Sie saßen am Eßzimmertisch. Die Sonne schien herein, und alles wirkte so friedlich wie eine Szene in einer amerikanischen Familienserie im Vorabendprogramm. Horst hatte sich gewaschen und rasiert; er trug Cordhosen und ein kariertes Hemd und wirkte völlig unbeschwert und heiter. Er hatte den Tisch gedeckt, Toast geröstet, weiche Eier gekocht und goß ihr wie ein aufmerksamer Ehemann Kaffee nach. Sie hatte trotzdem keinen Appetit. Er musterte sie besorgt.
»Warum ißt du denn nichts? Du brauchst doch Kraft. Soll ich dir noch ein Brot machen?« Er lachte jungenhaft. »Du kannst das sicher nicht so gut, wenn du immer das Schießeisen festhalten mußt.« Er nahm das Brot und schnitt eine Scheibe ab. »Diese? Servelatwurst ist prima.« Er strich das Brot fast liebevoll, hielt es ihr hin, lächelte.
Anita nahm das Brot und biß hinein. Er hatte recht, sie brauchte Kraft. Aber das war es gar nicht. Es war einfach die Art, wie er sich um sie besorgt zeigte und ihr wenigstens für winzige Augenblicke das Gefühl gab, alles sei in Ordnung, das sei ihr Haus und ihr Mann, und sie gehörte hierhin, und die andere Frau im Keller unten existierte nicht.
»Machst du das für deine Frau auch?« fragte sie, um die Stimmung zu unterbrechen.
Er zuckte mit den Schultern. »Hat das deiner etwa für dich getan?«
Sie legte das angebissene Brot weg und trank einen Schluck Kaffee. Sie wollte nicht an Boris denken, aber die Szene war da, ohne daß sie es verhindern konnte. Der Ecktisch in der Wohnküche. Im Spülstein noch das Geschirr von gestern abend. Boris, der im Stehen hastig seinen Tee schlürfte und wegrannte, ohne ihr auf Wiedersehen zu sagen … Später, als sie das Auto hatten, fragte er manchmal, ob er sie mitnehmen solle, aber auch das vergaß er nach einiger Zeit. Sie dachte an das erste Jahr, als sie noch versucht hatte, aus ihrer Ehe das zu machen, was sie unter Glück verstand … Sie merkte, daß Horst sie beobachtete.
»Er war nicht der Typ dafür«, meinte sie vage.
Horst gab sich zufrieden. Er steckte sich eine Zigarette an, bot ihr etwas zu spät auch eine an, gab ihr Feuer. Sie rauchte.
»Ich war viel zu jung, als wir geheiratet haben. Wir haben beide noch studiert.«
»War bei uns ähnlich. Ich war 24.« Er machte nicht den Eindruck, als hätte er verstanden, wovon sie sprach, er schien an etwas ganz anderes zu denken. »Wie lange willst du hierbleiben?«
Das war es also. Aber es hatte nicht unfreundlich geklungen, einfach so, wie man Gäste fragt, die man gern bei sich hat, nur um zu wissen, ob man für das Wochenende noch mehr einkaufen muß. »Habt ihr was vor?« fragte sie aus dem Gedanken heraus; er verstand nicht gleich. »Ich meine, ob ihr am Wochenende etwas vorhabt, Verabredungen oder so.« Er schüttelte den Kopf. Zu schnell, zu hastig. Sie legte ihre Hand neben die Pistole. »Ich will’s wissen.«
»Ich dachte, du wolltest nur kurz bleiben.« Er lachte, als hätte er einen Witz gemacht, und vielleicht war es das auch.
»Dafür, daß dir eine geisteskranke Mörderin gegenübersitzt, hast du ganz schön die Ruhe weg.« Sie lachte, und im gleichen Augenblick wurde ihr klar, daß sie kaum noch etwas dabei empfand, wenn sie das Wort aussprach. Der gestrige Tag und die Wochen davor schienen verschwunden, durch eine weiche Nebelwand von ihr und dem Haus hier abgetrennt. Sie wollte nicht weg. Sie wollte nicht wieder hinaus in diese Welt, die nur ein Ziel hatte: sie wieder einzufangen und zu quälen.
Er sah sie an. »Wenn du willst, dann kann ich dir Geld geben, ich hab was da. Ich könnte dir sogar ein Auto verschaffen.«
»Warum?«
»Hm?«
»Warum würdest du das tun?«
Wieder hob er nur die Schultern. »Egal. Aber du würdest nicht weit kommen. Ohne Paß und so.«
»Dann bleibe ich eben noch etwas länger hier.«
»Wir haben nichts vor am Wochenende …« Er grinste plötzlich, »ehrlich gesagt, ich finde dich attraktiv.« Er hatte ihren Blick aufgefangen, und sie war überrascht, wie sensibel er reagierte. »Ja, ich weiß, das klingt wie ein Satz aus einem miesen Film. Ich bin wahrscheinlich zu lange im Werbegeschäft.« Er stand auf und kam um den Tisch herum. Er sah dabei nur sie an, und sie unterdrückte den ersten Reflex, nach der Waffe zu greifen. Er blieb vor ihr stehen und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie sah zu ihm hoch. Seine Hände berührten ihren Hals; er bückte sich zu ihr herunter und küßte sie leicht auf den Mund.
Einen Sekundenbruchteil sahen sie sich an, dann kniete er sich hin, um mit ihr auf einer Höhe zu sein, und umarmte sie. Sie merkte, daß sie nur darauf gewartet hatte. Aber gleichzeitig machte sie sich über sich selbst lustig, sah die Komik der Situation – sich selbst, Mitte Dreißig, ausgehungert nach menschlicher Wärme, wie das so schön heißt, oder nach Zärtlichkeit und Berührung, und den frustrierten Werbetypen mit seiner Vorstadtmami im Keller auf der Suche nach einem Kick in seinem Leben, und neben ihrem Frühstücksteller die Pistole … Noch während sie sich von Horst vom Stuhl auf den Teppich ziehen ließ, dachte sie daran, daß sie eigentlich die Pistole mitnehmen müßte, um ihn daran zu hindern, schneller zu sein und sie zu überwältigen. Der Gedanke an die Pistole löste eine Assoziation aus, einen Gedanken an etwas, was sie bisher mit Erfolg verdrängt hatte, woran sie auch jetzt sich zu denken weigerte, aber zugleich war sie sich darüber im klaren, daß sie die Pistole aus einem ganz anderen Grund auf dem Tisch neben dem Teller liegen ließ: weil es ihr gefiel, sich mit Horst auf dem Teppich herumzurollen, sich zu küssen und so zu tun, als gebe es weder gestern noch morgen, weder den Keller noch das Draußen. Sie hörte auf zu denken.
Sie lagen sehr dicht nebeneinander und sahen sich an. Er küßte sie nicht und berührte sie nicht. Er sah sie nur an. Sehr vorsichtig, zögernd und fast ängstlich hob sie eine Hand und fuhr mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Die Falten, die neben seiner Nase zum Mund hinunterliefen, waren viel zu tief für sein Alter, aber die Haut war glatt und jung und seine Lippen weich und entspannt. Er drehte den Kopf leicht und schmiegte ihn in ihre Hand. Sie sah, daß seine Augen feucht wurden, und sie wußte, daß auch er nicht mehr an die Pistole dachte. Er drückte seinen Mund gegen ihre Handfläche und sah sie wieder an.
»Ich hab nicht gewußt, daß es auch so sein kann«, sagte er leise, und zum erstenmal seit Tagen, Wochen, seit Jahren fühlte sie sich frei und ohne Angst.
Es läutete.
Sie erschraken beide, zuckten zusammen, weigerten sich, das Läuten zu akzeptieren, und umarmten sich noch intensiver. Aber es läutete wieder und wieder, grell, laut, fordernd. Sie löste sich von ihm, stand auf und zog den Pullover zurecht.
Er blieb auf dem Boden sitzen. »Laß doch«, flüsterte er.
Es wurde wieder geläutet, dann knirschten schwere Schritte auf dem Kies. Einen Augenblick lang war es still, die Schritte wurden vermutlich vom Rasen gedämpft; dann hämmerte jemand an die Terrassentür.
»Hallo!« rief eine Männerstimme. »Jemand da?«
Ihr Blick fiel auf die Pistole. Sie nahm sie hoch und winkte ihm, aufzustehen. »Los, mach auf. Aber ich bin hinter dir.«
Er sah sie verletzt an, dann stand er auf, brachte seine Kleider in Ordnung und ging zur Tür. »Ja, ja … Ich komm ja schon!« Sie huschte hinter ihm auf den Flur, schob sich halb in die Schlafzimmertür und beobachtete ihn. Er war jetzt bei der Tür und zog sie auf.
Draußen stand ein uniformierter Polizist.
»Tut mir leid, wenn ich störe …« Er tippte sich leicht an die Mütze. »Aber Sie haben vielleicht schon in den Nachrichten gehört, daß eine Frau aus der Anstalt ausgebrochen ist. Sie muß noch hier irgendwo sein. Ist Ihnen irgend etwas aufgefallen?«
Sie konnte seine Reaktion nicht erkennen, sah nur seinen Rücken und seine Hände, die neben seinen Schenkeln herunterhingen und sich immer wieder zu Fäusten ballten. Hinter dem Polizisten sah sie ein Stück der Auffahrt zum Haus und einen Streifenwagen, in dem ein weiterer Polizist saß. Horst hob jetzt eine Hand und kratzte sich am Kopf. Räusperte sich.
»Nein … Nein, aufgefallen ist mir, glaub ich, nichts … Was ist denn das für eine Frau?«
»Sie ist gefährlich, und sie ist bewaffnet. Sie hat schon einen Menschen umgebracht. Dunkles Haar, schlank, sieht aus wie Ende zwanzig …«
Anita hörte nicht länger zu. Sie rannte ins Schlafzimmer, zog die Badezimmertür auf und riß ein Handtuch aus dem Fach; die anderen fielen auf den Boden, sie achtete nicht darauf, wand sich das Handtuch wie einen Turban um den Kopf und stopfte die Haare, die hervorsahen, darunter. Dann rannte sie wieder hinaus. Als sie auf den Flur kam, ging sie langsamer.
»Wer ist es denn, Liebling?«
Sie blieb neben Horst stehen und lächelte den Polizisten an. Horst wich von ihr zurück. Der Polizist deutete eine Verbeugung an.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, gnädige Frau, daß wir so früh schon stören müssen, aber wir wollen alle Anwohner warnen. Wie ich Ihrem Mann schon gesagt habe …«
Horst unterbrach ihn. »Stell dir vor, diese Irre, die ihren Mann erschossen hat, die soll hier in der Gegend sein.«
»Wie schrecklich«, sagte Anita und war sich ziemlich sicher, daß ihre Stimme cool und normal klang. »Aber da muß man sie doch leicht erkennen, ich hab im Radio gehört, daß sie Anstaltskleidung anhat.«
»So ist sie jedenfalls geflohen«, sagte der Polizist, »aber es besteht die Möglichkeit, daß sie sich inzwischen andere Kleider besorgt hat. Außerdem hat sie den Fahrer der Gärtnerei niedergeschlagen und sich seine Pistole angeeignet. Diese Frau schreckt vor nichts zurück.«
Der Fahrer. Der Mann, der auf der Straße lag, aus dem Kopf blutete und sich nicht mehr bewegte. Da war es wieder, und jetzt konnte sie es nicht mehr verdrängen. »War er … Ist er …« Sie merkte, daß sie nicht mehr ruhig sprechen konnte; sie brach ab, bemühte sich, den Polizisten anzulächeln, spürte den Schmerz in den verzerrten Gesichtsmuskeln.
Der Polizist sah sie erstaunt an, wollte gerade antworten, als im Haus dumpfes Hämmern begann.
Wumm … Wumm … Wumm … Die Wände schienen zu zittern. Der Polizist horchte auf. Sah fragend zu Horst. Horst schnitt eine Grimasse, machte den Mund auf, sie kam ihm zuvor:
»Die Heißwasseranlage … Liebling, du mußt endlich etwas unternehmen – ich finde das grauenhaft!«
Horst fuhr zu ihr herum, wieder kam sie ihm zuvor; diesmal gelang es ihr, den Polizisten anzulächeln. »Er stellt sich immer so an, wenn ich einen Handwerker anrufen will, alles will er selber machen, aber er macht es nie.«
Der Polizist hatte es plötzlich eilig.
»Na ja, das kenn ich auch … Also dann, wenn Sie etwas beobachten, dann unternehmen Sie nichts auf eigene Faust. Rufen Sie sofort die nächste Polizeidienststelle an.« Er war schon halb auf dem Weg draußen, winkte noch einmal zurück und lief zum Auto hinüber.
Anita knallte die Tür zu, rannte zur Treppe. Das Hämmern war noch heftiger geworden, sie konnte jetzt auch die hysterischen Schreie von Christine heraushören. Horst fiel ihr ein. Er stand immer noch neben der Tür. Sie hob die Pistole.
»Nein.«
Er drehte sich langsam zu ihr um und ging dann an ihr vorbei die Treppe hinunter. Sie folgte ihm. Das Hämmern und die Schreie wurden immer lauter. Sie schubste ihn, er stolperte, verlor beinahe das Gleichgewicht, lief dann aber schneller. Sie kamen gleichzeitig vor der Kellertür an. Sie holte den Schlüssel aus der Tasche und schloß auf. Christine taumelte ihnen entgegen. Anita wich etwas zur Seite, Horst fing Christine auf. Sie schluchzte und heulte unkontrolliert.
»Tut es weg! Schafft es raus! Ich kann nicht mehr! Es bringt mich um …«
Anita sah in den Kellerraum hinein. Auf dem Fußboden unter dem zerbrochenen Fenster hockte der weiße Kater und glotzte sie an. Sie lachte.
Christine schrie immer noch, von Schluchzern geschüttelt. »Hör auf zu lachen! Ich kann nicht … Die …« Sie begann zu husten und zu würgen, ihr Gesicht lief rot an.
Horst legte den Arm um sie und führte sie zur Treppe, redete leise auf sie ein. »Ist ja schon gut, die tut dir nichts … Komm nur, komm.«
Christines Weinen veränderte sich, es war nicht mehr hysterisch, sondern kindlich jämmerlich. »Ihr dürft mich nicht mehr allein lassen, ich will nicht mehr da unten in den Keller … Diese schreckliche Katze … Ich bin fast erstickt …«
Horst redete weiter beruhigend auf sie ein und brachte sie die Treppe hinauf, als sei sie eine schwerkranke Frau oder wirklich ein hilfloses Kind.
Anita und die Katze sahen sich an. »Na ja«, sagte Anita schließlich, »wenn du reingekommen bist, wirst du wohl auch wieder rausfinden.« Dann drehte sie sich um und lief hinter Horst und Christine her.
Sie saßen schon im Wohnzimmer, er auf dem Sessel, sie auf seinem Schoß. Immer noch schluchzend. »Ich will nicht mehr allein da unten im Keller bleiben, ich will nicht!« Sie hob den Kopf und sah Anita anklagend an.
Anita ließ sich in den anderen Sessel fallen. »Ja, schon gut, halt endlich das Maul!«
Christine verstummte, schnaufte noch einmal auf und begann dann leicht zu lächeln.