Im Garten lärmten die Vögel. Es mußte also schon hell sein. Christine konnte sich trotzdem nicht entschließen, die Augen zu öffnen oder gar aufzustehen. Ihre Kehle war ausgetrocknet, und sie hatte scheußlichen Durst, aber die kleinste Bewegung würde sie endgültig vom schützenden Schlaf trennen und sie der Wirklichkeit aussetzen. Einer unangenehmen Wirklichkeit. Sie schwitzte und spürte das Kratzen einer rauhen Decke an ihrem Gesicht. Irgend etwas war passiert … Die Party. Zuviel Wein. Sie lag nicht in ihrem Bett … War sie vielleicht bei Ilse auf der Couch? Nein, sie waren noch heimgefahren; Horst hatte beinahe die Leitplanke … Dann war alles wieder da.
Die Frau. Die Pistole.
Christine blinzelte und setzte sich halb auf. Ihr Kopf schmerzte, und vor ihren Augen tanzten bunte Punkte. Sie war noch angezogen und lag im Keller auf einer Matratze; auf der anderen lag Horst, unter einer Decke zusammengerollt, einen Fuß in einer braunen Wollsocke herausgestreckt. Er schnaufte vor sich hin wie ein Kind, das zwar Schnupfen hat, aber friedlich und tief schläft. Er pennte wie ein Sack, während oben in ihrem Haus diese Irre hockte und darauf lauerte, sie beide abzuknallen. Wütend stieß sie mit dem Fuß nach der braunen Socke. Der Fuß verschwand unter der Decke, das Schnaufen veränderte die Tonlage.
»Horst, verdammt!« Gegen ihren Willen hatte sie die Stimme gesenkt, aber die Wut war stärker. »Horst!«
Er brummelte und wälzte sich herum. Hustete, räusperte sich, hustete heftiger und machte Anstalten, wieder einzuschlafen.
Christine sprang auf, blieb einen Moment lang etwas schwankend stehen und warf sich dann auf das friedlich schnaufende Deckenpaket. »Horst, wach doch auf … Mist, verdammter!« Sie rüttelte ihn, zog die Decke weg und zerrte an seiner Schulter. Er versuchte, ihr auszuweichen, knurrte, schnaufte auf und hustete wieder. Sie stieß und schubste ihn heftiger. »Horst, wach auf!« Er stöhnte und drehte sich um. Unter seinen Augen klebten gelbe Bröckchen; auf seiner Backe zeichneten sich die Falten des grobleinenen Couchkissens ab, auf dem er gelegen hatte, aus dem Mundwinkel lief ein schmaler Speichelfaden. Christine hockte sich neben ihn und starrte ihn an. Ihre Augen begannen zu brennen. Sie schlug ihn mit aller Kraft ins Gesicht. Er fuhr plötzlich hoch, schaute sich einen Augenblick lang verwirrt um, griff an seinen Kopf und sank wieder zurück. »Horst …« Diesmal flüsterte sie.
Er nickte mit geschlossenen Augen. »Ja, ich weiß, ich weiß.«
Er seufzte auf und hielt schützend die Hand vor die Augen; dann hob er den Arm, tastete nach ihr und zog sie zu sich herunter. Sie schluchzte und klammerte sich an ihn. So blieben sie eine Zeitlang liegen, schweigend, dicht aneinandergedrängt. Horst drückte kleine Küsse auf ihr Haar, und Christine wurde ruhiger. Bis sie merkte, daß er versuchte, mit dem Kinn ihr Gesicht zu sich herumzudrehen, um sie auf den Mund zu küssen. Sie schob ihn zurück. Er hielt sie fester und strich mit der Hand über ihren Rücken, ohne die Augen zu öffnen. Sie machte sich mit einem Ruck los.
»Kannst du nicht wenigstens ein einziges Mal an was anderes denken?!«
Er rieb sich die Augen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, sah sie an und versuchte ein Grinsen. »An was denn?«
»An diese Irre da oben, die in unserem Bett liegt mit ihrer Pistole.«
»Tja …« Er grinste stärker. »Entweder hat sie ein Nachthemd von dir an, oder sie schläft nackt.«
Christine holte aus, um ihn wieder zu schlagen, aber mit einem erstaunlich schnellen Reflex schnappte er ihre Hand und verdrehte das Gelenk. Sie schrie auf. Er schüttelte leicht den Kopf, seine Lippen waren zusammengekniffen. Sie schluchzte auf, und er lockerte den Griff etwas. »Mach das nicht noch mal.«
»Dann tu endlich was!« Sie riß ihre Hand aus seiner Umklammerung und rieb sich den Knöchel. »Denk dir was aus, wenn du schon so stark bist.«
Er sah sie nachdenklich an, dann glitt sein Blick über die Einrichtung des Kellerraums. Blieb bei dem Fenster hängen.
»Da kommt keiner durch«, sagte sie mürrisch.
Er antwortete nicht, schlug die Decke zurück, stand auf und reckte sich. Das Fenster lag direkt unter der Decke, aber der Raum war nicht hoch, und er konnte es erreichen. Er wandte sich zur Bartheke um und musterte das Regal mit den Flaschen. Dann ging er hinüber, kramte in den Sachen herum, hielt einen schweren Korkenzieher mit schmiedeeisernem Hirschkopf in der Hand, Andenken aus Bad Wiessee … Er ging wieder zu dem Fenster, richtete sich auf, holte aus und zerschmetterte die Fensterscheibe mit einem Hieb. Ganz stolz sah er sie an.
»Na und?« giftete sie. »Willst du jetzt um Hilfe schreien, oder was? Das Haus von Baders ist mindestens zweihundert Meter weit weg, und denen ihr Schlafzimmer geht nach der anderen Seite raus. Außerdem ist Samstag, und alle schlafen noch. Die einzige, die dich hören wird, das ist sie. Dieses Weib.«
»Genau das will ich ja.« Er grinste wieder.
Sie mußte sich beherrschen, um nicht auf ihn loszugehen. »Ach ja? Kannst es nicht erwarten, die wiederzusehen? In meinem Nachthemd, oder wie?«
Er lachte laut auf, aber es klang nicht sonderlich freundlich. »Du mußt grade reden, so wie du dich gestern an sie rangeschmissen hast … War interessant zu beobachten.«
Sie konnte nicht verhindern, daß sie rot wurde, und wandte den Kopf ab. »Das war doch nur, um sie einzulullen … abzulenken …«
Sie brach ab, als er auf sie zukam, den Korkenzieher immer noch in der Hand. Sie wich zurück. Er blieb dicht vor ihr stehen.
»Komm, hören wir auf damit; das hat doch keinen Sinn!« Er lächelte und umarmte sie.
»Was sollen wir denn bloß tun?« flüsterte sie.
Er ließ sie los und gab ihr den Korkenzieher. »Du gehst ans Fenster und schlägst damit gegen das Gitter und schreist, so laut du kannst.« Er ging zum Flaschenregal und nahm eine volle Ginflasche heraus, wog sie kurz in der Hand und tauschte sie dann gegen eine Metaxaflasche aus, die in seiner Hand wie eine Keule lag. Dann stellte er sich neben die Stahltür und nickte ihr mit dem Kopf zu. Er sah wild aus, mit dem verstrubbelten Haar, dem verdrückten Anzug und der Flaschenkeule in der Hand.
Sie kicherte. »Du siehst aus wie ein Neandertaler.«
Er grunzte, rollte mit den Augen, dann lachten sie beide. Christine war plötzlich sicher, daß sie es schaffen würden, daß in wenigen Minuten alles vorbei sein würde.
»Und dann feiern wir mit Champagner«, sagte sie zufrieden und ging zum Fenster. Sie war kleiner als Horst, aber wenn sie die Arme weit ausstreckte, konnte sie die Fenstergitter erreichen. Sie schlug den Korkenzieher dagegen und schrie gellend: »Hilfe! Hilfe!«
Das Gitter schepperte; es kam ihr vor, als müßte man sie kilometerweit hören können. Sie drehte sich halb zu Horst um. Die Tür war immer noch geschlossen; er stand mit der Flasche in den erhobenen Händen daneben, wartete konzentriert. Der Korkenzieher in ihrer Hand bewegte sich plötzlich, sie fuhr herum und schrie auf. Vor dem Fenster hockte ein riesiger weißer Perserkater und schlug spielerisch mit der Pfote gegen den Korkenzieher. Sie ließ ihn fallen und schrie noch einmal auf. Der Kater wich ein Stück zurück und sah sie ausdruckslos an.
»Tu das Biest weg!« Sie wirbelte zu Horst herum. »Jag es weg! Du weißt doch, daß ich …« Sie brach ab, als die Stahltür aufschwang.
Anita hatte wieder den Hosenanzug und den Kaschmirpullover an, und sie hielt wieder die Pistole in der Hand. Sie musterte Christine und schaute dann zu dem Kater. Lächelte. »Wolltet ihr den zur Polizei schicken?«
Christine bewegte sich nicht. Sie wagte nicht, weiter in den Raum hineinzugehen, spürte aber fast körperlich den Kater über ihrem Nacken, fühlte schon, wie er heruntersprang, seine Krallen in ihren Hals schlug, sprang zur Seite. Die Pistole folgte ihr. »Ich … ich …« Sie gab sich Mühe, ihre Stimme fest klingen zu lassen: »Ich kann Katzen nicht … nicht … Allergie …«
Anita lächelte immer noch. »Und wo ist der starke Beschützer?« Sie sah sich in dem Teil des Raumes um, den sie überblicken konnte.
Christine schluckte krampfhaft und deutete mit dem Kopf zur Bartheke hin. Anita machte zögernd einen kleinen Schritt nach vorn. Hinter der Tür hob Horst die Flasche und holte aus.
»Schauen Sie ihn … Ich mein, schau ihn mal an – ich glaub, er ist krank …«
Anita lächelte nicht mehr; sie sah nur her, und für einen Augenblick erinnerte ihr Gesicht an das der Katze. Dann bewegte sie sich, und Christine glaubte, sie würde ganz hereinkommen. Sie hielt die Luft an. Aber Anita bewegte sich nicht nach vorn, sie warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die Seite, gegen die Tür. Die Tür knallte auf Horst; er taumelte gegen die Wand, die Flasche zerbarst, Splitter flogen herum, und fast sofort füllte sich der ganze Raum mit dem süßlichen Geruch von Weinbrand.
Anita schob sich seitlich so weit in das Zimmer, daß sie Horst sehen konnte. Die Pistole zeigte jetzt auf ihn. Er rieb sein Handgelenk, es blutete.
»Schade um das schöne Zeug«, meinte sie; dann wandte sich die Pistole wieder Christine zu. »Komm mit!«
Christine schaute nur zu Horst, der an der Wand lehnte und sein Handgelenk umklammert hielt.
Die Pistole bewegte sich. »Jetzt komm schon endlich. Ich denke, du willst mal ins Bad.«
Christine setzte sich in Bewegung und ging an Horst und Anita vorbei hinaus. Anita zog die Tür wieder zu, verschloß sie und steckte den Schlüssel in die Tasche. Sie ließ sie vorgehen.
»Weißt du«, sagte sie leise hinter ihr, »ich hab auf so was gewartet. Wenn man da … eine Zeitlang ist, dort, wo ich war, dann lernt man, sich nicht nur auf seine Augen und Ohren zu verlassen.« Sie waren beim Schlafzimmer angekommen. Christine blieb stehen. Anita deutete mit dem Kopf zum Badezimmer hin: »Geh rein, aber laß die Tür auf.« Christine wollte etwas sagen, Anita kam ihr zuvor. »Man kann sich daran gewöhnen.«
Sie wusch sich das Gesicht und die Hände, während Anita in der Tür lehnte und ihr dabei zusah. Sie hätte gern geduscht, aber es war ihr unangenehm, sich vor Anita auszuziehen. Anita schien ihre Gedanken zu erraten.
»Meine Güte, glaubst du, daß du anders aussiehst als andere Frauen?«
Christine wurde rot und knöpfte ihr Kleid auf. Sie versuchte, dabei Anita nur den Rücken zuzudrehen, mußte sich aber doch halb umwenden, um unter die Dusche zu steigen. Anita schwieg. Christine drehte das Wasser auf und nahm die Schaumtube. Sie hielt den Blick gesenkt. Seifte sich ein und stellte sich unter den Wasserstrahl. Die Hände, die den Schaum auf ihrem Körper verteilten, schienen nicht ihre eigenen zu sein. Sie hatte immer schon gern geduscht, aber heute war es anders. Sie wußte nicht genau, was es war, und sie vermied es, weiter darüber nachzudenken. Sie schrak auf, als Anita ziemlich laut, um das Prasseln des Wassers zu übertönen, sagte:
»Kannst aufhören. Hier ist keine Kamera, die einen Werbefilm über Duschseife dreht.«
Christine drehte hastig das Wasser ab und tappte mit gesenktem Kopf aus der Duschnische. Anita warf ihr ein Handtuch zu. Sie mußte aufschauen, um es zu fangen, und einen Moment lang sahen sie sich an. Dann wandte Anita sich ab.
»Beeil dich, ich hab Hunger.«
Als sie in der Küche die Kaffeemaschine anstellte und den Filter füllte, die Brote schnitt und strich, beruhigte sie sich wieder etwas. Die Alltäglichkeit der Arbeiten schien sie von dieser Frau und ihrer Pistole zu trennen. Trotzdem war sie sich der beobachtenden Blicke ständig bewußt. »Wirst du …« begann sie zögernd. »Ich meine, wie willst du es denn bei … bei ihm machen?«
Anita lachte trocken auf. »So wie bei dir. Er ist in der Tat nicht der erste Mann, den ich nackt sehe.«
Dann schwiegen beide, bis Christine Kaffee und Brote auf dem Tablett hatte und es vor Anita her in den Keller hinuntertrug. Anita schloß die Tür auf, ließ sie mit einem Schwung weit aufschlagen und nickte Christine zu, vorzugehen. Die Vorsicht war unnötig. Horst saß auf einem der Barhocker, ein halbleeres Glas mit Gin Tonic in der Hand, die offenen Flaschen neben sich. Sein Gesicht war leicht gerötet; er rülpste unterdrückt.
»Besten Dank für den Service, aber ich habe schon gefrühstückt.«
»Das ist für sie.« Anita hob die Pistole. »Du kommst mit rauf.«
Horst glitt vom Barhocker, goß noch etwas Gin in sein Glas und ging zur Tür. Er schien nur die einzige Sorge zu haben, nichts zu verschütten.
Christine stellte das Tablett ab und starrte auf die Tür, die Anita hinter den beiden zuzog. Sie hörte den Schlüssel, der sich im Schloß drehte und abgezogen wurde, und sehr schwach ihre Schritte, die sich entfernten.