malte aus, ich setzte Glanzlichter und Pointen. Ich war brillant.

Ich war allerdings auch ein bißchen naiv. Meine private Phantasie reichte nicht aus, mir vorzustellen, was die berufliche Phantasie eines Reporters der Boulevardpresse zu leisten im Stande ist. Aber einstweilen war ich äußerst zufrieden.

Als Schneider ging, war er es auch.