Kapitel 5

Es mußte inzwischen kurz vor zwölf sein, und noch immer war nichts passiert. Anita konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ihr Bauch hatte wieder zu schmerzen angefangen, und der Rücken tat ihr so weh, als würde er im nächsten Moment auseinanderbrechen. Es mußte gleich Mittag geben; sie alle würden ins Haus getrieben werden, und irgendein Wärter würde den Wagen von der Gärtnerei abfertigen. Und die Chance wäre sinnlos vertan … Es war schon egal, sie hielt es nicht mehr aus. Sie stand auf und streckte ihr Kreuz durch.

»Runter!«

Die Stimme kam automatisch, und Anita hockte sich automatisch wieder hin; aber die anderen waren auch müde, und vielleicht wäre nichts passiert, wenn sie stehengeblieben wäre. Und fast im gleichen Augenblick hörte sie das metallische Schnurren, mit dem das Stahltor aufglitt, und wußte, daß es doch noch nicht zu spät war. Sie zwang sich, nicht zurückzuschauen, jätete mit mechanischen Bewegungen weiter und lauschte auf das knatternde Motorengeräusch des auf den Hof fahrenden Lieferwagens.

Die beiden Wärter nahmen die Hacken an sich und gingen zu dem Wagen. Der Fahrer stieg aus und ging um den Wagen herum, um die Rückklappe herunterzulassen. Er war etwa 40, 45 Jahre alt, untersetzt, hatte eine Stirnglatze und hinkte leicht. Er trug einen dicken, offenbar selbstgestrickten Rollkragenpullover und einen blauen Overall.

»Frischerde und Jungpflanzen«, sagte er mit einer etwas heiseren Stimme und wuchteten den ersten Kasten aus dem Wagen.

Der Wärter nahm ihn ihm ab und stellte ihn an den Wegrand. Der Fahrer holte den zweiten; er schaute einmal zu den Frauen hinüber, dann arbeitete er weiter, ohne den Blick zu heben. Man konnte sehen, daß er es eilig hatte. Die Frauen hatten alle aufgehört zu arbeiten und glotzten zu dem Fahrer und dem Auto hin. Niemand beachtete sie.

Anita schob sich so unauffällig wie nur möglich zu dem Auto hin, brachte den Wagen zwischen sich und die anderen und wartete. Der Lieferwagen war klein, und anfangs hatte sie gedacht, daß ihr die kurze Zeit, die zum Abladen erforderlich war, nicht reichen würde. Aber jetzt erschien ihr die Zeit unendlich gedehnt, und sie spürte Müdigkeit in sich aufsteigen. Nicht die körperliche Müdigkeit von vorhin, sondern die Art von bleierner Schlappheit, die sie in den letzten Wochen schon fast als normal empfunden hatte und die sie dazu brachte, sich mit allem einverstanden zu fühlen, zufrieden zu sein, daß sie nichts aus eigener Initiative zu tun brauchte, daß alles für sie entschieden würde. Und das in einem Augenblick, in dem es auf den Sekundenbruchteil ankam, in dem sie präzise reagieren mußte …

Der Wagen war leer, der Fahrer übergab eben den letzten Kasten. Anita handelte, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, ohne überhaupt zu merken, daß sie handelte. Sie schob sich vor, zog sich hoch und rollte sich mit einer weichen Bewegung in den Wagen hinein. Unter ihr lagen Holzlatten, neben ihr alte Säcke. Sie zog die Säcke mit einer einzigen Handbewegung über sich und bewegte sich nicht mehr.

Sie hatte nicht auf die anderen Frauen geachtet, hatte nur zu den Wärtern hingesehen und war ziemlich sicher, daß keiner von ihnen sie beobachtet hatte. Eine der anderen Frauen? Aber selbst wenn – waren sie so schnell, daß sie begreifen, daß sie etwas sagen konnten, bevor das Auto draußen war? Kaum. Soviel sie wußte, konnten nur zwei von ihnen artikuliert sprechen.

Aber sie konnte sich auch irren.

Ihr Körper verkrampfte sich. Die Latten unter ihrem Rücken drückten; eine Kante preßte sich genau gegen ihre Bandscheibe, aber sie wagte nicht, sich zu bewegen. Was machten die nur so ewig da draußen? Sie konnte die Stimme des Fahrers hören, verstand etwas von »Lieferschein«. Dann war es wieder still. Plötzlich senkte sich der Wagen auf der linken Seite. Der Fahrer war eingestiegen. Der Motor sprang an. Der Wagen begann zu vibrieren. Dann fuhren sie.

Gleich darauf hielten sie wieder an.

Anita merkte, daß sie weinte. Sie biß sich auf die Zunge; der Schmerz half etwas. Draußen alberte der Fahrer mit dem Pförtner herum. Sie konnte die Stimmen hören, verstand aber nicht, was sie sagten. Beide lachten. Dann ruckelte der Wagen wieder an.

Sie waren draußen. Endgültig draußen, und nichts war geschehen.

Das Heulen der Sirene war schrill und laut und kam in einem Moment, in dem Anita schon gehofft hatte, es würde nie ertönen. In Wirklichkeit konnten sie kaum mehr als ein paar hundert Meter gefahren sein. Der Wagen hielt. Anita setzte sich halb auf und schaute hinaus. Die hohe Mauer mit dem grauen Gebäudeklotz dahinter schien zum Greifen nahe, aber die schmale Straße war leer. Noch. Wieder bewegte sich der Wagen, der Fahrer war ausgestiegen. Anita faßte unter sich und zog eine Holzlatte hervor. Sie ging in die Hocke und schob sich bis an die Rampe vor. Die Sirene heulte immer noch, auf- und abschwellend. Die Schritte des Fahrers waren nicht zu hören, aber plötzlich tauchte er in ihrem Gesichtsfeld auf. Er stand dicht neben dem Wagen und starrte zu der Mauer hinüber.

Anita schwang die Holzlatte zurück und ließ sie mit aller Kraft auf seinen Kopf sausen. Es gab ein widerlich berstendes Geräusch, und die Latte zersplitterte. Der Fahrer blieb stehen, als wäre nichts passiert. Er starrte immer noch zu der Mauer hin. Anita hielt immer noch einen Teil der Latte in den Händen, aber er war viel zu kurz, sie schaute zu dem Hinterkopf des Fahrers und sah dunkelrotes Blut zwischen den schütteren Haaren hervorquellen. Endlich bewegte er sich. Er drehte sich halb seitlich zu ihr herum, beugte den Oberkörper, als wollte er sich nach etwas auf dem Boden bücken, und sackte plötzlich zusammen. Der Sirenenton brach ab.

Von irgendwo näherte sich ein Auto. Anita kletterte über die Rampe und sprang von der Ladefläche. Sie hatte immer noch die abgebrochene Latte in der Hand. Der Fahrer bewegte sich nicht. Das Blut, das aus seinem Kopf drang, hatte die Haare durchweicht und floß auf den Asphalt. Anita ließ die Latte fallen und bückte sich zu ihm hinunter. Eine Hupe ertönte, sie schien sehr nah. Anita richtete sich wieder auf und lief nach vorn zur Fahrerkabine. Der Schlüssel steckte noch. Sie kletterte hinter das Steuer und zog die Tür hinter sich zu. Drehte den Schlüssel. Der Motor hustete und sprang an. Der Ganghebel klemmte, sie würgte ihn mit Gewalt bis zum Anschlag durch, ließ die Kupplung los und gab Gas. Der Wagen setzte sich langsam ruckelnd in Bewegung.

Jetzt konnte sie auch andere Autohupen heraushören, sie glaubte sogar schreiende Stimmen zu hören. Sie gab noch mehr Gas. Der Wagen wurde kaum schneller. Sie mußte den vierten erwischt haben. Der Plastikknopf des Ganghebels war glatt abgewetzt. Sie wagte es nicht, den ersten Gang zu suchen, starrte nur geradeaus und wartete, bis der Wagen endlich beschleunigte.

Wirkliche Angst empfand sie nicht mehr. Sie war draußen, und sie hatte den Wagen in Gang gebracht. Sie hatte einen Wagen, ein Auto, damit hatte sie nie gerechnet. Das Bild von dem Fahrer, der mit blutendem Kopf auf der Straße lag, tauchte vor ihren Augen auf; sie schaute hastig nach draußen, zu den Häuserblocks am Rand der Straße. Gesichter erschienen in den Fenstern, aber sie schauten alle nicht zu dem Lieferwagen, sondern in Richtung Mauer und Anstalt. Dorthin, wo eben noch die Sirene ertönt war und wo sich jetzt vermutlich Autos versammelten.

Der Wagen fuhr jetzt schnell genug. Und er beschleunigte weiter. Die Häuserreihe hörte auf, dahinter kam eine Kreuzung und dann Felder. Anita nahm etwas Gas weg. Sie war immer eine vorsichtige Fahrerin gewesen. Sie erkannte das Polizeifahrzeug, noch bevor sie die Sirene wahrnahm. Es bog mit quietschenden Reifen in ihre Straße ab und raste an ihr vorbei. Der Fahrer starrte auf die Straße, der Beifahrer bediente das Funkgerät. Wie in einer Momentaufnahme erkannte sie zwei junge, glattrasierte Uniformgesichter.

An den niedergeschlagenen Fahrer dachte sie jetzt nicht mehr. Die Straße, auf der sie fuhr, wurde etwas schmaler; sie schien kaum befahren. Am Rand waren Frostlöcher und vom Gras durchwachsene Risse im Asphalt. Auf der rechten Seite immer noch Felder. Weizen, Roggen, Klee und Raps. Sie kannte sich aus. Ihr Vater war auf einem Gut aufgewachsen. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte er ihr auf stundenlangen Spaziergängen geduldig und immer wieder die Erkennungsmerkmale der einzelnen Getreidesorten erklärt. Damals hatte sie das gelangweilt, und sie hatte es sich nicht merken können. Auf der linken Seite kam eine Schonung, Fichten, dann Wald. Ein Feldweg bog ab. Anita bremste ab und fuhr hinein.

Der Lieferwagen hoppelte über Buckel und Wurzeln. Sie fuhr langsamer. Außer dem Motorengeräusch war nichts zu hören. Keine Sirene. Sie konnte sich einbilden, allein auf der Welt zu sein. Aber lange würde es nicht dauern. Das wußte sie. Ihr Verstand arbeitete klar und genau. Auf der einen Seite war eine kleine Lichtung mit einem gezeichneten Holzstoß. Dahinter ein dichtes Schlehengestrüpp. Anita bremste noch mehr ab, lenkte den Wagen über die Wiese auf die Lichtung und auf das Gestrüpp zu. Es schien undurchdringlich. Erst als sie ganz nah davor war, entdeckte sie eine schmale Lücke. Sie hielt an und suchte den ersten Gang. Fuhr wieder an. Dornige Zweige kratzten gegen den Lack. Anita zuckte zusammen, fuhr aber weiter. Hinter dem Auto schlossen sich die Büsche wieder. Anita stieg aus.

Nach vorn war der Wagen jetzt völlig ungeschützt, aber es gab hier keinen Weg. Und nach hinten zum Weg hin deckten die graugrünen Schlehenbüsche den Wagen so gut wie vollkommen ab. Es würde eine Zeitlang dauern, bis sie ihn fanden. Sie konnte jetzt auch die anderen Geräusche hören, das Knacken der Tannen und das Tschilpen der Vögel. Sie sah nach oben. Der Himmel hatte sich bezogen. Sie fröstelte.

Anita begann, den Wagen zu durchsuchen. Hinten waren nur leere Kisten, Latten und alte Säcke. In der Fahrerkabine lag eine abgewetzte Tasche aus Skai mit zwei Abenteuerheftchen und einer Brotbüchse. Sie machte sie auf. Das Pergamentpapier war sorgsam zusammengefaltet und roch nach Leberwurst. Sie klappte das Handschuhfach auf. Ein vollgekritzelter Schreibblock mit Plastikdeckel, wie ihn Automobilclubs zu Weihnachten verschenken, eine Sonnenbrille im Etui, eine halbvolle Rolle Pfefferminzdrops, ein Eisschaber, zwei Lappen.

Und unter den Lappen in der hintersten Ecke die Pistole.

Sie war dunkelgrau und fettig und fühlte sich schwer und kalt an. Anita steckte sie in die Tasche ihres Kittels und stieg aus dem Auto. Die Pistole zog den Kittel herunter und schlug gegen ihr Bein, als sie loslief.

Sie bekam Seitenstechen und mußte stehenbleiben. Ihre Hand umklammerte die Pistole. Erschreckt zog sie die Hand zurück und holte die Pistole aus der Tasche. Sie war geladen und gesichert. Vorsichtig ließ sie sie wieder in die Tasche zurückgleiten.

Weiter vorn schien sich der Wald zu lichten. Sie ging langsam weiter. Bemerkte eine hölzerne Leiter, einen Jägerstand. Dahinter ein großes Feld mit einem Traktor. Er war so weit weg, daß sie das Motorengeräusch nicht hören konnte. Noch weiter dahinter konnte sie die Dächer einer Häuserzeile erkennen.

Plötzlich wußte sie nicht mehr, was sie hier wollte und wohin sie eigentlich sollte. Sie stieg die Leiter zum Jägerstand hinauf, die Pistole schlug immer wieder gegen die hölzernen Sprossen. Es störte sie nicht weiter. Als sie oben war, konnte sie den Wind spüren. Sie hockte sich in eine Ecke, zog die Beine eng an den Körper und schlang die Arme um die Knie.