Kapitel 12

Vielleicht war es seine Hilflosigkeit, vielleicht aber auch meine Handtasche, die ich drin auf einem Fellsessel liegen sah – jedenfalls wurde ich aktiv. Ich schob Max zur Seite und ging in das Zimmer. Ich schaute nicht zu Ferdi hin und ich ging auch um den braunen Fleck auf dem Teppich herum. Als ich die Tasche hochnahm, sah ich, daß Ferdi gestern noch aufgeräumt hatte. Die Glasplatte war abgewischt, und nur noch zwei Gläser standen auf Untersetzern. Ich ging zu Max und stieß ihn an:

»Wir müssen hier weg.«

»Vitus!« Er stierte durch mich hindurch. »Ausgerechnet Vitus. Dieses Scheißgeld.«

»Max! Wir müssen weg!«

Sein Blick kam zu mir zurück. »Wieviel Benzin hast du noch drin?«

»Keine Ahnung. Nicht viel, glaub ich. Wir müssen tanken, wenn du weit …«

»Ich hab dem Kellner im Café schon meine Uhr geben müssen.«

»Ich kann ja mit einem Scheck bezahlen.«

»Gut.« Er drehte sich um und ging hinaus. Er ging so schnell, daß ich kaum hinterher kam.

»Was hast du vor?«

Max antwortete nicht. Er blieb nicht beim Lift stehen, sondern rannte vor mir her die Treppe hinunter. Im ersten Stock wurde er langsamer, lauschte, schlich weiter und schaute vorsichtig in die Eingangshalle. Sie war leer. Er ging zur Tür, sah sich nach beiden Seiten um, trat auf die Straße und lief zum Wagen. Ich blieb hinter ihm. Kurz bevor wir das Auto erreicht hatten, verschwand er plötzlich in einer Bäckerei. Ich bekam noch die zufallende Glastür gegen den Fuß, dann war ich auch drin. Draußen fuhr langsam der graue BMW vorbei, am Steuer Hofstetter, neben ihm Gerstl.

»Ja, bitte?« sagte hinter uns die Verkäuferin.

Max reagierte nicht. Ich drehte mich um und lächelte sie dümmlich an.

»Möchten Sie etwas kaufen?«

Ein anderer Kunde kam herein und lenkte sie ab. Max stieß die Tür auf und rannte zum 2 CV hinüber. Der Motor jaulte auf, und ich konnte mich gerade noch auf den rechten Sitz werfen, bevor Max aus dem Stand in der Straße wendete und fast einen Mopedfahrer rammte.

»Sie werden ihn noch nicht finden«, sagte er leise wie zu sich selbst, »jetzt noch nicht. Sie wollen ihn vernehmen, aber es ist niemand zu Hause … Wenn sie wiederkommen, dann brechen sie die Tür auf.« Er fuhr die Schleißheimer nach links und dann hinüber zur Theresienhöhe. Auf der Garmischer Straße hielt er an einer Tankstelle. Max stieg aus, um dem Tankwart beim Öffnen der klemmenden Motorhaube zu helfen. Dann deutete er auf mich. Ich hatte mein Scheckheft und die Scheckkarte herausgeholt.

Der Tankwart kam ans Fenster. »Zahlen müssen Sie an der Kasse.«

»Ich hab nur einen Scheck. Und ich kann nicht gehen. Ich hab meinen Fuß verletzt. Wären Sie so lieb und würden das für mich machen?« Ich schrieb einen Scheck über 25 Mark aus. Wenn man schon nichts hat, kann man auch großzügig sein.

Er nahm den Scheck etwas zögernd. »Quittung?«

»Brauch ich nicht.«

Er verglich die Nummer mit der auf der Scheckkarte und gab mir die Karte zurück. »Danke.«

Ich ließ mein Fenster runterklappen, und Max fuhr an.

»Was ist mit deinem Fuß?«

»Nichts.«

»Warum bist du dann nicht ausgestiegen?«

»Weil ich dachte, daß du dann ohne mich losfährst.«

»Ich dachte, du wolltest dauernd weg?«

Ich schwieg. Max hatte recht. Alles war aus. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Drei Menschen. Der Bankkassierer, von dem ich nicht einmal mehr den Namen wußte, Dschako und jetzt Ferdi. Drei Morde … Mord. Ein Wort, das so oft in meinen Büchern vorkam. Kein Krimi ohne Leiche. Aber das waren Leichen aus Papier. Dschako und Ferdi waren nicht aus Papier. Der Kassierer auch nicht, aber dessen Tod hätte ich nicht verhindern können. Bei Dschako und Ferdi hingegen … Ich hatte mir eingebildet, nichts zu tun. Ich hatte nicht begriffen, daß es das nicht gibt – nichts tun. Wer etwas unterläßt, der tut auch etwas, bewirkt etwas, setzt etwas in Gang. In dem Augenblick, in dem ich Gerstl zuerst angelogen hatte, war etwas in Gang geraten, in dessen Verlauf zwei Menschen sterben mußten. Nicht zwangsläufig – es hätte, anders ausgehen können. Aber ich war mitschuldig an ihrem Tod. Nicht im juristischen Sinn, aber … Oder doch? Was konnte ich tun? Wenn ich doch noch zu Gerstl ging, würden die beiden auch nicht wieder lebendig. Und ich steckte schon so tief in der Sache drin, daß es mir das beste schien, weiterzumachen. Vielleicht konnte ich noch einmal eingreifen wie in der Bank … Eine Heldentat war das auch nicht gewesen – reiner Reflex. Aber ich hatte Schlimmeres verhindert.

»Hast du noch Zigaretten?« fragte Max.

Ich steckte zwei Zigaretten an und gab ihm eine. »Wo fahren wir hin?« fragte ich noch einmal, und wieder bekam ich keine Antwort. Wir waren jetzt auf der Autobahn in Richtung Garmisch, das konnte alles mögliche bedeuten, auch Österreich oder Italien. »Willst du über die Grenze?«

»Ohne Geld?«

»Was dann?«

Er warf mir einen kurzen Blick von der Seite zu. »Du bist entschlossen, mitzukommen, was?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Willst du das wirklich wissen?«

Max versuchte einen Lastwagen zu überholen, aber der 2 CV schaffte es nicht. »Scheißkarre! Kannst du dir kein anständiges Auto leisten?«

»Mir langt es.«

Max gab auf und blieb hinter dem LKW. »Wahrscheinlich ist es sowieso zu spät. Er hat den Wagen von Ferdi.«

»Wofür zu spät?«

»Vitus. Sein jüngster Bruder hat auf einen Hof in der Nähe von Murnau geheiratet. Er war der einzige von seiner Familie, mit dem er sich manchmal getroffen hat. Er hat sogar eine Kammer in dem Haus, wo er wohnen kann, wenn er von der Stadt genug hat.«

»Und du meinst, dort ist er hin?«

»Irgendwo mußte er das Geld verstecken, in seiner Bude war es nicht.«

»Aber er hatte doch gar kein Auto.«

»Ich wußte nicht mal, daß er fahren kann … Vitus ist ein Spinner. Der setzt sich auch mit einer Plastiktüte und 100 000 heißen Mark in den Zug und fährt aufs Land.«

»Dann hat er auch Dschako …?«

»Ich versteh das nicht. Auf Vitus wär ich nie gekommen. Ich war sicher, daß es nur Ferdi sein konnte … Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, was er mit dem Geld will.«

»Das gleiche wie du vermutlich.«

»Nein. Nicht Vitus. Der nicht.«

»Ferdi war viel kleiner als Dschako. Und er hatte doch immer sein Messer bei sich. Wir hätten darauf kommen können, daß Ferdi ihn nicht mit einem Stein erschlagen haben konnte.«

»Und Ferdi hat gedacht, ich bin's gewesen. Er hat uns beobachtet, anstatt auf Vitus aufzupassen. Und Vitus mit seinem Predigergehabe, der war immer so harmlos und unschuldig.«

»Dschako wollte das Geld auf die Seite schaffen, und Vitus hat das gemerkt. Aber wie?«

»Dschako wollte superschlau sein. Er schaffte das Geld weg und rannte zu Vitus, um ein Alibi zu haben. Aber Vitus hat so eine komische Art, lügen kann man bei dem schlecht.«

Wir fuhren durch Starnberg und weiter auf der alten Olympiastraße nach Murnau. Die Straßen waren voller Touristen in Sandalen und kurzen Hosen, und vor den Geschäften standen Körbe mit Wasserbällen, kleinen Segelschiffen, Postkarten und Strohhüten. Kurz vor Murnau bog Max auf eine Nebenstraße ab. Wir kamen durch kleine Dörfer, es roch nach Kühen und Jauche.

»Wo genau ist denn der Hof von Vitus' Bruder?«

»Wirst du schon sehen.«

»Hier in der Nähe?«

Er grinste, ohne den Blick von der Straße zu wenden. »Wieso? Willst du rausspringen und die Bullen anrufen?«

»Traust du mir das zu?«

»Du denkst an nichts anderes.«

»Sie könnten in zehn Minuten einen Hubschrauber hier haben.«

»Möglich.« Er bog in einen schmalen, mistbedeckten Feldweg ein, wich einer Kuh aus und quälte den Wagen einen ziemlich steilen Berg hinauf. Dahinter fiel das Land wieder leicht ab; links begann der Wald, weiter hinten schimmerte der Staffelsee. Etwa fünfhundert Meter von uns entfernt lag ein Gehöft am Waldrand. Es sah heruntergekommen aus. Ein festes Wohnhaus, an dem wie eine Warze eine neue Betongarage klebte, eine Scheune und zwei lange, flache Ställe. Vor einem der Ställe stand ein heller VW.

Max stieß mit einem Zischen die Luft aus und ließ den 2 CV den Hügel hinunterrollen. Als wir auf den Hof fuhren, sprang uns ein schwarzer Zottelhund kläffend entgegen. In der offenen Tür des Wohnhauses erschien ein kleines Mädchen in einem viel zu langen Kleid, einen Finger bis zum ersten Gelenk in der Nase vergraben. Max stieg aus und ging auf das Mädchen zu.

»Ist der Vitus oben?«

Das Mädchen starrte ihn an.

»Der Vitus, der Onkel Vitus. Ist er drin?«

Das Mädchen nickte. Max war schon im Haus, ich rannte fast das Kind über den Haufen, als ich hinterherhetzte. Ein schmaler Gang, in dem ein hölzerner Puppenwagen stand, und eine steile Treppe nach oben. Irgendwo grölte ein Radio. Ich hörte Schritte auf der Treppe und lief hinauf. Im ersten Stock war es still. Ich sah drei Türen, aber bevor ich mich für eine entscheiden mußte, hörte ich über mir die Stimme von Vitus:

»Bleib stehen!«

Ich stieg weiter hinauf.

Hier gab es nur eine Tür. Sie stand offen, dahinter lag eine Mansarde, deren Decke die unverputzten Träger und Ziegel des Hausdaches bildeten. Die Wände waren weiß gekalkt, und bis auf einen massiven Holztisch, einen Stuhl und ein Bett war der Raum leer. Es sah aus wie in einer Mönchszelle. Mitten in der Zelle stand Vitus. Er hatte lange weiße Leinenhosen an und ein hüftlanges indisches Hemd. In der Hand hielt er eine prall gefüllte altmodische Ledertasche, wie sie früher die Landärzte hatten. Seine schwarzen Heiligenaugen waren fest auf Max gerichtet, der neben der Tür stand. »Bleib stehen«, sagte er noch einmal. Max bewegte sich nicht. Vitus lächelte sanft.

»Siehst du, ich habe Macht über Menschen. Es ist eine Gabe.«

»Dann versteh ich nicht, warum du Dschako umgelegt hast.«

»Es tut mir leid. Ich wollte es nicht. Er ist hingefallen, und er muß mit dem Kopf auf einen Stein gestürzt sein … Es war nicht mehr nötig; ich hatte ihn überzeugt.«

»Wovon? Daß wir das Geld nur für dich geklaut hatten?«

»Was hättet ihr denn damit gemacht? Autos, Mädchen, Schnaps. Ihr seid wie alle anderen.«

»Und du? Was willst du machen?«

»Es ist die Gabe. Ich muß sie nützen. Andere werden mir folgen. Wir werden alles verändern. Alles. Das Geld wird wertlos sein.«

»Dann kannst du es ja hierlassen.«

»Du verstehst nichts.« Seine Stimme klang sanft und einschläfernd. »Ihr alle habt nichts verstanden, ihr seid blind … Ferdi wollte mich sogar töten.« Er lächelte stärker, sah an Max vorbei und entdeckte mich. Das Lächeln verschwand. Er machte einen Schritt auf die Tür zu. »Ich werde jetzt gehen. Ihr könnt mich nicht halten.«

Max sprang. Wie ein Rugbyspieler griff er Vitus in Hüfthöhe an und riß ihn zu Boden. Vitus ließ die Tasche los, ließ sich widerstandslos fallen, nutzte den Schwung zu einer Rolle aus, erreichte die Wand, stieß sich ab und hatte Max an der Kehle. Max bäumte sich auf, konnte sich losreißen, kam auf die Füße. Vitus stand schon; er packte den Stuhl, hob ihn hoch und schlug ihn Max auf den Kopf. Max drehte sich weg, riß ihm den Stuhl aus der Hand und holte aus.

Ich schrie irgend etwas, hatte plötzlich die Tasche in der Hand und schleuderte sie gegen den Stuhl. Sie platzte auf, und ein paar Geldscheine flatterten heraus.

Vitus riß Max den Stuhl aus der Hand und trat ihm in den Bauch. Dann brüllte er: »Bubi!« Max lag auf dem Boden, grau im Gesicht, und krümmte sich vor Schmerzen. Vitus erwischte die offene Tasche und schwang sie gegen mich, als er an mir vorbeirannte; ich fiel hin, ohne zu spüren, wo er mich getroffen hatte. Max rappelte sich auf, sein Fuß war dicht vor meinem Gesicht, ich packte ihn und hielt ihn fest. Max schlug krachend hin. Schritte polterten auf der Treppe, dann sah ich kurz das Gesicht von Max über mir, ein Stuhlbein und nichts mehr.

Ich lag auf einem Sofa, das so kurz war, daß meine Beine über der Lehne hingen. Sonst spürte ich nichts. Erst als mir jemand etwas Nasses auf den Kopf legte und ich die Augen aufmachte, schnitt mir ein irrer Schmerz die obere Hälfte meiner Schädeldecke ab. Ich sah ein kräftiges Gesicht mit kurzem schwarzem Haar und sanften dunklen Augen, die denen von Vitus ähnlich waren.

»Ich bin der Bubi«, sagte das Gesicht. »Geht's wieder?«

»Was ist mit den anderen?« krächzte ich.

Bubi erneuerte die Kompresse auf meinem Kopf. »Der Vitus ist mit dem VW weg, und der andere ist hinterher.«

Kaltes Wasser lief mir in den Kragen. Ich setzte mich auf, was mir gar nicht gut bekam. »Mit meinem Auto?«

»Mit dem kleinen … Mit dem erwischt er den Vitus nicht mehr.«

»Haben Sie Telefon?«

»Nein.« Er lächelte. Vitus' Lächeln.

»Aber ich muß nach München!«

»Das hat noch Zeit.«

»Ihr Bruder hat zwei Menschen umgebracht.«

Bubi sah mich nachdenklich an und nickte dann langsam. »Der Vitus, ja. Der wird schon wissen.«

Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte, und Bubi sagte auch nichts mehr. Wir warteten, und allmählich ließ der Schmerz in meinem Kopf etwas nach. Ich war im Wohnzimmer. Vor der Eckbank stand ein runder Tisch, daneben das Sofa, auf dem ich saß. Es gab noch eine Kredenz, auf der ein Fernsehgerät aufgebaut war, und einen Kohlenofen, auf dem ein Topf Wasser vor sich hin simmerte. Trotzdem war es kühl.

Nach etwa einer halben Stunde stand der Bubi auf. »Ich fahr ins Krankenhaus. Da ist die Frau. Wir haben einen Sohn. Ich laß Sie an der Straße raus. Ein schönes Fräulein wie Sie nimmt jeder mit.«

Er ging hinaus, und ich folgte ihm, noch etwas wacklig in den Knien. Vor der Tür stand jetzt ein klappriger alter Lieferwagen; das kleine Mädchen saß schon drin, der Bubi stieg gerade ein. Ich mußte das Mädchen auf den Schoß nehmen, wenn ich auch sitzen wollte.

Dann fuhren wir los. Keiner von uns sprach. Das Mädchen bohrte immer noch in der Nase. »Wie heißt du?« fragte ich das Kind schließlich, aber ich bekam keine Antwort. An der Straße nach Murnau hielt der Bubi an, griff neben sich und holte meine Tasche hervor. Er gab sie mir, langte an mir vorbei und klinkte die Tür auf. Ich stieg aus und sagte: »Recht herzlichen Dank auch!« Es sollte ironisch klingen, kam aber offenbar nicht an. Die Kleine verzog das Gesicht und begann zu weinen. Ihre Nase lief, aber sie hatte keinen Finger frei. Sie streckte beide Arme nach mir aus und schrie:

»Bleim! Bleim!«

Bubi zog sie zurück, knallte die Tür zu und fuhr an. Ich sah noch ihr verheultes Gesicht an der Scheibe, das zu mir zurückschaute.