Christine stand mit dem Rücken zur Schlafzimmertür, direkt hinter ihr Anita. Sie konnte ihren Atem im Nacken spüren und den leichten Druck der Pistole unter dem linken Schulterblatt. Horst stand im Flur und zögerte.
Es läutete Sturm, eine Autohupe dröhnte, wieder läutete es, dann wurde an die Tür gehämmert. Und er zögerte. Sie konnte sein Gesicht kaum ertragen, wenn es diesen unentschlossenen Ausdruck hatte.
»Geh doch endlich!« zischte sie. »Die wecken doch die ganze Gegend auf!«
Er machte zwei Schritte und blieb wieder stehen. »Was soll ich denn sagen?«
»Mann, irgendwas! Du bist doch der berühmte Texter, nicht ich.«
»Und denk dran …« Anita ließ ihn kurz die Pistole sehen. Endlich stelzte er los. Zu dem Hämmern und Läuten an der Tür kamen jetzt noch Rufe und Gebrüll.
Christine mußte plötzlich kichern. »Du denkst wohl, das ist hier wie im Kino …« Sie kicherte stärker: »Der liebevoll besorgte Gatte unternimmt nichts, um das kostbare Leben seines Frauchens zu retten …« Sie verschluckte sich fast. »Paß auf – zehn zu eins, der rennt weg und überläßt mich dem Kugelregen …«
Horst hatte die Tür erreicht.
»Horst!«
Er blieb stehen, als hätte Anita ihn nicht gerufen, sondern mit einem Lasso festgehalten. Er drehte den Kopf.
Ihre Stimme war leise und freundlich. »Wenn du irgendwas Dummes machst, dann kann ich dich auch noch treffen. Kein Problem von hier aus, in den Rücken, oder auch jemand anderen … Okay?«
Er nickte und wandte sich wieder der Tür zu. Anita wich zurück; Christine blieb so stehen, daß sie Horst im Blickfeld hatte. Er machte die Tür auf.
Sie drängelten sich so schnell herein, daß er sie beim besten Willen nicht aufhalten konnte. Brüllten durcheinander: »Heh, Schlafmütze!«
»Mann, das hat ja vielleicht gedauert!«
»Der Wecker war wohl kaputt …« Es waren Pit, Helmuth und die anderen von der Bowling-Clique; sie hatten ganz offensichtlich schon ein paar Weißbier hinter sich.
Sie fühlte Anitas Hand auf ihrer Schulter, ein leichter Druck, dann flüsterte ihre Stimme: »Wirf sie raus!«
Pit war schon im Flur, sah ins Wohnzimmer. »Wo ist sie denn? Heh – Christine-Baby!«
Christine trat vor; Anitas Hand und die Pistole blieben zurück.
»Macht doch nicht so einen Krach.« Sie gab ihrer Stimme einen matten Klang und faßte sich an den Kopf. »Wir kommen nicht mit, mir ist schlecht.«
Pit und Helmuth fuhren herum, Helmuth umarmte sie, Pit gab ihr ein Küßchen.
»Mach keinen Scheiß.«
»Ein Bierchen, und du bist wieder so!«
»Na los – kommt schon!«
»Ausgemacht ist ausgemacht …«
»Der Berg ruft!«
Gelächter.
Sie lachten, redeten durcheinander; die anderen hupten draußen im Auto und grölten auch irgendwas. Horst stand nur hilflos zwischen ihnen, ließ sich auf die Schulter schlagen und sah zu ihr hin. Er hätte es gemacht, dachte sie, er hätte es wirklich getan. Was sie vorhin so halb als Witz zu Anita gesagt hatte, war gar kein Witz. Er hätte versucht, rauszurennen zu den anderen; er hätte sie hier zurückgelassen … Er war feige, und es war ihm scheißegal, was mit ihr passierte. Es war ihm vielleicht sogar egal, was mit den anderen geschah – nur wenn er selber möglicherweise eine Kugel in den Rücken bekam, das war ihm nicht egal.
Sie hatte schon wieder einen Arm auf der Schulter und schlug ihn wütend weg. »Jetzt kapiert das doch endlich – wir kommen nicht mit!«
Pit sah sie verdattert an. Sein Gesicht war grob und dümmlich, gerötet von ein paar Morgenbier und von der Aussicht auf weitere im Biergarten. In zwei Stunden würden sie alle halbbesoffen durcheinandersingen von dem haselnußbraunen Mädchen und der Kellnerin dämliche Komplimente machen, und die Frauen würden an ihrem längst schalen Bier nippen und Brezeln knabbern und über Schulprobleme labern …
Sie schrie: »Jetzt haut doch endlich ab, verdammt noch mal!«
Endlich reagierten sie. Noch ein paar mitleidige Blicke und Bemerkungen für Horst, dann trollten sie sich, sauer und eingeschnappt, aber immer noch mit dem üblichen Männergetue. Sie schlug hinter ihnen die Tür zu.
Horst sah unbehaglich zu Anita, die aus dem Schlafzimmer herauskam, dann zu ihr. »Du hättest doch nicht gleich so grob werden müssen«, sagte er lahm.
Sie ging an ihm vorbei. »Und das sind deine Freunde, dieser Haufen von Vollidioten!« Sie wandte sich an Anita: »Magst du auch einen Sherry?«
Anita sah zu Horst, dann schob sie die Pistole in die Tasche und kam mit ihr ins Wohnzimmer. »Das war ausgemacht, oder?«
»Wir kennen die vom Bowling.« Sie holte die Sherryflasche aus dem Schrank und zwei Gläser. Der Sherry war vom Supermarkt, aber die Gläser waren wirklich aus Spanien. Ibiza. Sie dachte an den Sommer zurück, die Tage am Strand und die Abende in der Hotelbar, den Geruch von Pinien und von Salzwasser, an Sonnenöl auf ihrer braunen Haut und den Sonnenbrand von Horst … Sie goß den Sherry in die Gläser und gab Anita eins. Horst kam ins Zimmer und ging wortlos an ihnen vorbei in die Küche hinüber. Sie hörte die Kühlschranktür klappen.
»War das bei dir auch so?«
»Was?« Anita setzte sich in einen Sessel und nahm einen Schluck von dem Sherry.
Christine setzte sich auf die Lehne von Anitas Sessel. »Na, daß ihr irgendwann am Anfang mal gedacht habt, ihr paßt wirklich zusammen?«
Anita antwortete nicht, Christine sah zur Küchentür. Horst kam mit einer Bierflasche und einem Tonseidel mit Zinndeckel zurück. Auf dem Deckel stand ER, und er war stolz auf das Seidel. Er setzte sich auf das Sofa gegenüber und goß das Bier vorsichtig in das schräg gehaltene Gefäß. Das hatte er ihr auch beigebracht, wie man Bier so eingießt, daß der Schaum gerade richtig ist. Als wäre das eine Wissenschaft für sich. Er trank, schnaufte auf und wischte sich den weißen Streifen vom Mund. Er grinste.
»Na, große Einigkeit?«
Christine drehte sich wieder zu Anita herum. »Das einzige, was wir je zusammen gemacht haben, das war, irgendwelches Zeug kaufen. Ich mein Wohnung und Haus und Möbel und so; das war am Anfang.«
»Na ja, ein bißchen was mehr haben wir dann ja wohl doch noch zusammen gemacht!« Wieder lachte er dümmlich.
Christine stand auf und holte die Sherryflasche zum Sessel. Sie schenkte Anita und sich nach. »Hast du Kinder?«
Anita schreckte auf, sah sie an, hob die Schultern. »Entschuldige, ich hab nur dran gedacht, daß ich jetzt nicht wegkann. Solange die Polizei hier überall rumsucht, kann ich nicht weg.«
Christine sah sie an, beugte sich plötzlich vor und strich ihr mit dem Handrücken über das Gesicht. »Du kannst hierbleiben. Ich bin froh, daß du da bist.« Sie hörte den Satz noch im Ohr, sah das überraschte Gesicht von Anita und spürte den Blick von Horst. Das Seltsame war, daß es stimmte. Daß sie keine Angst mehr vor der Pistole hatte, daß sie sicher war, daß Anita ihr nichts antun, daß sie ihr vielleicht sogar helfen würde, etwas herauszufinden. Was, wußte sie selbst noch nicht, nur daß es wichtig für sie war.
Horst ließ den Deckel auf den Bierkrug klappen. »Ich hab ja gar nichts gegen lesbische Frauen, im Gegenteil, ihr seid ein hübsches Paar … Die wahre Bestimmung.« Er lachte, ließ den Deckel aufspringen und trank.
»Das macht ihn an«, sagte Christine zu Anita.
Anita lächelte abwesend.
»Wir konnten keine Kinder bekommen. Er hat immer gesagt, es liegt an mir. Nur weil er Arzt war. Aber untersuchen hat er sich nie lassen.«
»Kinder sind eine Sparbüchse, wo du die Zinsen auch noch selber draufzahlen mußt.« Horst grinste über den Bierkrug herüber. »Christine als Mutter – ich lach mich krank.«
»Aber du wärst ein prima Vater, was?«
»Wär ich auch.«
Christine hatte die Vorstellung eines kleinen Miniatur-Horst, der aus einem Kinderbierkrug Milch trank. Sie hatte immer gedacht, daß sie zwei Kinder haben würden, ein Mädchen und einen Jungen, jeweils Miniausgaben von ihnen … Bisher hatte sie den Gedanken immer schön gefunden. Natürlich konnten sie sich keine Kinder leisten.
Horst stand auf, nahm die leere Bierflasche und ging in die Küche hinüber.
»Die sagen immer«, meinte sie leise, »daß Kinder eine Ehe kitten. Das brauchen wir doch nicht.«
Horst kam zurück, leerte eine neue Flasche in seinen Krug. »Musik?« Niemand antwortete, er zuckte die Achseln und ließ sich wieder auf das Sofa fallen. »Bitte, bitte, laßt euch von mir nicht stören. Christinchen kann dir viel über unser Liebesleben erzählen. Daß sie es ist, die keinen Abend mit mir allein daheim bleiben kann, daß immer was los sein muß, irgendwas Schickes, wo’s rundgeht.«
»Wer hat denn mit dem Bowling angefangen?«
»Mein Gott – ein einziges Mal die Woche, das wird ja wohl noch erlaubt sein. Du mußt ja nicht den ganzen Tag ackern und Mäuse ranschaffen.«
»Nein, ich sitze nur rum und tue nichts.«
»Genau.«
Sie starrten sich an, dann versenkte Horst sein Gesicht wieder im Bierkrug. Sie sah zu Anita. Anita lächelte.
»Gemütlich bei euch.«
Christine hatte das Gefühl, daß das nicht einmal ironisch gemeint war; sie wollte sie gern fragen, woran sie dachte, wie es bei ihr gewesen war, wie ihr Mann gewesen war, und warum sie ihn … Wie es eben passiert war. Aber sie wußte nicht, wie sie anfangen sollte, und sie glaubte auch, daß Anita in Gegenwart von Horst nicht darüber sprechen würde. Sie schwiegen, und das einzige Geräusch war das sehr weit entfernte Surren eines Rasenmähers.
Als sie das leise Plopp! in der Küche hörte, dachte sie zuerst, sie habe sich getäuscht. Aber gleich darauf klirrte es laut. Sie zuckte zusammen, sah zur Küchentür und dann zu den anderen. Sie hatten es auch gehört, saßen reglos da und lauschten. Der erste, der sich bewegte, war Horst. Er stellte vorsichtig seinen Bierkrug ab und wandte sich zur Küchentür um.
Auf der Schwelle saß der weiße Kater und sah sie an.
Christine schrie auf und sprang hoch. »Tu es weg!« Sie wich an die Wand zurück und schrie weiter. Anita sah sie an, Horst lachte.
»Sie ist hysterisch mit Katzen.«
»Ich bin allergisch!«
Ihre Stimme kippte über. Der Kater bewegte sich nicht. Anita setzte ihr Glas ab und stand auf. Horst lachte immer noch. Anita ging zu dem Kater.
»Na, dann komm mal her«, sagte sie leise. Der Kater blieb sitzen und sah zu ihr hoch. Sie bückte sich und hob ihn auf. Er begann sofort zu schnurren und sich in ihren Arm zu schmiegen. Anita lachte leise. »So einer bist du also!« Sie trug ihn zur Tür.
»Raus!« schrie Christine. »Tu ihn raus!«
Horst war mit einem Satz bei ihr, packte sie grob und zerrte sie hinter Anita her. »Da, schau dir an, wie man mit Katzen umgeht. Die tut keinem was!« Christine wehrte sich, aber Horst war stärker; er zerrte sie immer näher zu Anita und dem widerlichen Vieh hin. »Du bist ja ein Fall für den Psychiater!« Er hielt sie brutal am Arm gepackt.
Anita hatte die Tür erreicht und klinkte sie mit einer Hand auf. Sie fuhr so heftig zurück, daß der Kater erschreckt von ihrem Arm sprang und in den Garten sauste.
Vor der Tür stand eine Frau.
»Ach, da ist er ja, mein Schorschi!« Sie lächelte. Frau Burgmüller oder Burgmeister oder so irgendwie. Sie wohnte ein paar Häuser weiter, und sie kannten sie nur vom Sehen. Sie machte Anstalten, hereinzukommen. »Tut mir leid, wenn ich Sie störe, aber wenn der Schorschi ein offenes Kellerfenster sieht, dann …« Sie sah von Christine zu Anita, dann wieder zu Christine. »Ist Ihnen nicht gut?«
Horst verwandelte den Griff, mit dem er sie umklammert hielt, in eine Umarmung. »Meine Frau ist ein bißchen nervös, sie hat eine Katzenallergie.«
»Ja, so was gibt es.« Sie sah zu Anita hinüber. »Nun, Sie haben Besuch, dann will ich mal wieder …« Sie drehte sich halb zum Garten hin um. »Schorschi, komm, du Böser, du …« Sie hob die Hand, winkte noch einmal und ging dann über den Rasen davon.
Anita drückte leise die Tür ins Schloß. Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen. Christine fand es sehr beruhigend, daß Horst sie immer noch im Arm hielt.