Kapitel 9

Sie saßen an dem runden Eßtisch, Christine mit dem Rücken zur Fensterwand, auf der linken Seite Anita, auf der anderen Horst. Anita hatte die Pistole neben ihrem Teller liegen und aß mit Appetit, so gelassen, als säße sie in einem Feinschmeckerrestaurant. Wenn jemand an dem Haus vorbeigekommen wäre und durch das Fenster hereingeschaut hätte, dann hätte er sicher angenommen, daß hier ein paar gute alte Freunde etwas feierten. Auf dem Tisch standen zwei Kerzenleuchter, das schöne Keramikgeschirr blinkte matt, und auf den Platten häufte sich alles, was Christine und Anita in der Küche noch gefunden hatten. Der hypothetische Fremde, der zum Fenster hereinschaute, hätte ferner angenommen, daß sich der einzige Mann in der Runde in einer beneidenswerten Lage befand. Er allein mit zwei schönen Frauen.

Christine hatte ihr Gesicht abgewaschen und sich ein bequemes Hauskleid angezogen. Die Schwellung an ihrem Kinn fiel bei dem gedämpften Licht kaum auf. Sie hob ihr Glas und prostete Anita zu. »Auf uns Frauen!« Sie nahm einen großen Schluck. Es war schon ihr zweites Glas, und sie begann schon wieder betrunken zu werden. Sie lachte. »Darf ich du sagen?«

Anita nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Glas, nickte und lächelte. »Klar. Ich finde, das Kleid steht dir gut. Ich meine, ich könnte so was nie tragen.«

Christine lachte geschmeichelt und hielt Horst ihr leeres Glas hin.

»Nichts mehr da.« Er zeigte ihr die leere Flasche.

Sie lachte laut auf. »Der Keller ist voll. Hol noch eine!« Sie wandte sich an Anita:

»Meinst du, wir können ihn allein in den Keller lassen? Wenn du ihm drohst, daß du sonst auf mich schießt?« Sie warf Horst einen abschätzenden Blick zu. »Er wird versuchen, zu fliehen. Hauptsache, er kann seine eigene Haut retten.«

»Aber ich will euch doch nichts tun!« Anita strich sich noch ein Brot. »Ich brauch nur ein Dach über dem Kopf, was zu essen und ein bißchen Zeit. Mehr nicht.«

Horst stand auf. »Ich geh in den Keller. Und ich komm wieder, keine Angst.«

Anita nickte und ließ ihn gehen. »Er wird nicht wegrennen«, sagte sie leise zu Christine; »er hat Angst, daß er später als Feigling dastehen könnte.«

Christine kicherte. »Genau. Es geht ihm gar nicht um mich, es geht ihm nur darum, was die Kollegen von ihm denken könnten.«

Horst hatte die Türen aufgelassen; sie konnten ihn herumpoltern hören, und es schien fast, als hantiere er absichtlich laut, damit Anita nicht auf falsche Gedanken kam.

Christine sah Anita fragend an. »Ist das eigentlich wahr, daß du deinen Mann erschossen hast?«

Anita nickte. »Ich habe ihn getötet«, sagte sie leise. Sie sah kurz auf ihr halbvolles Weinglas und trank es aus.

Christine sah zur Tür. Horst kam herein, er hatte eine neue Flasche in der Hand, setzte sich an den Tisch und entkorkte sie. Anita hielt ihm ihr Glas hin. Er goß es voll, dann das von Christine und sein eigenes. Sie tranken. Christine sah immer noch auf Anita.

»Ich hab in den Zeitungen davon gelesen. Du hast ihn erschossen und dann sein Gesicht zerkratzt. Ich hab auch ein Foto von ihm gesehen. Er sah gut aus.«

»Ich habe ihn getötet«, sagte Anita leise und trank von ihrem Wein.

Horst räusperte sich. »Aber man wird Sie nicht verurteilen. Sie waren doch zur psychiatrischen Beobachtung oder Untersuchung oder was. Ich meine, Sie haben doch einen Staranwalt, der wird Sie schon raushauen. Ich versteh wirklich nicht, wieso Sie da raus sind. Das macht alles doch nur schlimmer.«

Christine kicherte. »Ich kann das verstehen. Leihen Sie mir mal das Ding? Dann leg ich ihn auch um.«

Anita legte eine Hand auf die Pistole neben ihrem Teller. »Sie sollten nicht soviel trinken«, sagte sie. »Es ist schrecklich. Es ist viel schlimmer, als man sich vorstellen kann.« Sie hob den Kopf und sah Christine an. »Haben Sie das Foto noch?«

»Welches Foto?«

»Das von … von ihm. Von Boris … Ich meine, ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie er ausgesehen hat. Ich kann mir sein Gesicht nicht mehr vorstellen.« Sie sah wieder auf ihren Teller hinunter.

Christine beobachtete sie, kaute auf ihrer Unterlippe, sprang plötzlich auf und rannte zu ihrem Stuhl hin. Anita wollte herumfahren, wollte nach der Pistole greifen, da war Christine schon bei ihr und umarmte sie.

»Ist ja schon gut«, murmelte sie; »ist ja alles gut … Nicht mehr dran denken, ich laß nicht zu, daß sie dir was tun.« Sie hielt Anitas Kopf umklammert, drückte ihn gegen ihren Bauch und streichelte immer wieder über Anitas Haar.

Anitas Gesicht wurde mit einmal weich, ihre Augen wurden feucht. Sie legte einen Arm um Christines Hüften und hob die andere Hand zu ihrem Gesicht. »Es war furchtbar«, flüsterte sie. »Es war so grauenhaft, wie er da lag, in dem vielen Blut … Ich wünschte, ich könnte ihm erklären, wie das alles passiert ist …«

Christine beugte sich zu ihr hinunter, einen Augenblick lang blieben sie so, aneinandergeschmiegt, reglos.

Die Pistole lag neben Anitas Teller.

Horst sah auf die Pistole und auf die beiden Frauen. Er wußte, daß sie im Moment weder an ihn noch an die Pistole dachten. Er müßte aufstehen, vorspringen, die Waffe an sich bringen, sie überwältigen … Er blieb sitzen. Sah nur die beiden Gesichter. Das helle Haar von Christine, das dunkle von Anita. Die Gesichter, beide weich und sehr nahe beieinander. Es schien ihm, als wären beide Frauen fremd, auch Christine, als würden sie etwas erleben, von dem sie ihn absichtlich und boshaft ausschlossen … Er hustete laut und packte die Weinflasche.

»Na, darauf sollten wir doch noch einen trinken, oder?«

Sie lösten sich voneinander und lächelten ihn leicht verträumt an. Aber auch, als er ihre Gläser wieder füllte, hatte er den deutlichen Eindruck, daß sie ihn gar nicht wahrnahmen. Christine küßte Anita leicht auf das Haar, Anita strich ihr über die blutunterlaufene Stelle am Kinn, auf die sie sie vorhin mit der Pistole geschlagen hatte; dann ging Christine langsam zu ihrem Stuhl zurück. Horst hatte sie noch nie so gesehen. Er leerte sein Glas aus und schenkte sich hastig nach. Ihn hatte sie noch nie so angesehen. Er wäre gern aufgestanden und zu ihr hinübergegangen. Er hätte sie gern umarmt und mit ihr gesprochen und sie geliebt. Er nahm einen Schluck Wein. Sie gleich und hier auf den Teppich legen und sie bürsten, bis sie nur noch stöhnen konnte. Er stand auf, schwankte leicht und hielt sich an der Tischkante fest. Keine der beiden Frauen achtete auf ihn; sie hatten nur Blicke für sich. Er stieß sich vom Tisch ab und ging auf Christine zu. Packte sie von hinten und zog sie zu sich heran. Sie wehrte ihn ab – irritiert, nicht heftig, als würde sie ein Kind verscheuchen. Er packte sie fester und zerrte an ihr. Der Stuhl kippte, sie stürzte um, er fing sie auf und bettete sie unter sich auf den Teppich. Er sah nur noch ihr Gesicht. »Ich liebe dich«, flüsterte er und versuchte, sie zu küssen. Ihre Augen schienen ihn nicht wahrzunehmen, das Oberteil ihres Hauskleides war verrutscht. Er konnte ihren Brustansatz sehen. »Ich liebe dich …« Er preßte sein Gesicht auf ihre Haut, versuchte, mit einer Hand seine Hosen zu öffnen und abzustreifen. Nahm ihren Gegendruck wahr und empfand eine Gier, die er seit seinem ersten Erlebnis mit 13 Jahren vergessen hatte. »Ja, ja«, wimmerte er und versuchte, gleichzeitig an seiner Hose und an ihrem Kleid zu ziehen. Er spürte ihren Stoß und fühlte, daß sie unter ihm wegrollte, ohne zu begreifen, was los war.

»Spinnst du?«

Ihre Stimme ernüchterte ihn. Er hockte neben ihr auf dem Teppich, die Hose halb offen und auf die Hüften gerutscht, dazwischen seine hellblaue Unterhose sich vorwölbend. Sie stand auf und zog ihr Kleid zurecht.

»Du hast sie wohl nicht mehr alle!«

Er versuchte, im Sitzen seine Hose zu schließen, es gelang ihm nicht, er wollte aufstehen, stützte sich mit einer Hand ab, taumelte und fiel wieder auf den Boden zurück.

Sie lachte.

Sie stand über ihm und lachte. Und die andere lachte auch. Anita. Sie lachten beide. Mühsam stand er auf, drehte sich zur Wand und zog seine Hosen hoch.

Als er sich wieder umdrehte, saßen die beiden am Tisch. Dicht beisammen, die Pistole wie einen Blumenstrauß zwischen sich. Sie lächelten immer noch, schauten aber nicht mehr zu ihm hin, sondern stießen mit ihren frisch gefüllten Weingläsern miteinander an. Er schleppte sich auf seinen Stuhl, ließ sich fallen und steckte sich eine Zigarette an.

»Ha, ha«, sagte er, »sehr komisch, wirklich, zum Totlachen.« Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.

Die Frauen sahen kurz zu ihm hin. Sie hatten aufgehört zu lachen.