Ich wachte auf, weil mir zu warm war, weil ich keinen Platz hatte und weil neben mir jemand mit aller Kraft am Bettpfosten sägte. Draußen schien schon wieder die Sonne. Ich versuchte mich aufzusetzen, wurde aber von einem behaarten Arm, der quer über meinem nackten Bauch lag, ans Laken genagelt.
Ich versuchte mich zu erinnern. Ich hatte angezogen auf dem Bett gesessen … Pause. Neben mir schnarchte Max … Er mußte mich ausgezogen haben … Längere Pause. Der Mann, neben dem ich da im Bett lag, war nicht mein Herzallerliebster, sondern mein Bewacher … Ganz lange Pause. Wenn es draußen regnen würde, wäre mein todschickes Alibi ins Wasser gefallen. Und damit noch einiges andere … Keine Zeit mehr für Pausen. Ich nahm den Arm vorsichtig und legte ihn auf die Seite. Das Schnarchen brach kurz ab, um dann in veränderter Tonlage weiterzusägen.
Ich war frei.
Vorsichtig stand ich auf. Meine Jeans und meine Bluse lagen sorgsam zusammengelegt auf dem Schalenstuhl. Ich zog mich mit angehaltener Luft an und hob meine Tasche auf. Schaute noch einmal zu Max zurück. Schlich dann auf Zehenspitzen zur Tür … Meine Schuhe! Wo waren … Ich schaute mich im Zimmer um, konnte sie aber nicht entdecken. Na wennschon – bloß raus hier! Ich hängte mir die Tasche um die Schulter und packte die Türklinke mit beiden Händen, um sie vorsichtig herunterzudrücken. Die Tür rührte sich nicht. Ich versuchte es noch einmal. Mit dem gleichen Erfolg.
»Hoffentlich hast du wenigstens einen Abschiedsbrief hinterlassen«, sagte hinter mir Max:
Ich drehte mich langsam um. Da lag er in seiner ganzen protzigen Männlichkeit und grinste.
»Ich mag das nämlich nicht, wenn die Bräute sich so heimlich verdrücken …« Er streckte die Arme nach mir aus: »Na komm schon!« Ich blieb stehen. »Wenigstens noch einmal, hm? Zum Abschied …«
Ich rührte mich nicht.
»Na los doch – sei nicht so spießig! Es macht auch tagsüber Spaß …« Ich knallte meine Tasche auf den Boden. »Von mir aus kannst du aus dem Fenster springen. So wie du bist. Vielleicht hilft das!«
Er grinste stärker, faßte unter sein Kopfkissen, holte den Zimmerschlüssel hervor und ließ ihn hin- und herbaumeln. »Willst du ihn haben? Dann komm doch her und verdien ihn dir.«
Ich verschwand wortlos im Bad und riegelte mich ein. Aber der dreifache Schmutzrand in der Wanne lud nicht eben zum Bad und der Kleiderhaufen auf dem Fußboden nicht zum längeren Aufenthalt. Ich wusch mir nur das Gesicht, spülte meinen Mund aus und verließ die gastliche Stätte. Max nahm den Schlüssel mit ins Bad, und dann fand ich auch meine Schuhe unter dem Bett.
Eine halbe Stunde später läuteten wir mit einer Tüte voller frischer Semmeln an Ferdis Tür. Er wartete schon auf uns, frisch rasiert. Das Zimmer war gelüftet und aufgeräumt, der Tisch gedeckt, der Kaffee gefiltert. Es gab Honig, schottische Orangenmarmelade, Schinken und Camembert. So ein richtig gemütliches Frühstück unter netten Freunden als Anfang eines netten Sommertages … Ich konnte nur mit äußerster Überwindung eine Semmel runterwürgen, aber ich zwang mich dazu, weil ich wußte, daß ich heute meine Kräfte noch brauchen würde.
Wenn ich nur diesem Schneider das idiotische Interview nicht gegeben hätte! Wenn ich nur nicht so dick getönt hätte. Ich hatte mich nicht benommen wie ein unschuldiger Bürger – ich hatte mich aufgeführt wie ein hysterischer Querulant. Ich hatte nicht nur Gerstl angegriffen, sondern die gesamte Münchner Polizei, und wenn es heute früh noch einen einzigen Beamten im Präsidium geben sollte, der meinen Namen nicht kannte, dann war er dienstfrei und schlief noch.
Max hatte den anderen die Zeitung mitgebracht, und sie freuten sich wie die Kinder. Sogar Vitus brüllte vor Lachen, was ich bei ihm noch nie erlebt hatte; er kicherte im höchsten Falsett und wischte sich die Tränen aus den Augen. Ich hatte mir einen Gag einfallen lassen, und sie fanden mich auf einmal Spitze … Mein Gott, dachte ich – wieso habe ich nie gemerkt, wie primitiv, wie dämlich sie sind?
Dann räumte Ferdi den Tisch ab und stellte das Geschirr in den Ausguß. »Ich habe ein Rad im Keller«, sagte er, »und von unserem Hausmeister kann ich noch mal zwei leihen. Brauchen wir nur noch eines …« Er sah mich an.
Ich stand auf. »Ich kann mir eins kaufen.«
Ich war noch nicht bei der Tür, da hatte mich Max eingeholt. »Ihr kümmert euch solang um den Bus«, sagte er über die Schulter.
Der Fahrradladen, den wir zwei Straßen weiter fanden, gehörte einem alten Mann, der im Hinterraum noch selber Räder reparierte. Viel Auswahl hatte er nicht, aber ich fand eins, das mir gefiel. 160 Mark. Die Klappräder waren billiger, aber ich wollte ein richtiges Rad. Ich ließ mir den Sattel einstellen und zahlte mit einem ungedeckten Euroscheck. Es konnte gut vier Tage dauern, bis der Scheck bei meiner Bank ankam, und bis dahin war ich vielleicht schon in Rio. Oder im Knast.
Es war ein blaues Rad mit roten und silbernen Verzierungen, und die Chromteile funkelten neu und makellos und spiegelten den blauen Himmel und die hellen Häuser wieder. Ich hatte nur einmal in meinem Leben ein neues Fahrrad bekommen, mit zehn Jahren, von einem Onkel, der sich sonst wenig um uns kümmerte, und ich hatte es auch nicht lange behalten dürfen, denn beim nächsten Zeugnis bekam es mein Bruder. Ich empfand etwas von meiner kindlich überkippenden Freude wieder und auch von der melancholischen Ahnung, daß diese Freude nicht lange anhalten würde. Ich fuhr ein paar Schleifen auf dem Gehweg, probierte die Klingel aus, sang vor mich hin und bildete mir ein, daß dieses Rad nur dazu da war, um damit zum Baden zu fahren.
Vor Ferdis Haus parkte ein weißer Ford Transit. Die hintere Klappe war offen. Ferdi stand daneben und wartete auf uns. Er nahm mir das Rad weg, sah sich kurz um und warf es hinten in den Laderaum. Ich zuckte zusammen, als ich an die glänzenden Chromteile und den blauen Lack dachte. Dann setzte ich mich vorn zwischen Ferdi und Max; Vitus blieb hinten bei den Rädern.
Wir fuhren über Pasing und die alte Straße durch das Mühltal, weil man dort besser einer Polizeikontrolle ausweichen kann. Aber wir trafen nicht einen einzigen Streifenwagen. Die dichten Buchen ließen kleine, runde Sonnenflecke auf der Straße tanzen; die Würm plätscherte klar und grün und sah so aus, als gebe es keine Umweltverschmutzung. Na ja – ohne Mikroskop …
Ein altes Karman Cabrio überholte uns hupend; die jungen Leute darin winkten uns zu. Sie paßten in den Tag, wir nicht. Sie fuhren wirklich nur zum Baden; sie waren nicht unterwegs, um ein Alibi für einen Banküberfall zu basteln … Der Karman verschwand hinter der nächsten Kurve, und ich hockte noch immer in dem Ford Transit und wußte und verdrängte gleichzeitig, daß ich nicht hinter meiner Schreibmaschine saß, sondern – mein Gott, hoffentlich nicht im Wortsinne! – im Begriff war, die Maschinenpistole in die Hand zu nehmen. Ich wollte es nicht. Ich konnte es auch nicht verhindern. Ich fuhr mit ein paar netten Typen zum Baden, aber die netten Typen waren miese Ganoven, und wir würden auch nicht baden, sondern eine Bank …
Hinter Tutzing hatte ich den Einfall, daß es besser wäre, bis an die Osterseen weiterzufahren, da man dann noch weniger an die Verbindung mit der S-Bahn denken würde. Wir fuhren an dem riesigen Heerlager der Camper vorbei, auf dem die Wohnanhänger so dicht standen, daß eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem Wohnblock dagegen wie die Einsamkeit eines schottischen Hochlandschlosses wirken mußte. Ferdi schaltete in den zweiten Gang herunter, um sich durch das Gewühl halbnackter Menschen hindurchzuarbeiten. Dann bogen wir auf einen kleinen Feldweg ab, kamen ins Naturschutzgebiet und waren plötzlich völlig allein.
Wir holten die Räder heraus und trugen sie über ein kurzes Sumpfstück zu einem Dornengestrüpp, unter das wir sie legten; wir deckten sie noch mit ein paar Zweigen ab. Ferdi schmierte den Lenker meines Rades mit Lehm ein, weil er so blinkte, und damit unterschied sich mein neues Rad nicht mehr sonderlich von den anderen.
Auf dem Rückweg waren wir alle schweigsam und nervös. Ferdi fuhr zu schnell; Max schnauzte ihn an, und er fuhr noch schneller. Kurz hinter Starnberg kam uns ein grüner Polizei-VW entgegen, Ferdi trat ruckhaft auf die Bremse. Die Polizisten hatten nichts gemerkt. Den Rest der Strecke blieben wir unter fünfzig.
Nicht weit vom Olympiazentrum stellten wir den Ford ab. Max wischte Lenkrad, Schalthebel und Türgriffe mit einem Taschentuch ab; nicht besonders gründlich, wie mir schien, aber ich sagte nichts. Der Film lief weiter, und ich hatte an dieser Stelle des Drehbuchs keinen Text.
Im U-Bahnhof verglichen wir unsere Uhren. Es war halb eins. Um zwei machen die Banken auf … Am Feilitzschplatz stiegen wir aus. Die drei behielten mich wieder wie zufällig in der Mitte, aber ich war so schlaff und willenlos, daß ich auch ohne diese Bewachung mitgetrottet wäre. Wir gingen zu dem alten Haus, und während Max und Vitus die Straße beobachteten, schwang sich Ferdi über die Mauer. Alles, was sie taten, hatte etwas Endgültiges. Es brauchte ja nur jemand in einem der Häuser aus dem Fenster zu sehen und zu beobachten, wie Ferdi in das Haus einstieg … Wenn er es trotzdem tat, konnte das nur bedeuten, daß sie nicht vorhatten, das Versteck noch einmal zu benutzen. Vielleicht wollten sie die Beute sofort teilen, weil sie einander nicht mehr trauten. Man brauchte kein Krimiautor zu sein, um diese unnütze Anhäufung von Risiken zu erkennen, aber ich sagte nichts. Filme gehen immer gut aus.
Ferdi pfiff auf der anderen Seite. Max sah sich um, pfiff zurück. Ein grüner Campingsack erschien über der Mauer; Max fing ihn auf. Gleich darauf kam auch Ferdi. Wir gingen zum Drugstore, setzten uns an einen Fenstertisch und bestellten Hamburger. Der Sack lehnte unter dem Tisch zwischen Ferdis Beinen. Einmal kippte er zur Seite, und es klirrte metallisch. Die Maschinenpistole vermutlich … Es war dreiviertel zwei. Wir mußten zusammenlegen, um das Essen bezahlen zu können. Danach blieb noch ein Gesamtkapital von 80 Pfennig übrig. Wir machten Witze drüber, aber keiner hätte uns damit für die Silvester-Show engagiert.
In Ferdis Wohnung zogen wir uns um. Dunkle Jeans, dunkle Pullover, alles aus dem Campingsack. Ich bekam die Sachen von Dschako. Die Länge stimmte einigermaßen; im Bund mußte ich die Hose mit einem Gürtel festzurren – es sah ziemlich grotesk aus. Alles war grotesk: Die bürgerliche Ordnung dieser Schaufensterwohnung und die vier Gestalten darin, die sich wie zu einem Faschingsball mitten im Sommer in Pullover packten, schweigend, grunzend, höchstens mal den anderen nach einem Schuh oder dem Gürtel fragend. Vitus ging schamhaft ins Bad, als er die Hosen wechselte, die anderen hatten weniger Hemmungen. Neben dem Sack lagen die mexikanischen Strickmasken auf dem Teppich, ein Stück von der Waffe schaute heraus – das Magazin, vermutete ich; ich verstehe nicht viel von Maschinenpistolen. Eher von Schreibmaschinen … Nein, das war nicht die Realität. Es war Kino, und das Drehbuch war nicht von mir, denn das konnte nur ein Slapstickfilm aus den zwanziger Jahren sein. Ich bekam einen Lachkrampf, Max scheuerte mir eine – ich glaube jedenfalls, daß es Max war; meine Erinnerung an diese letzte Stunde ist nicht ganz zuverlässig –, und ich wurde wieder ruhig und konnte sogar zusehen, wie Ferdi die MP aus dem Beutel nahm, sie überprüfte und in eine Stoffhülle schob.
»Tüten!« sagte Vitus plötzlich. »Wir brauchen Tüten für das Geld.«
Ferdi brachte drei Plastiktüten, sorgsam zusammengefaltet, umweltfreundlich, und dann zogen wir los. Jeder hatte seine Maske und ein paar Wollhandschuhe in der Tasche, Vitus dazu noch die Tüten, und Ferdi trug die Waffe. Wir überquerten die Straße im hellen Sonnenschein. Kein Mensch drehte sich nach uns um. Wir stiegen in Ferdis VW und fuhren los. Am Max-Weber-Platz mußten wir bei Rot an der Kreuzung halten; ein Verkehrspolizist, der am Straßenrand stand, sah mir direkt ins Gesicht. Dann fuhren wir wieder weiter.
In der kleinen Straße an der Haidhauser Friedhofsmauer fanden wir einen Parkplatz und stiegen aus. Max und Ferdi gingen los, um ein Auto zu suchen. Vitus und ich standen an der Mauer, den grünen Sack zwischen uns, und warteten. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis zu reden, irgend etwas zu sagen, etwas Alltägliches; aber als ich das Gesicht von Vitus sah, ließ ich es bleiben. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere, und was immer er sehen mochte – mit mir, mit dieser Straße, mit der realen Umgebung hatte es wohl nichts zu tun. Ich fragte mich gerade, ob er wohl auch gerade in einer Filmrolle lebte, da bremste neben uns ein alter Opel. Ich schrak zusammen. Vitus drehte sich langsam um und stieg ein.
Jetzt saß Max am Steuer, Ferdi neben ihm; er hielt uns die Tür von innen auf. Max fuhr an. Er schien Schwierigkeiten mit der ausgeleierten Lenkung zu haben. Ferdi beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, sagte aber nichts. Dann nahm Max Gas weg – nicht zuviel; nicht auffallen! – und wir rollten an der Bank vorbei. Von meinem Platz aus konnte ich nur die Fenster erkennen, Plakate mit Bausparwerbung und Investmentfond-Angeboten und darunter kleine Spartiere aus Keramik – schon waren wir vorbei. Ich sah parkende Autos, eine dicke Frau, die schwitzend einen Einkaufskorb schleppte, eine junge Frau mit einem Zwillingskinderwagen und zwei Jungen mit Schulmappen, die an der Kreuzung auf Grün warteten. Max schaltete, das Getriebe knirschte, einer der Jungen rief uns etwas nach. Wieder eine Kurve. Ich merkte, daß Vitus meinen Arm umklammerte, konnte mich aber nicht mehr erinnern, wann er ihn gepackt hatte.
»Jetzt!« flüsterte Ferdi. Wir waren wieder vor der Bank.
Auch hier war es ein Eckhaus, und vor dem Eingang war natürlich Halteverbot. Max schrammte mit den Reifen gegen den Randstein und würgte den Motor ab, als er bremste. Während er nervös unter dem Lenkrad an losen Drähten fummelte, murmelte er etwas von »Scheißzündung«. Ferdi sah ihm einen Moment dabei zu, dann stülpte er sich die Maske über den Kopf und zog seine Handschuhe an. Ich hatte Mühe, die kratzigen Dinger über meine feuchten Finger zu bekommen, und als ich die Maske über den Kopf zog und den ranzigen Geruch von dreckiger Wolle und Schmieröl in die Nase bekam, wäre mir fast schlecht geworden. Die Maske war mir zu klein, ich konnte nicht richtig sehen und bekam beim Atmen dauernd Wollfusseln in den Mund. Vitus nahm wieder meinen Arm und zog mich aus dem Auto. Wir rannten. Ich stolperte, wurde aber von Vitus gehalten, sah einen Sekundenbruchteil unsere verzerrten Spiegelbilder in der Glastür, und dann waren wir drin.
Neben mir stand Ferdi. Er zerrte an der Hülle der MP, kriegte sie nicht runter, bekam endlich die Waffe frei, schrie schrill »Hände hoch!« und gab einen kurzen Feuerstoß ab. Ich sah helle Holzfetzen aus der Theke fliegen. Ich sah das erstarrte Gesicht eines pickligen Mädchens zwischen zwei halbhohen Milchglasscheiben, sah ein Stehpult mit Papieren und einen Gummibaum daneben, einen Mann in weißem Oberhemd und Hosenträgern, eine Frau und einen Pudel. Der Pudel begann hysterisch zu bellen. Ferdis Stimme übertönte ihn: »Keine Bewegung!« Vitus ging zu der Pickligen und hielt ihr die Tüten hin. Sie bewegte sich noch immer nicht. Der Pudel bellte wie wahnsinnig und erwürgte sich fast an seinem Halsband, die Frau sagte immer nur: »Pscht, pscht«, monoton und mechanisch. Ich entdeckte plötzlich noch zwei Leute hinter der Theke, einen jungen Mann mit langen Haaren und eine etwa dreißigjährige Frau mit fast weiß geschminktem Mund. Niemand bewegte sich, nur der Hund tobte. Ich schaute zu Ferdi hinüber und sah, daß er am ganzen Körper zitterte. Dann sah ich mich plötzlich selbst. Da war kein Spiegel. Ich stand da und sah mir zu, sah mich in einer viel zu weiten Hose, eine groteske Maske vor dem Gesicht, neben dem Gummibaum stehen. Ich sah Dschako an der Isar liegen. Ich sah, daß die Frau mit dem Hund Krampfadern hatte.
»Geld!« brüllte Vitus und fuchtelte mit den Tüten herum.
Das picklige Mädchen schien aus seiner Erstarrung zu erwachen, drehte sich halb um, nahm einen Packen Geldscheine hoch, hielt sie Vitus entgegen, ließ sie fallen, als er nicht sofort zugriff. Der Hund bellte immer noch. Die Maschinenpistole in Ferdis Händen zuckte hoch, und die Frau warf sich über den Hund. Ich schrie »Nein! Nicht!« und sprang zwischen Ferdi und die Frau. Ich hörte meinen eigenen Schrei nachgellen, spürte einen Schlag an der Schulter und dachte, jetzt hat er geschossen, und fuhr herum. Er hatte die Waffe gehoben und holte zum zweiten Schlag aus, seine bunten Wollfinger hielten den Lauf umklammert, und ich packte den erhobenen Arm. Er wollte sich losreißen, mich wegstoßen, aber ich hielt fest. Ich roch seinen Schweiß und hörte ihn keuchen, und ich ließ nicht los. Ein scharfer Schmerz schnitt mir ins Schienbein, ich zuckte zurück, riß Ferdi mit, hörte Klappern und sah die MP auf dem Fliesenboden liegen. Eine Alarmsirene heulte auf, jemand riß mich am Arm, ich sah Vitus mit den Tüten an mir vorbeilaufen. Ich drehte mich zur Tür um, rannte gegen die Glasscheibe und war draußen. Die Sirene heulte immer noch. Ich sah ein fremdes Gesicht, das mich anstarrte, sah die offene Autotür und warf mich hinein und landete auf Vitus. Der Wagen fuhr mit einem Ruck an, ich rollte herum, versuchte mich aufzusetzen und fiel wieder zurück, weil das eine Vorderrad einen Satz über die Rinnsteinkante machte. Jemand brüllte etwas – ich glaube, es war Ferdi; Vitus drückte mich in eine Ecke, ich saß endlich und konnte mir die Maske vom Kopf reißen. Die Sirene war immer noch zu hören und jetzt auch das näher kommende Martinshorn eines Streifenwagens. Als wir in die Straße am Friedhof einbogen, sahen wir ihn durch die Querstraße rasen.
Alle Parkplätze waren besetzt. Max mußte den Opel in der zweiten Reihe parken, und dadurch wurde die Straße so schmal, daß kein normales Auto mehr durchkam. Wir rannten zu dem VW. Ferdi setzte sich ans Steuer. Ich saß hinten mit Vitus, der immer noch die Handschuhe anhatte und die Tüte an sich preßte wie eine Mutter ihr Baby bei einer Katastrophe. Ferdi fluchte; ich sah erst jetzt, daß der VW von Vorder- und Hintermann so in der Parkreihe eingeklemmt war, daß er nur knapp zwanzig Zentimeter Spielraum hatte. Ein zweites Martinshorn jaulte ganz in der Nähe, Ferdi gab Gas; es krachte scheußlich, als die Stoßstangen aufeinanderprallten, und es knirschte, als sie sich wieder voneinander trennten. Nach zwei weiteren Versuchen war der VW halb auf der Straße. Hinter uns hupte ein Auto, Ferdi gab Gas und fuhr los. Ich sah aus dem Rückfenster, daß hinter dem Opel zwei weitere Autos standen; dann nahm Ferdi die nächste Kurve und ich fiel wieder gegen Vitus.
»Langsam!« schrie Max.
Ferdi nahm Gas weg. Am Wienerplatz war Rot. Eine Sekunde lang sah es so aus, als wollte Ferdi über die Kreuzung rasen, aber Max schrie wieder: »Rot!«, und er bremste.
Neben uns stand der Lieferwagen einer Wäscherei; der Fahrer schaute zu uns herüber. Ein Streifenwagen kam aus der anderen Richtung und zickzackte durch den sofort erstarrenden Verkehr. Der Fahrer des Lieferwagens sah interessiert zu; alle Leute sahen interessiert zu, nur wir starrten beschwörend auf die Ampel, die längst auf Grün stand. Als sie wieder auf Gelb sprang, war die Kreuzung frei. Ferdi ließ die Kupplung zu schnell los, der Wagen machte einen Satz nach vorn, und wir schafften es gerade noch.
Auf dem Ring hatte sich Ferdi wieder einigermaßen beruhigt, jedenfalls fuhr er normal. Immer noch sagte keiner etwas. Ich zerrte und zupfte mechanisch an den Handschuhen herum, und als wir vor Ferdis Haus hielten, hatte ich nur noch Wollfetzen in der Hand. Wir fuhren im Lift nach oben, und jeder schaute am anderen vorbei auf die gegenüberliegende Wand, als wären wir Fremde, die zufällig mit dem gleichen Fahrstuhl fahren.
In der Wohnung lagen noch unsere Kleider auf dem Teppich. Ferdi ging zum Bartischchen, goß sich ein Glas halbvoll Whisky und trank es aus. Dann fuhr er zu mir herum:
»Du blöde Henne! Jetzt ist die Knarre weg! Du saudämliche Kuh!«
Ich schwieg.
»Und deine Maske? Wo hast du die gelassen? Im Opel, ja? Mahlzeit!« Er drehte sich abrupt um, goß noch zwei Gläser voll und gab sie Max und Vitus.
Ich ging ins Bad, hockte mich auf den Wannenrand und heulte. In einem hatte Ferdi recht: Ich war wirklich eine saudämliche Kuh. Wenn ich den Mund aufgemacht hätte, als es noch möglich war – was hätte mir ernstlich passieren können? Den Kopf hätte er mir nicht abgerissen, dieser Gerstl. Und am Ende hätte sich bestimmt herausgestellt, daß ich nichts mit der Sache zu tun hatte … Wenn. Hätte. Wäre.
Jetzt war es zu spät.