Wir hatten in der Brasserie Zwiebelsuppe und Pfeffersteak gegessen, und es war mir zwischendurch immer wieder mal gelungen, die ganze Geschichte von mir wegzudrängen. Dafür kam jetzt alles um so stärker zurück. Wir standen im Nebenraum der Grünen 8 am Flipper, und Max hatte bereits einen Vorsprung von 450 Punkten.
Er spielte konzentriert, fast besessen, als gebe es nichts auf der Welt außer ihm und diesem Flipper. Und in der Tat schien er den Kasten auf übersinnliche Art beeinflussen zu können – jedesmal, wenn die Kugel sich der unteren Klappe näherte, warf er sie mit einem von einem Hüftschwung unterstützten Knopfdruck wieder zurück in die Lämpchen.
Ich hätte reichlich Zeit zum Nachdenken gehabt, aber in meinem Kopf rotierten nur noch grüne und gelbe Zahlenkombinationen. Zum Essen hatten wir zwei Flaschen Burgunder getrunken; jetzt hielt ich schon meinen dritten Korn in der Hand, und es würde sicher nicht der letzte sein. Das Essen hatte ich gezahlt; hier hatte Max Kredit, und er hatte sogar eine Bemerkung gemacht, daß er den Deckel morgen abend begleichen würde.
Max schlug mit der flachen Hand gegen den Flipper, und ich versuchte mir diese Hand auf den Tasten eines Klaviers vorzustellen. Es gelang mir nicht … Ebensowenig schaffte ich es allerdings, diese Hand, mit einem Stein bewaffnet, auf Dschakos Hinterkopf sausen zu sehen … Die Stahlkugel und die Gesetze der Schwerkraft setzten sich endlich durch; Max richtete sich auf, um mich ranzulassen – und erstarrte.
Ich fuhr herum.
Hinter mir stand Ferdi; keiner von uns hatte ihn kommen gehört. »Bullen«, sagte er leise. »Überall. Zivilschnüffler … Ede hat was von einer Razzia läuten hören. Wir treffen uns bei mir.« Er drehte sich um, und im nächsten Augenblick war er durch die Tür verschwunden.
Ich wollte hinterher, aber Max hielt mich zurück. »Wir haben doch noch zwei Freispiele!«
Da ich dran war, dauerte es nicht lange, bis wir gehen konnten, ohne eine verdächtige Spur in Gestalt eines Flippers mit zwei Freispielen zurückzulassen. Unauffällig waren wir trotzdem nicht, denn es war erst kurz nach halb zehn, und die meisten in der halbleeren Kneipe schienen Max zu kennen. Einer wollte sogar einen ausgeben; Max mußte ein paar eindeutige Bemerkungen in bezug auf mich machen, um ihn nicht zu beleidigen.
Draußen hatte es angefangen zu regnen, und obwohl es nicht weit war, trieften wir, als wir das Haus erreichten, in dem Ferdi wohnte.
Ein supermoderner Bau mit viel Glas und Beton, mit goldgelbem Teppichboden im Treppenhaus und einer blauledernen Sitzgruppe in der Eingangshalle. Sogar der Fahrstuhl war teppichgepflastert, und als wir im vierten Stock ausstiegen, leuchtete uns ein Vasarely-Druck entgegen (mit einem kleinen schreibmaschinegeschriebenen Zettel auf dem Glas, daß es nur ein Druck sei und sich das Stehlen nicht lohne). Wir wateten durch den gelben Teppichboden zu einer breiten Teakholztür, hinter der ein feines Glockenspiel ertönte, als Max auf den Klingelknopf drückte.
Ferdi machte uns auf, und seine Erscheinung beeinträchtigte den Glanz, der hinter ihm auf uns wartete, um einiges. Eine quadratische, teakholzverkleidete Diele mit einem mannshohen Spiegel und zitronengelbem Teppichboden, dahinter ein Zimmer von weit über 30 Quadratmetern, eine Schattierung dunkler in Eigelb ausgelegt. Eine Wand olivgrün, die anderen weiß; eine nagelneue Schrankwand aus dem Kaufhaus. Ein runder Glastisch mit einem Zebrafell darunter; schwarze Fellsessel. Ein dezent als Teil der Regalwand getarntes Klappbett; vor den Fenstern schwarz und gelb gewellte Vorhänge aus seidig glänzendem Dralon und, als Clou des Ganzen, ein gedrechselter Kerzenständer von fast einem Meter Höhe mit einer armdicken Kerze.
»Zieht bitte die Schuhe aus«, sagte Ferdi, »das macht so scheußliche Flecken auf dem Teppich.«
Hausfrauensorgen eines Messerstechers, dachte ich. Erstaunlicherweise mußten wir nicht alle nassen Kleider ablegen oder uns in seidene Kimonos hüllen, bevor wir auf den schwarzen Fellen Platz nahmen. Ferdi rollte sogar ein fahrbares Glastischchen mit einem Flaschensortiment heran, das jeden Barkeeper angeregt hätte, und fragte uns nach unseren Wünschen. Ich entdeckte einen alten Calvados und bekam ein Glas davon – mit Bastuntersetzer. Max und Ferdi tranken Bier. Und dann saßen wir da und warteten auf Vitus.
Der Calvados wärmte, aber er half nichts gegen das Gefühl, in einem Alptraum zu leben, der sich in kleine Unteralpträume verästelte. Diese Wohnung zum Beispiel … Ich mußte an Dschakos Bruchbude denken, an das winzige Apartment von Max. Wie kommt ein mieser kleiner Ganove zu so einer Wohnung? Wie finanziert er … Halt mal! Zwei Gedanken gleichzeitig: Hat Ferdi das Geld geklaut? – Quatsch. Die Wohnung hat er schon länger … Ist ja auch egal. Aber das andere war mir nicht egal, der zweite Gedanke: mieser kleiner Ganove hatte ich eben gedacht, ganz spontan, ganz unreflektiert, ganz ohne jenes soziologische Rankenwerk, das ich in meinen Büchern so oft wuchern ließ, um kriminelle Verhaltensweisen zu erklären, bis zu einem gewissen Grad zu rechtfertigen, manchmal …
»He, du – ich hab dich was gefragt!« Ferdi sah mich vorwurfsvoll an. »Eh … 'tschuldige. Ich hab gedöst.«
»Ob dir die Wohnung gefällt, hab ich gefragt.«
»Ja …« Ich nickte beklommen.
»Ich find's auch ganz schön. Nur nach einer richtigen Lampe such ich noch. Es gibt einfach keine schönen Lampen. Oder kennst du jemand, der noch mit Schmiedeeisen arbeitet?«
Ich schüttelte den Kopf; mehr schien er auch nicht zu erwarten. Aber mir wurde allmählich klar, was Max damit gemeint hatte, als er sagte, keiner von ihnen würde gern freiwillig von München weggehen. Es waren nicht die fehlenden Fremdsprachen oder der Hang zur Heimaterde. Sie waren kaputt, alle vier, und die einzigen Bindungen, die sie in ihrem Leben hatten aufbauen können, betrafen ein paar Schwabinger Kneipenkumpels, Schallplatten oder Möbel. Die Trennung davon bedeutete für jeden von ihnen, ein Stück von sich selbst zu verlieren, und ich war sicher, daß Ferdi von einem Kratzer in seinem Glastisch mehr betroffen gewesen wäre als von Dschakos Tod … Ferdis Wohnung war ein Alptraum, klar; aber, um die Sache zu komplizieren: meine eigene Wohnung spielte für mein … na, großes Wort – Lebensgefühl auch eine Rolle … War da ein Unterschied? Natürlich war da einer. Der Unterschied zwischen einer Maschinenpistole und einer Schreibmaschine. Aber wie, wodurch gerät der eine an die Schreibmaschine und der andere an die MP? Meine Gedanken verhedderten sich endgültig, und ich war sehr froh, als das Glockenspiel endlich die Ankunft von Vitus ankündigte.
Auch Vitus mußte die Schuhe ausziehen und bekam von Ferdi unaufgefordert ein Glas mit parfümiert riechendem Rosenlikör, den er mit verklärtem Gesichtsausdruck in sich hineinschlürfte.
»Die schleichen tatsächlich überall rum«, meldete er nach dem zweiten Glas. »Sie haben so ein paar junge Gammeltypen dabei, die sich in der Szene auskennen und die Leute ausfragen. Erst lullen sie dich ein, geben einen aus und zeigen dann Fotos von Dschako herum … Wußtet ihr, daß sie Dschako schon mal wegen einer Drogensache in der Mangel hatten?«
»Nein. Aber das ist doch ganz gut: Dann suchen sie woanders.« Max goß sich Bier nach und verschüttete etwas davon.
Ferdi wischte es automatisch weg. »Nicht unbedingt. Wenn sie an die Dealer rankommen, dann packen die aus, nur um ihren eigenen Stall sauber zu halten.«
»Aber was sollen die schon groß rausfinden?« Vitus schenkte sich noch einen Likör ein, und Ferdi schob ihm schnell den Untersatz unter die klebrige Flasche, als er sie wieder abstellte. Wenn uns mal einer zusammen gesehen hat, dann weiß er doch längst nicht mehr, wie wir heißen.«
»In der letzten Woche waren wir ziemlich oft zusammen«, überlegte Ferdi. »Wenn da was rauskommt, und sie klappern uns ab, das wär schon blöd.«
»Nachweisen läßt sich gar nichts.« Max stellte seine Flasche heftig auf die Glasplatte. »Nur weil man mit einem Typ zusammen an der Theke gesehen wird, muß man nicht sein Mörder sein.«
»Peinlich ist nur die Verbindung zu mir«, sagte ich voller Befriedigung.
Alle drei sahen mich an.
Dann sagte Ferdi mit unbewegtem Gesicht: »Sie hat recht. Vielleicht sollten wir uns von ihr trennen.«
»Nein!« sagte Max scharf.
Ich war ihm dankbar dafür. Aber Ferdi beachtete ihn nicht:
»Sie haben eine Verbindung von Dschako zu dem Überfall, und eine zu ihr. Aber wir drei sind draußen. Und wenn wir …«
»Nein«, unterbrach ihn Max. »Denk doch mal nach. Ihr können sie gar nichts nachweisen. Und daß wir alle hier in Schwabing in den gleichen Kneipen rumhängen, das ist doch wirklich kein Beweis – das war schließlich auch schon vorher so. Das Dümmste, was wir jetzt tun könnten, das wäre doch, durchzudrehen. Für uns gibt's nur eins: Weitermachen! Grad extra … Wir sind Freunde, und sie ist meine Braut ganz offen. Mit Dschako haben wir nichts zu tun.«
»Und morgen?«
»Morgen müssen wir uns ein Alibi verschaffen, das einfach dicht ist. Atombombensicher.«
»Haha!« Ferdi zog das Glastischchen zu sich heran und goß sich kanadischen Whisky in ein Kristallglas. »Wir sagen, wir waren alle hier bei mir und haben für Weihnachten gebastelt. Jeder ist des anderen Zeuge. Sehr glaubhaft.«
»Quatsch. Wir müssen ganz woanders sein.«
»Und gleichzeitig die Bank überfallen, oder wie?«
»So etwa.«
»Vielleicht kann Vitus das mit Hilfe der Seelenwanderung.« Ferdi bot die Whiskyflasche mit einer Bewegung an; Max nickte, Ferdi gab ihm auch ein Glas. »Aber ich kann's nicht … Das läuft doch hinten und vorne nicht! Wenn wir uns ein Alibi für halb zwei verschaffen, oder für halb drei, dann fehlt es uns doch genau um zwei …«
Sie tranken und schwiegen und brüteten vor sich hin. In diesem Augenblick fiel mir das Alibi des Jahrhunderts ein. Ich machte den Mund auf … Halt mal! Ich machte den Mund wieder zu.
Wenn sie kein Alibi hatten, dann bliesen sie das Unternehmen vielleicht ab, und ich war raus aus der Sache. Andererseits, so leicht bliesen die nichts ab; und wenn sie das Risiko in Kauf nahmen, dann war es auch mein Risiko … Ich wollte aussteigen, so schnell wie möglich – ich saß im falschen Zug. Aber ich wollte nicht gezwungen werden, in voller Fahrt abzuspringen. Wenn schon Bankraub, dann lieber mit Alibi.
»Ist doch ganz einfach«, sagte ich in die Stille hinein. »Das einzige, was euch dabei passieren kann, ist, daß euch nachher der Arsch wehtut.« Alle sahen mich an. Diese konzentrierte Aufmerksamkeit wünscht sich jeder Politiker im Wahlkampf. Ich zögerte noch ein bißchen rum und hielt Ferdi mein Glas hin; er goß großzügig nach. »Wenn ich euch richtig verstanden habe«, fuhr ich fort, »dann müssen wir alle vier weit weg von Haidhausen sein, und zwar nachweislich. Na also, dann fahren wir doch zum Schwimmen an den Starnberger See.«
Ein allgemeiner Schnaufer, und das Interesse schlaffte ab. Ich gab nicht auf.
»Und zwar mit dem Radl … Morgen früh muß jeder von uns ein Fahrrad haben, und zwar ein eigenes oder ein geliehenes, aber kein geklautes. Dann organisiert ihr einen Wagen, am besten einen VW-Bus, in den packen wir die Räder rein und fahren nach Tutzing. Dort verstecken wir die Räder im Wald am See – ich kenne da ein verlassenes Privatgrundstück, das geht. Wir fahren mit dem Auto zurück und stellen es irgendwo im Norden von München wieder ab. Nach dem Überfall setzen wir uns mit Badeklamotten in die S-Bahn, fahren nach Tutzing, holen die Räder und machen uns auf den Heimweg. Unterwegs halten wir in einer Kneipe, machen Brotzeit und fallen ein bißchen auf. Dann fahren wir zurück nach München. Mit den Rädern. Das dauert, wenn wir uns Zeit lassen und noch eine Bierpause einlegen, etwa drei Stunden. Wir kommen k. o. zurück und haben keine Ahnung von dem Überfall.«
Ich erntete ein paar Minuten ehrfürchtigen Schweigens, dann ein geseufztes »Mann!« von Max und einen anerkennenden Pfiff vom Ferdi.
»Sie werden in der ganzen Gegend keinen Münchner Wagen finden«, schloß ich, »den sie mit uns in Verbindung bringen können. Bei der Bundesbahn, bei der man Fahrradkarten kaufen muß – Fehlanzeige. Und in der S-Bahn kann man eh keine Radl mitnehmen. Das ist rund.«
Sie waren beeindruckt. Wir tranken weiter, und gegen eins stand ich auf, um ins Bad zu gehen. Ich hatte schon reichlich Schlagseite, und als ich den violett-grünen Blümchentraum von Ferdis Badezimmer betrat, hatte ich das Gefühl, eine Kirche zu entweihen … Es war alles ziemlich komisch. Es hatte nichts mit mir zu tun; ich spielte bloß in einem Film mit, zu dem ich das Drehbuch geschrieben hatte … Draußen wartete Max schon auf mich.
»Wir gehen zu mir; Vitus pennt bei Ferdi. Morgen früh geht es hier wieder weiter.«
Ich bedankte mich bei Ferdi für den reizenden Abend und torkelte hinter Max her zum Lift.
Auf der Straße verkaufte ein japanischer Student mit Nickelbrille und langem Haar die Zeitung für morgen. Ich kramte 30 Pfennig zusammen und überlegte flüchtig, wovon ich morgen mein Rad bezahlen sollte. Ich merkte noch, wie Max einem Taxi pfiff; dann muß ich wohl kurz eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, saß ich auf dem Bett in Max' Zwergenapartment und hatte immer noch die Zeitung unter dem Arm. Die Schlagzeile knallte mich an: VERSAGT DIE POLIZEI? Dann, etwas kleiner: NOCH IMMER KEINE SPUR IN DER BANKRAUB-AFFÄRE … läßt die Polizei ihre Hilflosigkeit an unschuldigen Bürgern aus? Krimiautorin fühlt sich terrorisiert. Und dann kam ein Bericht, in dem mein Name ungefähr zwölfmal vorkam. Immer wenn es richtig scharf wurde, kam ein Zitat von mir … In der Literaturbeilage machen sie das nie. Der ganze Artikel übertraf meine Vorstellungen bei weitem, und sollte Gerstl mich schon vorher geliebt haben, würde er mir jetzt sicher einen Heiratsantrag machen. Für lebenslänglich … Mein Freund und Helfer.
Ich hörte die Klospülung rauschen und sah mich nach einem Fluchtweg um. Aber da kam schon Max aus dem Bad, und das einzige Kleidungsstück, das er trug, war ein weißes Dreieck um die Hüften, wo ihn die Sonne nicht gebräunt hatte. Also sank ich aufs Bett zurück und entschloß mich für den einzigen Fluchtweg, der mir noch blieb – den tiefen Schlaf der Betrunkenen.