Kapitel 8

Auf dem Plattenspieler schnulzte ein alter Song von Bing Crosby, und auf dem kalten Buffet waren nur noch Brot und Butter zurückgeblieben. Berger tanzte mit der Ragall, ihr Mann schnarchte in einem Sessel friedlich vor sich hin. Gert tuschelte mit der Freundin von Berger, die Maiers standen in der Nähe der Tür und diskutierten offenbar darüber, ob sie jetzt gehen sollten oder nicht. Ilse erzählte Horst zum vierten- oder fünftenmal unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß Gert im Bett eine Niete sei und daß die Ragalls sich schon dreimal hatten scheiden lassen wollen, aber jedesmal wegen der Kinder zusammengeblieben waren.

Soweit er wußte, waren die Kinder der Ragalls schon erwachsen. Ilse war betrunken. Er nickte ihr zu und tätschelte ihre Schulter. Christine konnte er nicht sehen, hörte aber ihr etwas überdrehtes Lachen in der Küche. Er sagte beiläufig, daß er gern einen Kaffee hätte, und Ilse kam bereitwillig mit. Christine stand gegen den Spülstein gelehnt und erklärte mit weit ausholenden Gesten ein exotisches Kochrezept. Dieser junge Mann, Frieder oder wie er hieß, hockte halb in sich zusammengesunken auf einem Küchenstuhl und stierte vor sich hin.

Ilse blieb etwas ratlos stehen. »Wer wollte Kaffee haben?« Horst antwortete nicht, er ging zu Christine hinüber, legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie aus der Küche.

»… findest du doch auch, daß meine chinesischen Gerichte besser sind als im Lokal«, murmelte sie etwas verwaschen. »Komm, wir gehen.« Er zog sie sanft in Richtung Tür.

»Will noch nicht gehen.« Sie machte sich plötzlich steif und blieb stehen.

Er senkte die Stimme, aber von den anderen beachtete sie sowieso keiner. »Komm schon, Gert und Ilse wollen auch schlafen gehen.«

»Aber ich doch noch nicht. Bin putzmunter.«

Ihre Stimme stieg an, wieder schaute er hastig zu den anderen hinüber. Er küßte sie leicht auf die Wange.

»Um ehrlich zu sein, ich fall gleich um …« Er bemühte sich um einen scherzhaften Ton: »Ich werde immerhin bald vierzig.«

Sie kicherte. Es war ein alter Witz seit seinem dreißigsten Geburtstag. »Stimmt, Alterchen, in fünf Jahren schon.«

Sie ließ sich gehorsam von ihm zur Tür bringen. Maiers waren verschwunden, ohne sich verabschiedet zu haben. Horst sah kurz zu Gert hin; der schien ihn nicht zu bemerken, und außerdem waren sie auch nicht so förmlich. Er legte Christine den Mantel um und öffnete die Haustür. Die Luft war kühl, und es regnete immer noch. Christine blieb stehen und holte tief Luft.

»Oje, ich glaub, ich hab ein bißchen zuviel erwischt.« Sie hielt sich an seinem Arm fest.

»Das haben wir alle«, sagte er, »aber wir können ja morgen ausschlafen.« Er zog sie zum Auto. Er schloß auf, half ihr, sich zu setzen, schloß die Tür und ging auf die linke Seite hinüber. Er ließ den Motor an und schaltete die Scheibenwischer ein. Die Heckscheibe war beschlagen, aber er war zu müde, um noch einmal auszusteigen.

»Komm, schnall dich an!« Er hakte seinen Gurt fest. Christine fummelte an ihrem Verschluß herum. Er half ihr. »War ein lustiger Abend.«

Die Scheinwerfer beleuchteten das Heck des Wagens vor ihm. Daß die aber auch immer so dicht aufeinander parken mußten, hier gab es doch weiß Gott genug Platz … Er kam mühsam aus der engen Parklücke heraus. Um die Zeit gab es kaum Verkehr; er trat langsam das Gaspedal hinunter.

»Weißt du, was dieser Frieder zu mir gesagt hat?« Sie kicherte. »Er denkt, ich bin jünger als er.«

»Na und?« Das Band der Straße vor ihm wurde von einer Reihe Alleebäumen eingerahmt. Er blendete auf.

»Du bist gut! Der könnte fast mein Sohn sein.«

»Ohne weiteres, wenn du schon mit fünf Jahren einen Sohn bekommen hättest.«

Sie ging nicht auf den Scherz ein, sondern sackte plötzlich in sich zusammen, starrte auch auf die Straße hinaus. »Fahr nicht so schnell.«

»Im Gegensatz zu dir bin ich ja noch völlig nüchtern.«

»Du hast ganz schön gebechert … Horst!«

Er schnaufte auf und nahm etwas Gas weg. »Hör mal, ich bin vollkommen sicher.«

Er gab sich Mühe, ruhig zu sprechen, um sie nicht noch mehr zu erregen. Es schien zu wirken, sie wandte den Blick von der Straße weg und schaltete das Autoradio ein. Er fuhr sofort wieder schneller.

»Aquaplaning«, sagte sie sorgfältig artikuliert und richtete sich wieder auf. »Bei so einem Wetter muß man besonders aufpassen. Vorsicht, die Kurve!«

»Ja, Schatz, ich hab sie gesehen.«

Er ging wieder vom Gas weg, sie drehte am Radio. Er faßte mit einer Hand in die Jackentasche und tastete nach der Zigarettenschachtel. Sie war immer noch mit dem Radio beschäftigt. Knistern, Rauschen; dahinter, kaum zu erkennen, Popmusik. Er hatte eine Zigarette aus der Packung gefummelt und steckte sie in den Mund, schaute kurz zu ihr hinüber. Sie suchte einen anderen Sender … eine Fahndungsmeldung der Polizei … Rauschen, Knarzen; sie drehte den Knopf weiter. Er zündete die Zigarette an.

»Du sollst doch nicht beim Fahren rauchen«, sagte sie, ohne vom Radio hochzusehen.

»Nur eine«, sagte er milde, »die Straße ist ja ganz leer.«

Sie hatte endlich einen Sender mit Musik gefunden, die ihr zusagte. Glenn Miller. Aber die Störgeräusche waren zu heftig.

»Geh doch auf Bayern 3 zurück; das ist der einzige, den man bei dem Wetter einigermaßen klar bekommt.«

Er hatte es kaum ausgesprochen, als es ihm auch schon leid tat. Sie waren beide nervös, und jetzt hatte er nur ihren Trotz geweckt. Prompt drehte sie den Knopf bis zum Anschlag in die andere Richtung weiter. Aber dann war auch ihr das Rauschen zuviel, und sie drehte ihn wieder zurück.

Nervenheilanstalt ausgebrochen. Anita Birgmaier wird beschuldigt, ihren Ehemann … – Rauschen, Knistern – … ermordet zu haben. Die Frau ist 34 Jahre alt, eins zweiundsiebzig groß, schlank und hat dunkles, leicht gewelltes Haar. Sie trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet … Rauschen. Er zog an seiner Zigarette, sie schaute vorwurfsvoll zu ihm hin.

Polizeidienststelle.

»Vielleicht läuft sie uns über den Weg«, lachte er, in der Hoffnung, sie abzulenken.

Sie drehte heftig an dem Knopf. »Du hast es mir versprochen. Du hast mir versprochen, daß du beim Fahren nicht mehr rauchst.«

»Okay, okay!« Er kurbelte das Seitenfenster herunter, zog noch einmal an der Zigarette und warf sie dann hinaus. Er glaubte das Zischen hören zu können, mit dem sie auf dem nassen Asphalt auftraf. »Und mach endlich die verdammte Kiste aus!«

Die scharfe Rechtskurve war plötzlich vor ihm. Er kannte die Strecke in- und auswendig, aber jetzt war er abgelenkt; er reagierte zuerst einmal überhaupt nicht. Die Pfosten der Seitenbegrenzung phosphoreszierten im Licht seiner Scheinwerfer. Sie schaltete das Radio aus und sah hoch. Zog scharf die Luft ein. Er tippte vorsichtig auf die Bremse, schaltete zurück. Die Kurve schien auf ihn zuzurasen. Die Metallpfosten flimmerten. Er riß das Steuer herum, spürte, wie der Wagen unter ihm zu schlingern begann, steuerte zu hastig gegen. Er konnte fast körperlich spüren, wie sie sich an ihrem Sitz festklammerte. So ist das also, dachte er, jetzt ist es aus. Wieder versuchte er, gegenzusteuern. Die Leitplanken waren jetzt so dicht vor ihm, daß er die kleinen Roststellen erkennen konnte. Das war’s dann also. Er war versucht, die Augen zu schließen, spürte im gleichen Augenblick, daß die Räder griffen, der Wagen brach nach rechts aus, er riß das Steuer herum, kam noch einmal gefährlich nah an die Leitplanken hin und hatte das Auto in der Gewalt. Er nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen langsam an der rechten Bankette entlangrollen.

Sie mußte die Luft angehalten haben, denn sie stieß sie jetzt mit einem hohen Pfeifton aus, der wie ein Schluchzen klang, und erst in diesem Moment fühlte er die Panik in sich aufsteigen, die Sicherheit, eben nur sehr knapp dem Tod entgangen zu sein. Wenn ihm ein anderes Auto entgegengekommen wäre … Der Schweiß brach ihm aus; er wischte sich automatisch über die Stirn. Schaute kurz zu Christine hinüber und legte ihr spontan eine Hand auf das Knie.

»Es tut mir leid.«

Sie drehte den Kopf, lächelte verzerrt und lehnte dann den Kopf an seine Schulter.

»Es war meine Schuld.«

Er nahm die Hand wieder ans Steuer und fuhr etwas schneller.

»Wir hätten ein Taxi nehmen sollen.«

»Wir hätten nicht streiten sollen.«

»Haben wir denn gestritten?«

Es war ein zaghafter Versuch, zu scherzen, zu seiner Erleichterung ging sie darauf ein: »Und dann hätten die uns sicher nicht mal ein Doppelzimmer in der Klinik gegeben.«

Er lachte mit, wußte zwar, daß es leicht hysterisch klang, war aber zu froh, um sich etwas daraus zu machen. Er drehte den Kopf und küßte sie leicht auf die Haare. Vor ihnen tauchten die ersten Häuser der Siedlung auf.

Er hielt vor dem Garagentor. Sie hatte schon die Hand auf der Klinke. Er zog sie zurück.

»Laß nur, das mach ich schon. Es regnet.«

Sie lächelte ihn an und warf ihm ein angedeutetes Küßchen nach, als er ausstieg, um die Garage zu öffnen. Er kam wieder zurück, stieg ins Auto und fuhr es in die Garage. Einen Augenblick lang blieben sie im Dunklen sitzen, er legte einen Arm um ihre Schultern.

»Ich danke dir«, sagte er leise.

»Wofür?« Sie küßte ihn.

»Daß es dich gibt.« Er lachte und küßte sie heftiger.

Sie machte mit, schob ihn dann ein Stück zurück und fuhr mit dem Zeigefinger über seine Nase und seinen Mund. »Ich liebe dich.«

Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber ihre Stimme klang ernst. Er räusperte sich. »Dann wär’s doch vielleicht an der Zeit, hineinzugehen, wo ein schönes weiches Bett auf uns wartet, oder?«

Sie kicherte, machte sich von ihm los und stieg auf ihrer Seite aus. Der Regen hatte sich zu einem dauerhaften Nieseln eingependelt. Er versuchte, dicht an der Wand zu bleiben, als er das Garagentor schloß. »Wenn wir reich sind, kaufen wir uns eine Villa mit automatischen Garagentüren und Verbindungsgang zum Haus.«

Sie rannte unter dem vorstehenden Dach zur Haustür hin und suchte nach dem Hausschlüssel in ihrer Handtasche. »Ich denke, wir sind schon reich?« Sie schob den Schlüssel in das Schloß und drehte ihn herum.

Er packte sie mit gespielter Brutalität von hinten und preßte sie an sich. »Wenn wir mit dem Reichtum das Haus abzahlen könnten, dann wären wir es wirklich …«

Sie stieß die Tür auf und hüpfte kichernd ins Haus. Er rannte hinter ihr her und knallte die Tür hinter sich zu. Sie zog ihren Mantel aus.

»Und das Gartentor?«

»Kann auch aufbleiben.« Er klopfte sich mit den Fäusten auf die Brust und knurrte. »Komm her, Weib!«

Sie lachte, wurde plötzlich ernst und runzelte die Stirn. »Merkst du was?«

»Was denn?«

Er stand dicht vor ihr, die Fäuste immer noch wie King Kong vor der Brust. Sie wandte den Kopf.

»Es zieht.«

»Kein Wunder bei dem Wetter.« Er wollte sie umarmen. Sie wich ihm aus. »Nein, irgendwo ist ein Fenster offen!«

»Na und? Komm.«

Sie wandte sich ab; er wollte sie packen, aber sie war schneller. Sie ging in den Flur und knipste das Licht an.

»Ich weiß aber, daß ich alle Fenster zugemacht habe. Ich mach immer alle Fenster zu.« Sie ging zur nächsten Tür, machte auch hier Licht an, sah sich um. »Aber es zieht – ich spür das ganz deutlich.« Sie ging weiter durch das Haus und machte in allen Zimmern Licht.

Er hatte keine Lust mehr, sie auf den Teppich zu legen, und ging in Richtung Küche.

»Ich hol mir noch ’n Drink. Magst du auch was?«

»Ja, mach eine Flasche Wein auf.«

Sie war jetzt im Schlafzimmer. Er zog die Küchentür auf. Sie hatte doch recht. Es zog, und zwar ganz deutlich. Er sah auf die offene Tür zur Bügelkammer und ging hinüber. Von der Küche fiel genug Licht herein, um das zersplitterte Fenster zu beleuchten. Er starrte es verständnislos an und drehte sich wieder um.

Sie stand hinter der halboffenen Küchentür und sah ihn an. Das erste, was ihm an ihr auffiel: die großen dunklen Augen. Die Pistole, die sie in der Hand hielt und deren Lauf auf seinen Bauch zielte, nahm er erst später wahr. Er lachte leicht auf.

»Könnten Sie die vielleicht auch woanders hinhalten?«

Sie bewegte sich nicht, starrte ihn nur an. Er machte einen Schritt nach vorn, sofort hob sich der Lauf der Pistole etwas. Er blieb stehen. Sie sah gut aus. Er mochte diese großen, schlanken, rehäugigen Typen. Sie wirkten immer so hilflos, und er konnte sich dabei als starker Beschützer fühlen. Er machte noch einen kleinen Schritt nach vorn, nur um sich zu beweisen, daß er keine Angst hatte.

»Bleiben Sie stehen«, sagte sie.

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er blieb stehen und sah ihr in die Augen. Auf dem Flur kamen Schritte näher. Christine erschien in der Tür.

»Die Fenster sind alle zu. Aber hier …« Sie bemerkte seinen Gesichtsausdruck und brach ab, sah sich um.

Die Pistole schwenkte leicht zu ihr hinüber. »Stellen Sie sich neben ihn.«

Christine bewegte sich nicht, starrte nur auf die Pistole und auf die Frau.

»Bitte«, sagte die Frau, »sonst muß ich wirklich schießen.«

Horst wußte plötzlich, weshalb ihre Stimme so gedämpft klang. Sie hatte gerade gegessen, sie hatte noch den Mund voll und schluckte jetzt hastig hinunter. Auf dem Küchentisch lag ein Brett mit Brot, daneben Butter, Käse und Wurst.

»Sie sind das also«, sagte er und wunderte sich, daß er noch immer keine Angst empfand. »Sie sind die Frau, die ihren Mann erschossen hat und aus der Klapsmühle ausgebrochen ist.« Einen Augenblick lang hatte er den Eindruck, als wäre sie zusammengezuckt, aber als sie sprach, klang ihre Stimme klar und ruhig, sie hatte offenbar runtergeschluckt.

»Sagen Sie ihr, daß sie sich rüber zu Ihnen stellen soll.« Christine stand immer noch in der Küchentür und starrte die Frau an. »Sind Sie völlig übergeschnappt!« schrie sie plötzlich. »Das ist mein Hosenanzug. Der ist völlig neu, ich hab ihn selber noch nie angehabt! Und der Pulli, das ist echtes Kaschmir … Ziehen Sie das sofort aus!«

Christine war wirklich wütend, so wütend, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er spürte Lachreiz in sich aufsteigen und sah zu der Frau hin. Sie schien ebenso überrascht wie er. Christine machte ein paar Schritte auf sie zu. Horst lachte trocken auf. Das Lachen wurde von einem ohrenbetäubenden Knall übertönt; die Klinker-platten vor Christines Füßen platzten auf. Sie sprang mit einem Satz zurück. Es roch scharf nach einer Mischung aus Rauch und Chemie.

»Mein Gott«, sagte er leise, »passen Sie doch auf!« Er beobachtete eine kleine Rauchwolke, die aus dem Lauf der Pistole stieg. Rauchende Colts, dachte er und merkte, daß der Lachreiz noch immer nicht ganz verschwunden war. »Ich dachte, die rauchen nur in den Hollywoodwestern so.«

Die Frau sah flüchtig auf die Pistole in ihrer Hand. »Waren Sie denn nicht bei der Bundeswehr?« Ihre Stimme klang beiläufig, als hätten sie sich auf einer Party getroffen und plauderten über Filme.

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin Pazifist. Und außerdem hab ich einen Bandscheibenschaden.«

Die Frau hielt die Pistole jetzt flach, als wollte sie sie ihm zeigen; der Lauf zeigte wieder auf seinen Bauch. »Eine automatische«, erläuterte sie nachdenklich. »Das hat mir mein Mann beigebracht. Er war verrückt nach Waffen.« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Er hat mich gezwungen, zu schießen und das alles zu lernen. Er hatte eine Sammlung. Ich mußte die Dinger immer putzen.«

Christine holte plötzlich Luft: »Sie ist es! Die aus der Klapsmühle! Die ihren Mann erschossen …«

»Halt den Mund!« zischte er ihr zu.

Die Frau lächelte. »Lassen Sie sie doch. Sie hat ja recht. Aber gegen Sie habe ich nichts. Ich möchte Ihnen nichts tun. Ich brauch nur ein bißchen Zeit …« Ihr Lächeln wurde breiter. »Und draußen ist es im Moment verflixt kalt.« Sie schniefte durch die Nase. »Hunger hab ich auch.«

»Klar«, sagte er verständnisvoll; »ich könnte auch was vertragen.«

»Bist du verrückt?« Christines Stimme kippte fast über. »Sie soll sofort verschwinden – oder ich rufe die Polizei!«

Die Frau bewegte kurz die Augen zu Christine hinüber. »Sie hat Angst. Sie erwartet, daß Sie den Helden spielen. Sie ist genauso dämlich, wie sie aussieht. Das nächste Mal schieße ich einem von euch ins Bein. Ich kann ganz gut zielen.«

»Das glaube ich Ihnen, ehrlich.« Er machte vorsichtig einen Schritt auf sie zu. »Ich finde, wir können in Ruhe über alles reden. Legen Sie das blöde Ding weg, und dann setzen wir uns hin und trinken einen Schluck. Okay?« Er war fast beim Kühlschrank angekommen, hob entschuldigend die Schultern. »Ich wollte grad eine Flasche Wein aufmachen.« Er hatte den Kühlschrank erreicht, und sie ließ es zu, daß er die Tür aufzog. Er hörte Christines Atem, sie wollte offensichtlich etwas sagen, er drehte ihr kurz das Gesicht zu, zwinkerte. »Kaltes Hühnchen ist noch da, und von der Pastete. Komm, hilf mir mal!«

Die Frau wich etwas zurück, so daß sie sie beide im Blickfeld hatte.

Christine hatte endlich kapiert. Sie kam zu ihm an den Kühlschrank und begann, drin herumzukramen. Er nahm die Weinflasche heraus, deutete mit dem Kopf zum Küchenschrank. »Der Korkenzieher ist da drin.« Die Frau nickte. Er öffnete die Schublade und nahm den Korkenzieher heraus. Christine räumte den Kühlschrank aus. »Kalt ist es hier!« Er schauderte etwas übertrieben. »Ich finde, wir gehen ins Wohnzimmer rüber und machen es uns gemütlich, hm?«

»Gehen Sie vor«, sagte die Frau.

Christine hatte ein Tablett vollgepackt, er hielt die offene Weinflasche in der Hand. Im Gänsemarsch gingen sie ins Wohnzimmer hinüber. Er stellte die Flasche auf den Tisch und zeigte auf den Schrank.

»Die Gläser sind da drin …«

Er bewegte sich vorsichtig auf den Schrank zu; die Frau ließ es zu. Einen Augenblick lang bildete er sich ein, sie lächle. Das Ganze war wie eine Szene aus einem Theaterstück … Mörderin? Lächerlich. Sie war eine Frau, und mit Frauen kannte er sich aus.

Direkt neben dem Schrank mit den Gläsern und dem guten Geschirr stand das Telefon. Es stand auf dem Boden, sie konnte es nicht sehen. Er hatte es fast erreicht. »Teller brauchen wir auch«, meinte er und zog die Schranktür auf. Sie verdeckte seinen Oberkörper. Er bückte sich blitzschnell und nahm den Telefonhörer auf. Notruf. 110. Er hatte die beiden Einser schon gewählt, als er merkte, daß er kein Freizeichen gehört hatte. Er tippte vorsichtig auf die Gabel, immer noch nichts. Hinter sich hörte er die Frau hüsteln.

»Na, finden Sie die Gläser nicht?«

Er richtete sich auf und sah zu ihr zurück. Sie nickte mit dem Kopf zu dem Telefonkabel hin, das sich über den Teppichboden ringelte bis zu der Anschlußbuchse in der Wand. Der Stecker war noch intakt, die Litze mit den herausgefaserten Drahtenden lag daneben.

In dem Moment drehte Christine durch. »Du Idiot!« schrie sie, ließ das Tablett fallen und stürzte sich auf die Frau.

Die Frau reagierte mit einem Reflex, holte mit der Hand aus, die die Pistole hielt, und traf Christine am Kopf.

Christine schrie auf und stürzte zu Boden. Aus ihrer Nase kroch ein dünner Blutfaden. Christine wischte sich über das Gesicht, starrte auf ihre Hand und sah ihn an. »Ich blute«, murmelte sie entsetzt; »sie hat mich verletzt …« Dann schrie sie: »Tu doch was!«

Er sah das blutverschmierte Gesicht, schaute wieder zu der Frau.

Sie hatte die Pistole etwas gesenkt. »Ich will Sie wirklich nicht töten«, sagte sie. »Ich will versuchen, Ihre Kniescheibe zu treffen. Ich glaube, das tut ganz schön weh.«

»Nein«, sagte er, »nein, bitte, nein, ich … ich …«

Er hörte seine eigene Stimme, zittrig und jammernd, konnte aber nichts dagegen tun. Er sah sich am Boden liegen, mit zerschmetterter Kniescheibe, spürte wieder den irren Schmerz, den er vor acht Jahren empfunden hatte, als er sich beim Skifahren den Meniskus verzerrt hatte, und konnte die kühle Überlegenheit von vorhin nicht zurückgewinnen. Er drehte sich wieder zum Schrank hin, um das unkontrollierte Zittern seiner Hände zu verbergen. Als er die Gläser herausholte, klirrten sie aneinander. Er stellte sie hastig auf den Tisch, wandte sich wieder um, nahm Teller aus dem Schrank, begann den Tisch zu decken, bückte sich nach den vom Tablett gefallenen Sachen, legte sie auf den Tisch, bemüht, der Frau das Gefühl zu geben, daß sie sich auf ihn verlassen konnte, daß es nicht notwendig war, ihn zu verletzen.

Christine hockte immer noch auf dem Boden, wischte immer wieder über ihr Gesicht, schaute zu ihm hoch. In ihren Augen standen Tränen, aber ihre Stimme klang nicht mehr ängstlich. »Du Feigling! Du Arsch, du feiger … Wenn sie mir den halben Fuß abschießt oder mich zusammenschlägt, dann ist dir das egal, wie? Aber dein Scheißknie, das ist wichtig! Fall doch gleich auf den Boden und leck ihr die Schuhsohlen …« Sie lachte schrill auf: »Es sind meine Schuhsohlen.«

Die Frau sah zu Christine, lachte plötzlich. »Sie drücken.« Sie streifte die Schuhe von den Füßen. »Tut mir leid wegen dem Hosenanzug und dem Pulli. Ich kenn mich da nicht so aus. Wenn ich alte Jeans gefunden hätte, dann hätte ich die genommen. Ehrlich.«

Christine sah zu Horst hin, dann zu der Frau.

Die Frau lächelte sie an. »Ich heiße Anita.«

Horst sah, daß Christines blutverschmiertes Gesicht plötzlich zu grinsen begann. »Steht Ihnen aber gut.« Sie stand langsam auf. »Ich heiße Christine.«

Die beiden Frauen sahen sich an; dann winkte Anita mit der Pistole. »Gehen wir ins Bad. Sie müssen sich ein bißchen waschen. Ich kann kein Blut sehen.«

Christine kicherte unterdrückt; die beiden Frauen gingen zur Tür, sie schienen ihn völlig vergessen zu haben. Horst schaute zu den Terrassentüren hin. Anita drehte sich in der Tür nach ihm um.

»Sie kommen auch mit … Na los!«

Er nickte ergeben und trottete an ihr vorbei hinter Christine her ins Bad hinüber. Christine lachte jetzt laut, sagte über die Schulter zurück zu der Frau:

»Ihm müssen Sie auch noch eins auf die Nase geben. Das braucht der schon lange.«