Kapitel 6

Der Raum war voller Menschen. Christine suchte nach bekannten Gesichtern. Die Ragalls, die Maiers. Und den jungen Berger mit seiner neuesten Flamme. Die Lampen verbreiteten ein warmes Licht, obwohl es noch nicht ganz dunkel war, und betonten den warmen Schimmer der holzgetäfelten Wände. Das meiste hier hatte Gert selber gemacht. Er hatte in seiner Garage eine Werkstatt eingerichtet. Ilse kam ihnen entgegen.

»Da seid ihr ja … Oh, wie lieb – Gewürztraminer! Ihr hattet wohl Angst, ihr bekommt nichts zu trinken bei uns? Und die schönen Blumen!«

Sie küßte sie beide nacheinander auf die Wange und musterte Christines neues Kleid.

»Das ist ja irr! Ist das neu?«

Christine hob nur die Schultern. Ilse wandte sich strahlend einem jungen Mann zu, der eben hereinkam. Er sah gut aus, und Christine hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Vermutlich hatte sie ihn schon einmal bei Gert und Ilse getroffen, aber seinen Namen vergessen.

»Hallo, Frieder, fein, daß du doch noch gekommen bist!«

Aha, der also. Ein Kollege von Gert, hatte auch irgend etwas mit Physik zu tun … Sie gingen im Raum umher. Gesichter wandten sich ihnen zu. Christine genoß Momente wie diesen. Horst war gut gelaunt und charmant, und sie wußte, daß sie beide gut aussahen. Ihr Haar wirkte bei dieser Beleuchtung so gut wie blond, und in dem neuen dunkelblauen langen Samtrock mit dazu passendem Oberteil wirkte sie extrem schlank. Es hatte sich schon gelohnt, die letzten Wochen Diät (Dr. Atkins) zu halten; sie hatte fast acht Pfund abgenommen. Und Horst, dessen Gesicht normalerweise viel zu kantig war, um schön zu wirken, sah in seinem hellbraunen Cordanzug einfach umwerfend jung und schick aus. Er hatte sich sogar noch einmal rasiert. Als hätte er ihre Gedanken erraten, beugte er sich zu ihr hinüber und küßte sie leicht auf den Mund. Die Ragall schaute neidisch zu ihnen herüber. Der alte Glatzkopf, mit dem sie seit Jahrzehnten zusammenlebte, wußte wahrscheinlich gar nicht mehr, wie man eine Frau küßt. Berger ließ sein Mädchen stehen und kam zu ihnen. Es war auch wirklich eine ganz dämliche Pute, viel zu grell geschminkt und noch dazu in Jeans; es sah etwas albern aus. Sie war höchstens zwanzig.

Berger lächelte. »Sie wollen sich nicht zufällig scheiden lassen?«

Beide lachten, Horst legte ihr einen Arm um die Schulter, und dann gingen sie zu dem kalten Buffet, das an der einen Wand des Zimmers aufgebaut war.

Berger folgte ihnen. »Was möchten Sie trinken?«

Sie strahlte ihn an: »Wein.« Über seine Schulter sah sie diesen Frieder, der etwas verloren herumstand und sich umsah.

Berger gab ihr ein Glas Wein und schenkte Horst Bier ein. »Sagen Sie, Sie sind doch auch in der Werbung. Haben Sie diesen letzten Artikel in …«

Christine löste sich langsam von den beiden und schlenderte zur anderen Seite des Zimmers hinüber.

»Also, ehrlich, diese neuen Vorhänge, fabelhaft! Und alles selber genäht, ich könnte das nie!«

Das war die Maier, Ilse antwortete ihr und zwinkerte Christine zu, Christine machte ihr ein kleines Zeichen des Verstehens und ging weiter. Dieser Frieder sah aus der Nähe doch älter aus. Vielleicht sogar älter als sie, Mitte Dreißig. Sie blieb wie zufällig neben ihm stehen.

»Sie scheinen sich hier etwas verloren vorzukommen.«

Er fuhr leicht zusammen, drehte sich zu ihr um und grinste. »Sieht man mir das so deutlich an?«

»Würde Ihnen das etwas ausmachen?« Sie lächelte und trank aus ihrem Glas. Er musterte sie. Er war der einzige von den Männern, der einen Jeansanzug anhatte, aber sie mußte sich eingestehen, daß es ihm stand. Außerdem war das Hemd unter der Jacke handgewebt, dafür hatte sie einen Blick, und sie mochte diese Art von Understatement.

»Nicht unbedingt. Kennen Sie all diese Leute?« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die anderen hin, die sich jetzt um das kalte Buffet drängten.

»Ein paar schon.«

Sie bewegte das leere Weinglas zwischen den Fingern; er bemerkte es und sah sich um. Ging zu dem Tisch und kam mit einer vollen Weinflasche zurück. Es war der Elsässer, den sie mitgebracht hatten. Er sah auf das Etikett und machte die Flasche auf.

»Ich glaube, der ist ganz gut. Zu schade für die anderen.« Er lachte und schenkte ihr nach. »Wenn man denen zusieht, könnte man glauben, sie hätten seit Wochen nichts zu essen bekommen.« Er schenkte sich ein, sie stießen miteinander an und tranken. Er sah wirklich unheimlich gut aus.

Auf der anderen Seite wurde die Tür plötzlich aufgestoßen, und die Kinder kamen hereingerannt. Der Junge, Oliver, war neun, das Mädchen, Katja, sieben. Sie sahen beide sehr niedlich aus und hatten nicht wie üblich nur Jeans und T-Shirts an, sondern hatten versucht, sich auch ›fein‹ zu machen. Katja hatte einen langen Rock an und eine Bluse mit Stickereien und Ketten um den Hals und Oliver eine Samthose und ein gefälteltes Hemd. Es war klar, daß der Auftritt mit Gert und Ilse abgesprochen war, sie fing einen Blick von Ilse auf, der gleichzeitig besagte: ›Oje, die Unvermeidlichen!‹ und ›Sind sie nicht süß?‹ Christine lächelte zurück. Die Kinder, die einen Moment lang etwas gehemmt herumstanden, entdeckten das kalte Buffet und stürzten sich auf die diversen Salate und Hühnerbeinchen.

Christine schaute zu Horst hinüber, der neben Ilse stand und auch ihren Blick suchte. Sie grinsten sich zu. Es war ein gutes Gefühl. Horst würde vermutlich mit Ilse flirten und sie mit diesem Frieder neben ihr, aber zwischendurch würden sie immer wieder Blicke miteinander wechseln und sich verständigen. Sie gehörten zusammen.