Um halb zwölf rief Max an. Er meldete sich nicht, sondern sagte nur: »Wenn du nicht allein bist, sag ›Falsch verbunden.‹«
»Wenn mein Telefon nicht überwacht wird, bin ich allein.«
»Wir sind in der Max Emanuel, im Garten; hinten, letzter Tisch.« Er hängte auf.
Ich spielte kurz mit dem Gedanken, ihn dort zurückzurufen und ihm die Meinung zu sagen, aber dann dachte ich daran, daß das, was ich eigentlich als Witz gemeint hatte, vielleicht doch der Fall sein könnte; und da ich wenig Lust hatte, die Abhöraffäre Kemper zu werden, ging ich los.
Um diese Zeit war der Garten noch ziemlich leer; nur an den vorderen Tischen saßen ein paar Bauarbeiter und machten Brotzeit. Ich nahm mir von der Theke ein Weißbier und ein Ripperl mit Kraut mit und ging nach hinten. Sie saßen wie drei Leghühner auf der Stange hinter ihren Bierkrügen und sahen mir entgegen.
Ich stellte mein Bierglas und den Pappteller ab. »Dschako ist tot. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen.«
»Was sonst noch?« fragte Max. Er schien nicht sehr überrascht zu sein.
Mir verging schlagartig der Appetit. »Er ist zwischen sechs und sieben Uhr heute früh ermordet worden … Ich nehme an, für die Zeit hat keiner von euch ein Alibi?«
»Du etwa?« Ferdi nahm das Ripperl von meinem Teller und biß hinein. Saft lief über sein Kinn.
»Außerdem hat man bei ihm einen Tausender gefunden. Aus der Beute. Registriert.«
»Dschako war ein Schwein.« Ferdi pickte mit der kleinen Holzgabel Kraut auf. »Dem hätten wir nie trauen dürfen.«
»Jetzt ist er tot«, sagte ich leise, »und das scheint für euch nicht neu zu sein.«
»Ferdi hat den Polizeifunk abgehört«, sagte Vitus. Neben seinem Bierkrug stand ein doppeltes Schnapsstamperl, das er jetzt auf einen Zug leerte, was überhaupt nicht zu seinem abstinenten Wunderheileraussehen paßte. »Dschako ist mit dem ganzen Geld abgehauen. Und dabei ist er halt erwischt worden. In den Isar-Auen treibt sich nachts so allerhand Volk rum.«
»Woher wißt ihr, daß es an der Isar passiert ist?«
»Das haben sie durchgegeben.« Ferdi wischte sich den Mund ab und spülte mit Bier nach.
Ich sah zu Max hinüber, aber ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Er war mir fremd. Er saß mit zwei anderen zusammen, bildete mit ihnen eine Einheit, und einer von ihnen war ein Mörder.
Ich stand auf. »Ich geh.«
Ferdi warf sich halb über den Tisch, packte mein Handgelenk und zwang mich wieder auf die Bank zurück. »Du bleibst. Jeder von uns bleibt. Wir gehören zusammen, und wir bleiben zusammen. Das Geld ist weg, und wir werden uns neues holen. Wir vier.«
»Ohne mich!« Ich steckte mir eine Zigarette an und trank einen Schluck von meinem Bier. »Ich hab keine Lust, einen Mörder zu decken. Und ich hab auch keine Lust, wegen Bankraub nach Aichach zu wandern. Ich hab nicht einmal mehr Lust, mit euch an einem Tisch zu sitzen.«
»Da führt aber kein Weg dran vorbei«, meinte Vitus leise.
»Ich kann nicht.« Meine Stimme schwankte. »Ich mag nicht, und ich kann nicht … Ich hab nicht die Nerven dazu. Ich halt das nicht durch. Geht das nicht rein in eure Schädel?«
»Du mußt.« Max stand auf, kam um den Tisch herum, setzte sich neben mich und legte mir den Arm um die Schulter. »Du mußt! Schau, wir können doch nicht einfach dasitzen und dich zu den Bullen rennen lassen.«
»Ich hab nicht gesagt, daß ich zu den Bullen renn. Ich mach nur nicht mehr mit.«
»Fehlanzeige.« Ferdi nahm sich eine von meinen Zigaretten.
»Ihr seid einfach blöd!« Ich schüttelte Max' Arm ab. »Gerstl ist hinter mir her. Er läßt mich beobachten … Jetzt noch die Sache mit Dschako. Das einzige, was euch noch retten kann, ist, wenn man uns nie zusammen sieht!«
»Dschako hatte keine Freunde«, sagte Vitus. »Wir haben gestern seine Bude durchsucht – da ist nichts, was auf uns hinweist; da gibt es keine Verbindung. Er ist auch der einzige von uns mit Vorstrafen – wir sind alle sauber; du brauchst keine Angst zu haben.«
»Ich hab aber Angst.«
»Um so mehr müssen wir auf dich aufpassen.«
Ich wollte noch etwas sagen, aber ein paar Leute setzten sich an den Nachbartisch, und Max machte uns Zeichen, von etwas Harmloserem zu reden. Wir tranken unser Bier aus und gingen.
Auf der Straße sagte Vitus zu Max: »Ihr zwei bleibt zusammen, und wir zwei. Bis morgen nachmittag darf keiner mehr allein sein … Sag ihr, was sie wissen muß.« Dann drehte er sich um und ging mit Ferdi in Richtung Türkenstraße davon.
Max und ich gingen die Kurfürstenstraße hinauf.
»Was ist mit den anderen?« fragte ich. »Woher weißt du, daß die beiden es nicht zusammen getan haben?«
»Wir waren allein. Keiner von uns. Das haben wir festgestellt.«
»Wie denn?«
»Man fragt halt so rum. Der eine wird da gesehen, der andere dort.«
»Das kann die Polizei auch.«
»Die wissen doch gar nicht, wo und wen sie fragen sollen. Und wenn, dann sagt denen keiner was.«
Ein paar hundert Meter gingen wir schweigend weiter, Max kickte eine leere Zigarettenschachtel vor sich her.
»Das heißt also«, sagte ich, »daß ihr selber nicht an den großen Unbekannten glaubt.«
»Wir wollten nur sicher gehen.«
»Daß es einer von euch war. Daß einer von euch Dschako erschlagen hat.«
»Und das Geld an einen anderen Ort gebracht, ja.«
»Warst du es?« Ich konnte ihn dabei nicht ansehen.
Er gab der Schachtel einen heftigen Tritt. Sie landete unter einem parkenden Auto. »Nein, ich war's nicht.«
»Das sagen Vitus und Ferdi sicher auch.«
»Logo.«
Wir kamen zum Kurfürstenplatz, und Max ging in die Eisdiele und kam mit zwei Eiswaffeln zurück. Das sah so komisch aus, daß ich gegen meinen Willen lachen mußte.
»Jetzt wird mir dann gleich endgültig schlecht.«
»Das ist doch alles eine große Scheiße!« Max leckte an seinem Eis. »Ich hab doch heut früh nur an dich gedacht und wie ich am schnellsten in dein Bettchen komm – und nicht, wie ich mir den Zaster unter den Nagel reißen kann!« Er grinste, und da sah er mit dem Eis in der Hand plötzlich aus wie ein kleiner Junge. Allerdings ein ziemlich durchtriebener. »Und dabei kann man das in jedem amerikanischen Gangsterfilm lernen, daß Weiber nur hinderlich sind bei der Arbeit, weil …« Mit einem Ruck blieb er stehen und hielt mich am Arm fest.
Mir fiel die Eiswaffel aus der Hand. Ich versuchte zu erkennen, was ihn so erschreckt hatte. Wir hatten die Hälfte der Friedrichstraße hinter uns und überblickten einen Teil des Habsburgerplatzes. Zwischen den Bäumen und den anderen parkenden Autos stand ein blauer Opel. Hinter dem Steuer saß ein Mann … Mir wäre weder der Wagen noch der Fahrer aufgefallen.
Max reichte mir sein Eis, ließ mich daran lecken, legte den Arm auf meine Hüften und drehte mich um. »Langsam!« flüsterte er.
Wir schlenderten zurück, und Max hinderte mich daran, mich umzuschauen; erst in der Georgenstraße bogen wir nach rechts ab und blieben stehen.
»Das war knapp!« Max warf angewidert das restliche Eis weg.
»Sie bewachen mein Haus …« Meine Knie wackelten so, daß ich froh war, weite Hosen anzuhaben.
»So sieht es aus.« Max nagte an der Unterlippe. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. »Komm!«
»Wohin?«
»Zu mir.«
»Wann siehst du endlich ein, daß ich recht hatte?«
»Komm endlich! Vielleicht haben die ja nur auf dich gewartet. Oder es war ein Käsevertreter, der seine Liste vergessen hat.«
»Ja – oder einer vom Statistischen Landesamt, der die letzten authentischen Miniröcke zählt.«
»Genau!« Er grinste schon wieder. Aber alle paar Meter sah er sich vorsichtig um. Ein letztes Mal vor einem modernen Kasten in der Barerstraße. »Nichts …«
Wir gingen durch die Einfahrt zum Rückgebäude und fuhren mit einer stahlverkleideten Schuhschachtel in den achten Stock hinauf. In einem handtuchschmalen Gang reihten sich grüngestrichene Türen aneinander, und es roch nach kaltem Rauch. Max schloß die letzte Tür auf und ging hastig voraus, um innen das Fenster aufzureißen und eine Decke über das ungemachte Bett zu werfen.
»Nur keine Hemmungen.« Ich blieb in der Kochnische stehen. »Ich räum nicht auf.«
Er packte einen Berg Kleider zusammen und drängte sich an mir vorbei, um sie mit einem Schwung ins Bad zu werfen.
Ich ließ mich auf die Bettkante fallen, um aus dem Weg zu sein. »Ich hab genug damit zu tun, gegen meine Klaustrophobie anzukämpfen.«
Max kam zurück und sah sich verwundert um, als sähe er sein Apartment auch zum erstenmal. »Na ja, bißchen klein ist es wohl«, meinte er.
Das war die Untertreibung des Jahres. Das ganze Ding hatte höchstens zwölf Quadratmeter, und wenn die Flurtür offen war, konnte man die Tür zum Bad nicht mehr schließen. Es war mit weißlackierten Kunststoffschränken und einem Einbaubett, einem weißen Stahlfußtisch und einem Schalenstuhl in der gleichen anregenden Farbe möbliert. Die Farbe des Spannteppichs war nicht mehr zu erkennen, schien aber einmal dunkel gewesen zu sein. Es gab kein einziges Bild an den Wänden und kein Buch im Regal, dafür aber einen professionell aussehenden Plattenspieler mit zwei zwanziger Boxen, und eine Unmenge von Platten. Ich konnte drin herumblättern, ohne aufstehen zu müssen, und entdeckte die größte Jazzsammlung, die ich je in einer Privatwohnung gesehen hatte.
Max stand mit dem Rücken zu mir vor dem Einbauschrank, der die Küche darstellte, und brühte Tee auf. »Magst du Jazz?«
»Und wie.«
Ich zog eine LP heraus, Art Tatum, eine Aufnahme von 56. Max kam mit der Teekanne und zwei Tassen zum Bett und stellte sie auf den Boden.
»Das ist eine der spätesten Aufnahmen, die ich habe. Mit dem Jazz der 60er kann ich nicht so viel anfangen; das ist mir zu sophisticated.«
Ich nickte – weniger, weil ich seiner Meinung war, als vielmehr, weil mich der Gebrauch des Wortes irritierte. Es paßte irgendwie nicht zu einem Typ, der ohne jedes Buch lebte. »Und was ist mit Miles Davis?« fragte ich, um das schöne neutrale Gespräch nicht versickern zu lassen. »Der hat es doch geschafft. Ich meine, der hat doch den Jazz lebendig weiterentwickelt.«
»Das meine ich nicht.« Er kramte in den Platten herum und zog eine alte Hülle mit weißgewetzten Ecken heraus. »Das hier, Jazz at Massey Hall, 53, mit Charlie Parker und Mingus und Dizzy Gillespie – so was wird's nie wieder geben, so happy, so relaxed, so prall und voller Lebensfreude … Das ist für immer vorbei.« Er ließ die Platte auf den Teppich fallen und goß Tee in die Tassen. »Es ist einfach keine Zeit mehr für Musik, für echte, direkte Musik.« Er reichte mir vorsichtig eine Tasse und lächelte wehmütig. »Manchmal bin ich ganz froh darüber.«
»Worüber?« fragte ich leise, als er nicht weitersprach: Er zuckte die Achseln, aber ich mußte weiterbohren, fasziniert von der Möglichkeit, endlich etwas über ihn zu erfahren. »Hast du selber mal gespielt?«
»Klavier.« Er hielt seine Tasse mit beiden Händen und blies hinein. »Ich war die große Hoffnung. Der Pianist, dessen Namen man sich merken mußte.«
»Und?«
»Ein Stuhlbein ist mir auf die Hand gekracht.« Er ballte die linke Hand zur Faust. »Bei einer Wirtshausschlägerei. Genau auf die Knöchel.«
»Man sieht aber gar nichts.«
»Nein, man sieht nichts.« Er spreizte die Finger.« Bloß kann ich keine Oktave mehr greifen.«
»Das ist … Es tut mir leid, Max.«
»Nicht nötig. Für's Bierkrugstemmen langt's ja noch.« Er sah mein Gesicht und grinste plötzlich. »Nein, ehrlich – das ist vorbei … Vielleicht wär's anders viel schlimmer: Wenn ich noch spielen könnte in einer Welt, in die ich nicht reinpasse …«
»Du spinnst ja! Jazz ist doch unheimlich im Kommen.«
»Ja, als Nostalgiepostkarte aus den USA. Aber doch nicht als Ausdruck unseres eigenen Lebensgefühls.«
»So in Ordnung war die Welt ja früher weiß Gott auch nicht.«
»Aber die Probleme waren zum Anfassen, zum Riechen, zum Schmecken … Nicht so ein Brei wie heute.« Er hockte sich auf den Teppich und schaute zu mir auf: »Manchmal denk ich, du bist jemand, der durchblickt; und dann red ich wieder an eine Blechwand hin … Du überlegst dir doch ganz ernsthaft, ob ich es war, der Dschako umgebracht hat.«
»Einer von euch war es.«
»In deinen Büchern faselst du immer von Psychologie, aber im Leben zählt für dich nur das Alibi … Na schön; ich hab keins.«
»Ich kenn keinen von euch richtig. Nicht mal dich.«
»Wen kennt man denn schon …«
»Wenn es einer von den anderen war, dann müßtest du es doch rauskriegen, oder?«
»Wenn's einer von ihnen war, dann vermutlich der Ferdi. Vitus ist ein Spinner; der lebt in einer anderen Welt. Aber für den Ferdi gibt's nur eins, was zählt: Geld.«
»Und trotzdem bleibt ihr zusammen?«
Er sah mich minutenlang an, ohne etwas zu sagen. Dann, sehr leise: »Wenn du es getan hättest, dann würde ich auch weiter zu dir halten.«
»Das klingt wie der Treueschwur von zwölfjährigen Isar-Indianern … Ihr seid alle noch nicht so richtig erwachsen. Bloß der Dschako, der ist echt tot.«
»Und du? Du bist natürlich groß und weise.«
»Ich bin dabei, es zu werden.« Ich steckte mir eine Zigarette an; Max schob mir einen übervollen Aschenbecher hin. »Und zwar ohne euch.«
»Null-Chance.« Er stützte sich auf die Ellbogen und lehnte sich zurück. »Morgen bist du dabei. Dann kannst du tun, was du willst.«
»Was ist morgen?«
Er spielte mit der Massey-Hall-Platte. »Die Platten, das ist alles, was ich hab. Die meisten bekommst du heute überhaupt nicht mehr. Wenn ich weg muß und die hierlasse, dann brauch ich Geld. Einen ganzen Haufen. Damit ich nach Amerika kann.«
»Was morgen ist, will ich wissen.«
»Der Vitus, der will sowieso weg. Nach Indien, glaub ich. Der Spinner. Und der Ferdi, der geht wahrscheinlich nach Acapulco, Millionär spielen … Da paßt er auch hin, wenn er selber welches hat.«
»Was habt ihr morgen vor?«
Er lächelte. »Ich tät mich freuen, wenn du mitkommen würdest. Mit mir, mein ich. Wenn wir zusammenbleiben könnten. New York, San Francisco, New Orleans – das wär doch was, oder?«
»Ohne mich!«
»Wie du meinst.« Er stand auf. »Ich hab's nicht anders erwartet … Morgen mittag um zwei sind wir in Haidhausen. Kleine Filiale der Holz-Bank. Alles schon ausbaldowert. Wir wollten ursprünglich dort rein, aber die haben fast nur Rentenkram, deshalb haben wir den Laden am Habsburger Platz genommen.«
Ich starrte ihn an. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte zu diesem Typ da vor mir – diesem Typ, mit dem man sich über Jazz unterhalten konnte. Er lächelte auch nicht mehr; er schien durch mich hindurch zu sehen.
»Die Karre stellen wir am alten Friedhof ab. Dort besorgen wir uns auch eine neue. Ich bleib draußen, du gehst mit den beiden anderen rein. Ferdi hat die Spritze; du hilfst Vitus beim Einsacken …« Ich muß zur Tür hingeschaut haben, denn Max stellte sich mit einem Schritt davor. »Kein Gedanke. Wir zwei bleiben zusammen. Bis daß der Tod uns scheidet …« Er lachte.
Ich fand sein Lachen nicht ansteckend.