Als ich wieder ins Zimmer kam, saßen sie in den schwarzen Fellsesseln und hatten volle Gläser in der Hand. Ich ging zum Barwägelchen und goß mir auch ein Glas voll.
»Du kannst ja wohl fragen«, sagte Ferdi giftig.
Ich nahm den ersten Schluck. »Ach, halt doch die Schnauze!« Ich kauerte mich auf den Boden, so weit wie möglich von den anderen weg.
Sie hatten alles weggeräumt; der grüne Armysack lehnte in einer Ecke, die Tüte war nicht zu sehen. Ich fühlte mich todmüde und schwach wie nach einer langen Krankheit. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich zu fürchten oder wütend zu sein.
»Glaub bloß nicht, daß du was abbekommst!« knurrte Ferdi. »Lächerliche Achttausend … Das haben wir dir zu verdanken.«
»Mir habt ihr zu verdanken, daß ihr nicht noch einen umgebracht habt«, sagte ich leise. »Und mit dem Geld könnt ihr euch von mir aus den Hintern abwischen.«
»Hört auf damit.« Max stand auf. »Wir müssen los, sonst ist unser Alibi im Eimer.«
»Es regnet sowieso bald …« Ich zeigte schadenfroh auf die dunklen Wolken am Himmel. Die anderen sahen auch aus dem Fenster. Dann deutete Vitus auf den Campingsack.
»Was machen wir damit?«
»Erst mal hierlassen.« Ferdi räumte die Gläser ab. »Darum kümmer ich mich nachher. Erst müssen wir nach Tutzing.«
Wir trotteten zur U-Bahn-Haltestelle und fuhren zum Marienplatz. Mit unseren Sauertopfgesichtern und unserer fröhlichen Unterhaltung fielen wir nicht sonderlich auf. Die S-Bahn war voll, und ich dachte mir, wie lustig es wäre, wenn uns einer sehen und erkennen würde.
Als wir in Tutzing ankamen, war es schon fast fünf, und am Himmel hatte sich eine dichte graue Decke zusammengezogen. Es war schwül und windstill, und der Weg zu unseren Rädern war lang und mühsam. Ströme von Ausflüglern mit erhitzten Gesichtern kamen uns entgegen. Im Gegensatz zu vorhin mußten wir hier, zu Fuß und in der falschen Richtung wandernd, garantiert auffallen … Ich war zu apathisch, um den Vorschlag zu machen, daß wir getrennt gehen sollten, und die anderen kamen nicht darauf.
Endlich zogen wir die Räder aus dem Dornengestrüpp. Ich war halbtot und hatte zwei Blasen an den Füßen. Aber das Radfahren war ganz angenehm. Ich konnte etwas tun. Etwas, das mich so anstrengte, daß ich nicht denken mußte. Außerdem ging es leicht bergab. Bis Starnberg fuhren wir zum Teil auf der Bundesstraße, stumpfsinnig hintereinander, und umfächelt von Auspuffgasen. Dann strampelten wir durch den Forstenrieder Park zur Isar hinüber und weiter in Richtung Grünwald. Auf der Höhe von Pullach fing es an zu regnen. Wir kamen an einer Bierkneipe vorbei, vor der mindestens zehn Autos parkten, und fast gleichzeitig fiel uns allen ein, daß wir vergessen hatten, bei Tutzing irgendwo in ein Lokal zu gehen, um uns ein Alibi zu besorgen … Daß mir das passiert war, fand ich nicht weiter verwunderlich angesichts meines augenblicklichen Zustands. Aber die anderen, die Ganoven, die ich erst für Rinaldinis, dann immerhin für Profis gehalten hatte – daß auch die … Nein, Profis waren das auch nicht. Es waren dumme Jungen, die sich im dunklen Wald verlaufen hatten. Mit einer Maschinenpistole. Und ich war samt meiner Schreibmaschine auch nicht viel intelligenter.
Wir standen mit unseren Rädern auf dem Parkplatz im Regen und sahen einem jungen Paar zu, das unter einem Mantel kichernd aus der Kneipe zu einem Auto rannte. Es hatte alles keinen Zweck mehr – weder zurückzufahren noch hier einzukehren und aufzufallen. Es war alles umsonst. Der Überfall lag zu lange zurück, und wir waren inzwischen zu nahe am Tatort. Das perfekte Alibi war geplatzt. Wir stiegen auf und fuhren weiter.
Der Vorderreifen von Vitus' Rad verlor Luft, er mußte alle halbe Stunde anhalten und pumpen. Keiner wartete auf ihn, aber er holte uns immer wieder ein. Als wir die Innenstadt erreichten, wurde es schon dunkel; die Autos fuhren mit Licht, und hinter den Häusern saßen friedliche Menschen vor dem Fernseher. Wär ja ein Witz, ging es mir durch den Kopf, wenn sie heute einen Krimi von Dora Kemper wiederholen … So richtig herzlich lachen konnte ich nicht bei dem Gedanken. Dann trat ich wieder stumpfsinnig in die Pedale. Meine Hände waren gefühllos; die nasse Hose hatte meine Beine aufgerieben, und ich konnte kaum noch sitzen.
An der Prinzregentenstraße bremste Ferdi und gab uns Handzeichen. Wir hielten; ich wäre fast auf Max aufgefahren. Er knurrte mich an.
»Wir trennen uns«, sagte Ferdi. »Vitus und ich gehen zu mir. Ihr beide geht zu ihr. Kann sein, daß die Bullen kommen; wir bleiben bei unserer Geschichte, ganz gleich, was kommt. Klar?«
Max nickte, aber ich sah ihm an, daß er in dem Moment zu allem genickt hätte. Wir stiegen wieder auf, und jetzt war auch mein Sattel naß und damit die letzte trockene Bastion verloren. Ich war den Stadtplanern dankbar für den Radweg, denn in meinem Zustand wäre ich unter das erstbeste Auto gekommen.
Vor meinem Haus wollte Max die Räder einfach stehenlassen, aber ich konnte ihn doch dazu bringen, mir dabei zu helfen, sie in den Keller zu schaffen. Dann stiegen wir hinauf. Vor der Tür fiel mir ein, daß meine Handtasche noch bei Ferdi in der Wohnung lag. Ich ging also wieder hinunter und läutete beim Hausmeister. Fernsehlärm – jemand sang eine Schnulze; kein Krimi von Dora Kemper – der Fernsehlärm hinter der Tür verriet mir, daß er wenigstens zu Hause war. Ich mußte dreimal läuten, bis er endlich aufmachte.
»Ach, Sie? Was ist denn mit Ihnen passiert?«
»Ich war am Starnberger See, mit dem Radl, und bin in den Regen reingekommen … Und meinen Schlüssel hab ich auch vergessen.«
»Ja so was …«
Er wollte offenbar ein längeres Gespräch beginnen, aber aus der Wohnung kreischte seine Frau, was denn los sei, und er entschloß sich, nur meinen zweiten Schlüssel zu holen und sich wieder zu seinem Weib zu gesellen. Ich stieg wieder nach oben und verfluchte den Architekten, der den Lift in dem Haus vergessen hatte.
Max stand nicht mehr vor der Tür. Ich schloß auf und ging hinein. Die Badezimmertür war offen, das Wasser lief, und Max zog sich gerade die Hose aus.
Ich sagte nichts. Ich hob einen Brief vom Teppich auf, legte ihn auf einen Stuhl, ohne ihn anzusehen, und ging auch ins Bad, um mich auszuziehen und heiß zu duschen. Wir standen beide unter der Brause, und jeder versuchte möglichst viel heißes Wasser abzubekommen. Ich verstand nicht mehr, was mich jemals an Max gereizt hatte; ich empfand nicht einmal Widerwillen. Nur vollkommenes Desinteresse.
Es läutete.
Ich stand immer noch nackt neben der Wanne, ein Handtuch in der Hand. Doppeltes anhaltendes Läuten. Die Polizei. Auch gut – bringen wir's hinter uns. Ich wickelte mir das Handtuch um die wesentlichen Partien und ging in den Flur. Hämmern an der Tür. »Ja doch, verdammt noch mal!« Ich riß die Tür auf.
Draußen stand Uwe.
»Endlich!« Er stürmte an mir vorbei in die Wohnung. »Mensch, Dora, wo warst du denn die ganze Zeit? Das ist ja furchtbar!«
»Was ist furchtbar?«
Ich stakste hinter ihm her, eine nasse Spur auf dem Teppich zurücklassend. Uwe wedelte um mich herum und folgte mir ins Schlafzimmer, wo ich mir trockene Jeans und ein T-Shirt aus dem Schrank holte.
»Na, was da in der Zeitung stand – das mit der Polizei! Warum hast du mich denn nicht angerufen? So was darf man sich doch nicht gefallen lassen!« Der Satz klang ungewohnt bei Uwe. Aber der nächste löschte ihn schon wieder aus. »Hast du denn wirklich nichts beobachtet?«
Ich drehte mich um und hielt das Handtuch fest, während ich die Jeans anzog. Uwe blieb mir auf der Pelle, aber keineswegs mit voyeuristischen Absichten.
»Wenn du was gesehen hast, mußt du es natürlich melden! Ich mein, heute ist ja schon wieder eine Bank überfallen worden! Das nimmt doch überhand! Das ist ja schon wie in Chicago!«
Ich war fertig und drehte mich um. »Würdest du bitte so freundlich sein und verschwinden? Sofort. Und für immer, ja?«
Er starrte mich sprachlos an. Sein Haar war ordentlich gekämmt, sein Kinn glatt rasiert trotz der abendlichen Stunde, seine Krawatte saß perfekt, und sein Hemd hatte nicht den Anflug eines Schweißrandes. Ich ging ins Wohnzimmer, er folgte mir.
»Was ist denn los mit dir?«
In diesem Augenblick kam Max aus dem Bad; naß, ein Handtuch um die Hüften gebunden. »Du, sag mal, kannst du mir was zum Anziehen geben?« Er übersah Uwe völlig, steuerte die Küche an und holte die Wodkaflasche aus dem Kühlschrank.
Uwes Unterkiefer klappte herunter.
Ich ging ins Schlafzimmer, nahm einen Bademantel aus dem Schrank und ging in die Küche. Uwes Blicke klebten wie kleine Spinnen auf meinem Rücken. Max hatte zwei Gläser mit Wodka gefüllt und gab mir eines, bevor er den Mantel anzog. Als ich mich umdrehte, stand Uwe in der Küchentür.
»So ist das also!«
Ich trank mein Glas leer, und Max schenkte mir nach. »Ist das dein Macker?« fragte er, als ob Uwe nicht dabei wäre.
»Er bildet sich's ein«, sagte ich. Uwe sprang vor und packte meinen Arm, ich schüttelte seine Hand ab. »Du weißt doch, wo die Tür ist.«
»Ich verlange eine Erklärung!«
»Mein Gott, wozu? Es ist Schluß – kapier das doch endlich! Es war schon Schluß, bevor es angefangen hat!«
»Ist er die …« Uwe deutete mit einer Maske theatralischen Abscheus auf Max: »Ist er die Begründung?«
»Soll ich?« fragte Max leise.
Uwe trat hastig zwei Schritte zurück. Ich musterte ihn mit dem gleichen Desinteresse, mit dem ich vorhin Max angesehen hatte.
»Erklärung«, sagte ich leise, »Begründung … Für dich ist das ganze Leben ein Steuerformular … Geh jetzt lieber, bevor du dir noch in die Hose machst.«
Max nahm die Flasche auf und hielt sie, als wollte er sie nach Uwe werfen. Uwe machte einen Satz und war im Flur draußen.
»Das paßt zu dir! Das ist typisch! Das hab ich schon immer …« hörte ich ihn noch, bevor die Tür zufiel.
Max grinste selbstgefällig und schenkte Wodka nach. »Dann versteh ich schon, warum du auf mich geflogen bist.«
»Du warst das perfekte Kontrastprogramm.« Ich nahm mein Glas und ging hinaus. »Dazwischen habe ich leider nichts gefunden.«
Ich schaltete den Fernseher an. Es lief noch immer kein Krimi von mir, sondern ein alter Film mit Eddie Constantine. Als er noch nicht ganz so alt war, bin ich mal bis nach Giesing ins Kino gefahren, um ihn zu sehen; jetzt fand ich alles nur albern und langweilig.
Max fuhrwerkte in der Küche herum und kam mit ein paar Wurstbroten zurück. Er setzte sich neben mich, ich rutschte ein Stück weg. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Achttausend Piepen … Weit geht's nicht damit.« Er biß in ein Brot. Es roch nach Knoblauch.
Ich stand auf und holte die Flasche aus der Küche. »Einer von euch hat mehr …« Hätte es etwas geholfen, wenn ich vorher versucht hätte, die drei mit diesem Argument gegeneinander aufzuhetzen? Dora, die Gangsterbraut … Nein, kaum. Wenn die achttausend auch noch verschwanden, würden sie's zum drittenmal miteinander probieren.
»Ich nicht«, sagte Max. »Wenn wir die achttausend teilen, dann kann ich mit zwei Riesen wenigstens bis nach Spanien trampen.«
»Du hast fast drei. Wenn dich die Bullen nicht vorher schnappen.«
»Durch dich?«
»Nein.« Ich starrte auf die Mattscheibe. Eddie legte eben drei Muskelprotze auf die Matte. »Ich glaub, das ist ungefähr das einzige, was ich immer noch nicht fertigbringe.«
»Wie dann?«
»O Mann, denk doch endlich mal nach! Sie haben den Opel; der Fahrer, der hinter ihm gehupt hat, konnte vielleicht Ferdis Nummer erkennen; ich hab in der Bank geschrien – also wissen sie schon mal, daß eine Frau dabei war. Überall sind Fingerabdrücke; im Ford zum Beispiel sind sicher noch welche. Und dann die Pleite mit dem Alibi – das Ganze stinkt doch von vorn bis hinten!«
»Quatsch! Was glaubst du denn, wie die Bullen arbeiten? Doch nicht wie in deinen Krimis … Der Ford? Kein Aas bringt uns mit dem in Verbindung. Der wurde gestohlen und wiedergefunden. Rocker, was sonst. Da kümmert sich keiner um Prints. Außerdem, einstweilen hatten sie noch keinen von uns in der Kartei – wir sind alle drei nicht vorbestraft. Und wenn sie wirklich unsere Abdrücke nehmen – mein Gott, wenn man ein Auto klaut, ist man doch noch kein Bankräuber, oder? Und das mit dem Alibi – das ist doch genauso ein Schmarrn! Wer hat denn schon normalerweise ein Alibi? Wir haben die nassen Räder im Keller. Wir decken uns gegenseitig … Wer kann uns denn was nachweisen?«
»Gerstl. Er ist leider nicht halb so blöd wie er dick ist. Und er wird jeden Augenblick hier aufkreuzen und uns in die Mangel nehmen. Und dann sind wir ganz schnell so klein, daß wir unterm Teppich Handstand machen können.«
Eddie hatte Schwierigkeiten, sich zwischen einer Schwarzhaarigen und einer Blondine zu entscheiden, die sein Pockengesicht beide unwiderstehlich fanden; er nannte die beiden »meine Silberzwiebelchen« und entzog sich der Situation durch Flucht. Max hatte zwar keine Pockennarben, glaubte aber auch fest daran, daß man alle Probleme durchs Bumsen lösen kann.
Ich stand auf und holte ein Glas saure Gurken aus der Küche. »Wir können gleich aufbleiben. Irgendwann kommen die Bullen garantiert.« Sie kamen nicht.