Anita behielt seine Hände im Auge. Sie zitterten. Sein Gesicht verriet nichts. Ein starrer Blick und ein dümmliches Grinsen. Seine Finger hielten eine neue Zigarettenschachtel; sie rissen nervös das Zellophan herunter und zupften an dem Silberpapier. Der Zeigefinger klopfte auf die Filter; als keine Zigarette herauskroch, half er mit den Fingernägeln nach. Endlich hatte er eine Zigarette draußen, steckte sie in den Mund und griff nach dem Feuerzeug. Es sah auf den ersten Blick so aus, als sei er nur mit dieser Zigarette beschäftigt und denke an nichts anderes.
Anita wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Die Wochen in der Anstalt hatten ihre Sensibilität geschärft, und ihre Angst. Sie wußte, daß der Mann kurz davor war, durchzudrehen, und daß nicht mehr viel fehlte, um ihn für jedes Wort unansprechbar zu machen. Sie spürte Christines Nähe neben sich, wußte, daß Christine sie die ganze Zeit über anschaute und keinen Blick für den Mann hatte. Sie zwang sich, nicht darauf zu achten.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise.
Horst hatte endlich die Zigarette angesteckt und sog hastig den Rauch ein. Er sah noch immer durch sie hindurch. Sie beugte sich über den Tisch und legte ihm eine Hand auf den Arm. Er zuckte zurück, schaute ihr aber endlich wieder direkt ins Gesicht.
Sie versuchte, seinen Blick zu fixieren. »Das wollte ich nicht, ich schwör’s Ihnen, es tut mir leid.«
Er sah sie ernst an, verletzt und voller Selbstmitleid, aber die unnatürliche Anspannung ließ sichtbar nach. Er zog an seiner Zigarette.
Sie nickte zu der Packung hin. »Bieten Sie mir auch eine an?«
Er sah von ihr zu den Zigaretten, dann lächelte er, schob ihr die Schachtel hinüber, wartete, bis sie sich eine Zigarette herausgenommen hatte, und gab ihr Feuer. Er mußte dazu halb von seinem Stuhl aufstehen, einen Augenblick lang waren sich ihre Köpfe nah, sie sah ihm in die Augen.
»Und ich?« quengelte neben ihr Christine. »Bekomm ich keine?«
Sie beachteten sie nicht, sahen sich nur an; dann ließ er sich langsam wieder auf seinen Stuhl sinken.
»Ich bin Horst, falls das noch nicht bekannt sein sollte.« Er warf einen Blick auf ihr leeres Weinglas, nahm die Flasche und schenkte ihr und sich nach. Christines Glas war auch leer; er überging sie, und sie sagte nichts.
Anita und Horst tranken. In seinem Blick war jetzt eine andere Spannung als vorhin; sie ließ ihn nicht aus den Augen und lächelte noch etwas intensiver. Er schien die Niederlage zu vergessen, oder zumindest hatte er ihre Entschuldigung akzeptiert. Die Art, wie er sie ansah, gefiel ihr, und es irritierte sie, daß es ihr gefiel. Sie redete sich ein, daß es nur deshalb war, weil er noch immer unsicher schien, noch nichts von seiner anfänglichen Überheblichkeit zurückgewonnen hatte. Abrupt stand sie auf.
»Schluß für heute!« sagte sie hart. »Ich bin müde und ihr zwei auch. Wir gehen schlafen.«
Christine kicherte nervös und stand auf, Horst blieb sitzen und sah sie weiter an.
»Und wie haben Sie sich … Ich meine, wie hast du dir das vorgestellt? Zu dritt in einem Bett?« Wieder kicherte Christine.
Anita nahm die Pistole auf und winkte mit ihr zur Tür. »Los, kommt.«
Jetzt stand auch Horst auf, sie sahen sich wieder an, dann ging er hinter Christine her zur Tür hinaus.
»In den Keller hinunter!« befahl Anita.
Christine wandte sich zur Kellertreppe und knipste das Treppenlicht an. Einen Moment zögerte sie, dann begann sie hinunterzusteigen. Horst folgte ihr.
»Du hast dich ja gut umgesehen«, sagte er.
Sie hörte eine gewisse Anerkennung aus seiner Stimme heraus. Er sah gut aus von hinten. Groß, schlank, mit gewelltem Haar, viel jünger als von vorn. Sie widerstand dem Impuls, ihm von hinten über die Haare zu streichen und sich bei ihm zu entschuldigen. »Geradeaus«, sagte sie.
Aber Christine hatte die der Treppe gegenüberliegende Tür schon aufgeklinkt. Wieder knipste sie das Licht an. Der Kellerraum war als eine Art Bar eingerichtet; eine selbstgebastelte Theke an einer Seite, Basthocker davor, zwei über Eck liegende bunt bezogene Matratzen und zwei marokkanische Sitzkissen. An der gegenüberliegenden Wand eine kleine Staffelei mit einem angefangenen Ölbild und einem Brett mit eingetrockneten Farben.
Die beiden blieben mitten im Raum stehen und schauten sich nach ihr um. Sie deutete mit der Pistole auf das schmale drahtvergitterte Fenster dicht unter der Decke. »Das ist zu schmal, ihr kommt da nicht durch. Wenn ihr das Fenster einschlagt und Krach macht, dann hört euch hier in der Gegend keiner. Aber ich höre euch. Und ich hab eh nichts mehr zu verlieren.«
»Aber, hör doch, äh …« Horst hob wie beschwörend die Hände: »Anita, ich dachte, das wäre alles geklärt. Wir wollen dir doch helfen. Wir sind auf deiner Seite!« Er sah hilfesuchend zu Christine hinüber.
Die hob nur die Schultern. »Ihm darfst du nicht glauben. Er lügt, wenn er den Mund aufmacht. Aber verlaß dich auf mich. Ich werd ihn daran hindern, irgendwas zu unternehmen.«
Anita lächelte. »Ihr könnt nichts unternehmen. Nicht von diesem Raum aus. Sie wich in die halboffene Tür zurück. »Wenn ihr pinkeln müßt, dann nehmt den Eiseimer aus der Bar.« Sie schloß die Tür und drehte den Schlüssel um. Einen Augenblick blieb sie noch dicht an die Tür gelehnt stehen und lauschte nach innen. Es war eine massive Stahltür, sie ließ kein Geräusch durch. Anita stieg die Treppe hinauf.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer knipste sie überall das Licht aus, dann zog sie sich aus und ging ins Badezimmer. Sie spürte den Wein, den sie getrunken hatte, und fühlte sich fast heiter und gelöst. Sie ließ heißes Wasser in die Wanne und gab etwas aus der grünen Plastikflasche dazu, die auf dem Wannenrand stand. Das Wasser begann zu schäumen und teuer zu duften. Sie kletterte in die Wanne und ließ sich langsam in das höher steigende Wasser sinken. In einem Körbchen lag ein dicker Naturschwamm, sie nahm ihn heraus, tauchte ihn ins Wasser und begann ihre Haut abzureiben. Fast spürbar begannen sich ihre Muskeln zu lockern; sie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Sie würden unten im Keller hören, daß sie ein Bad nahm, aber sie konnten nichts unternehmen. Sie war sicher. Sie hatte alles untersucht, als sie noch vollkommen nüchtern und klar war. Als sie sich noch nicht sicher fühlte und als ihre Reflexe noch auf Flucht eingestellt waren. Es war ihr Haus, und sie würde genug Zeit haben, um … Sie riß die Augen auf. Sie durfte nicht in der Wanne einschlafen. Sie stand auf, ließ das Wasser ab und duschte gleichzeitig. Dann stieg sie aus der Wanne. In dem beschlagenen Spiegel sah sie sich selbst. Die Haut war leicht gerötet, aber wieder sauber. Sie hatte wirklich eine gute Figur, und durch die Unschärfe der bedampften Scheibe war auch die Müdigkeit in ihrem Gesicht nicht mehr zu erkennen. Sie lächelte, und ihr Spiegelbild lächelte verschwommen zurück. Sie war schön.
Sie legte sich nackt ins Bett und genoß das fast erotische Gefühl der weichen Leintücher. Keine durchhängende Matratze, kein kratzendes Anstaltsnachthemd, keine scheuernden Lederriemen an Hand- und Fußgelenken. Der fahl gestrichene Schlafraum mit den anderen Frauen schien weit weg in der Vergangenheit zu liegen. Die Zeit davor war plötzlich näher …
Das französische Bett in dem Eckzimmer der gemütlichen Altbauwohnung direkt am Park. Die Einbauschränke mit den Lamellentüren, die weißen Bücherregale. Die halboffene Schiebetür zu seinem Arbeitszimmer, in dem noch Licht brannte. Ab und zu das Rascheln von Papier, wenn er eine Seite umblätterte. Das Gefühl, daß alles in Ordnung war und daß sie doch jetzt einschlafen könnte. Dann plötzlich das Ratschen, mit dem er seinen Stuhl zurückschob, und seine Schritte … Sie rollte sich wie ein kleines Kind zusammen und zog die Decke über den Kopf. Sie konnte seine näher kommenden Schritte trotzdem hören. Verkrampfte sich. Wartete. Hörte durch die Decke hindurch, wie er den Reißverschluß seiner Hose aufzog und die Schuhe polternd abstreifte. Dann sackte die Matratze hinunter, er legte sich neben sie. Immer noch bewegte sie sich nicht, hoffte, daß er selber müde war oder daß er ihren Schlaf respektieren werde. Sie spürte, wie sich seine Hand unter der Decke zu ihr hintastete, nicht nach ihrem Kopf, sondern nach ihrer Hüfte, und als er sie gefunden hatte, weiter zwischen ihre Beine. Sie drehte sich weg und verriet dadurch, daß sie noch nicht schlief. Er lachte triumphierend auf und rollte sie zu sich herüber, als wäre sie ein Ballen besonders preisgünstiger Baumwolle, den er eben erstanden hatte. Sie wehrte sich, flüsterte leise die üblichen nutzlosen Beschwörungsformeln. Er lag schon auf ihr drauf, lachte immer noch und drückte ihre Beine auseinander. »Ich weiß, daß du das magst«, begann er zu keuchen. »Du Hure, du widerliches Miststück …« Sein Atem ging immer schwerer, seine Worte wurden unverständlich. Sie wehrte sich noch immer, aber das nahm er jetzt nicht mehr wahr. Er preßte sie gewaltsam hinunter und hielt sie so fest umklammert, bis er fertig war.
Er schlief. Seine Wimpern waren fast farblos; unter seinen Lidern schimmerten kleine Äderchen. Die Unterlippe hing schlaff herunter, ein dünner Speichelfaden lief am Kinn entlang. Sie schluchzte auf und warf sich über ihn, um sein Gesicht zu zerkratzen. Die Haut gab seidig unter ihren Fingernägeln nach …
Sie stierte verständnislos auf den Kopfkissenbezug zwischen ihren Händen. Sie warf sich auf den Rücken und starrte zur Decke hinauf. Sie hatte geschlafen, und sie hatte geträumt. Sie mußte versuchen, an etwas anderes zu denken. Hinter den Vorhängen begann es hell zu werden. Irgend etwas Angenehmes. Wie sie sich kennengelernt hatten. Nein, überhaupt nicht mehr an jene Zeit und an Boris. An morgen. An das, was sie tun würde, um ihnen zu entkommen … Sie begann lautlos zu weinen und schlief wieder ein, ohne es zu merken.