Draußen wurde es dunkel. Sie hatten die Vorhänge zugezogen und die Stehlampe angeknipst. Das Licht war warm und gemütlich. Im Fernsehen lief eine Zeichentrickserie. Ein sehr bunter Herr Rossi suchte sein Glück in einem noch viel bunteren Märchenschloß. Horst lachte, als Rossis Feinde die Zugbrücke auf die Nase bekamen. Er saß neben Christine auf dem Sofa und trank Bier. Christine und Anita tranken Wein. Von der Küche her kam der erste Duft von gebratener Hammelkeule. Anita zog die Beine hoch und rollte sich in ihrem Sessel zusammen.
Vor 24 Stunden hatte sie draußen im Regen gestanden und sich nichts mehr gewünscht, als in so einem warmen und gemütlichen Haus vor dem Fernseher zu sitzen, Wein zu trinken und dazuzugehören. Der Sessel war weich, und es regnete auch nicht. Aber sie gehörte genausowenig dazu wie gestern.
Sie zog die Beine noch enger unter sich. Eigentlich hatte sie sich ihr ganzes Leben nichts anderes gewünscht, als so friedlich in einem warmen Haus vor dem Fernseher zu sitzen. So wie damals, als sie mit ihrem Vater immer ins Kino gegangen war. Sie liebten beide Western und Piratenfilme … Boris fand Fernsehen verdummend. Er sah höchstens die Nachrichten und politische Magazine. Aber die auch nicht immer.
Er mußte schließlich arbeiten. Wenn ein Arzt heutzutage nicht in irgendeiner Klinik versauern will, dann muß er mehr bringen als einen Blinddarm pro Woche. Er muß Veröffentlichungen in den Fachzeitschriften nachweisen können, er muß nicht nur auf dem laufenden bleiben, sondern auch selbst noch forschen, er muß sich einen Namen machen, auf Kongresse fahren, Kollegen treffen und sich mit den richtigen Leuten gut stellen … Boris konnte das; jeder sagte ihm eine große Karriere voraus. Seine Vorgesetzten achteten ihn, und die Schwestern liebten ihn. Mit den gleichgestellten oder unter ihm stehenden Kollegen hatte er keinen privaten Kontakt.
Anita beugte sich vor, holte ihr Weinglas und trank einen Schluck. Horst und Christine saßen nebeneinander, das Licht der Lampe ließ ihre Gesichter fast ähnlich aussehen.
Freizeit, Urlaub – das waren für Boris alles Worte für das tumbe Volk. Ein Hobby hatte er natürlich schon. Zum Entspannen. Das braucht man ja trotz allem. Die Wand in seinem Arbeitszimmer war bis unter die Decke mit Waffen behängt. Als er merkte, daß sie sich vor dem Zimmer fürchtete, zwang er sie, sie zu putzen – reinigen, sagte er –, sie zu ölen, abzureiben, zusammenzusetzen. Kein Fleckchen Rost ließ er durchgehen. Zu jeder Waffe gab es auch Munition, da war er eigen. Er hatte ein Vermögen für irgendwelches Zeug bezahlt, das er für eine alte Duellpistole brauchte und nirgends auftreiben konnte.
Sie sah wieder zu Horst und Christine. Die beiden schienen sie vergessen zu haben, sahen nur auf den flimmernden Bildschirm und lachten ab und zu. Horst sah nicht so aus, als würde er zuviel arbeiten. Er wirkte eher träge und faul. Und freundlich. Diese dumme Pute konnte froh sein, daß sie so was Ruhiges erwischt hatte. Aber selbst dazu war sie ja zu dämlich.
Ob es langweilig war, auf die Dauer mit so einem Mann zusammenzuleben? Anita konnte sich das nicht vorstellen. Langeweile mußte herrlich sein. Der letzte Vortrag, den Boris auf einem Kongreß halten wollte. Sie konnte ihn fast auswendig. Immer wieder hatte er ihn ihr vorgelesen und vorgetragen und hatte sich aufgeführt wie ein Irrer, wenn sie nicht an der richtigen Stelle lachte oder wenn sie womöglich gähnte. Dieses widerliche, langweilige, unverständliche Fachgeschwätz.
Er hatte den Vortrag nicht gehalten.
Er würde nie mehr einen Vortrag halten.
Sie stand auf, goß ihr Glas voll und trank. Sie durfte nicht daran denken. Sie setzte sich wieder hin. Sah zum Fernseher. Die Tagesschau. Horst und Christine schauten zu ihr her und sofort wieder weg. Auf dem Bildschirm war eben noch der Sprecher, dann tauchte hinter ihm ein Bild von ihr auf. Sie begann zu frieren.
Die Wohnung. Das Zimmer mit den Waffen an der Wand. Kreidezeichnungen auf dem Boden. … Zimmer fiel der tödliche Schuß. Die Rekonstruktion ergab, daß Anita Birgmaier aus nächster Nähe auf ihren Mann, Dr. Boris Birgmaier, geschossen … Das Bild verschwamm vor ihren Augen; die Stimme wurde undeutlich. … außer sich das Gesicht zerkratzt … selbst die Polizei angerufen und sich gestellt. Die Beamten waren aber schon durch Nachbarn, die den Schuß gehört hatten … Das Haus, in dem sie gewohnt hatten, von außen; Standfoto. Die Bahre wurde herausgetragen. Ein Krankenwagen, Neugierige, Polizisten. … aus der Nervenheilanstalt geflohen und dabei den Fahrer der Gärtnerei brutal zusammengeschlagen. Der Fahrer, der die Anstalt regelmäßig belieferte, gab bei der ersten Vernehmung zu, daß er keinen Waffenschein für die Pistole besitzt, … hält sich vermutlich noch in der näheren Umgebung versteckt … Jetzt das Foto von ihr. Zwei Aufnahmen, die sie bei ihrer Verhaftung gemacht hatten, eine von vorn und eine von der Seite. Die Polizistin hatte sie festgehalten, damit sie im richtigen Winkel zur Meßlatte saß. Ihre Haare waren angeklebt, die Augen weit aufgerissen, der Mund auch halb offen.
Christine und Horst waren, ohne daß sie es merkte, nah zusammengerückt. Sie saßen da auf dem Sofa und schauten auf den Bildschirm und hatten mit alldem nichts zu tun. Zeichentrickfilm oder Nachrichten, das kam und ging … Anitas Hände verkrampften sich. Sie würde niemals mehr, nie wieder in ihrem Leben so auf einem Sofa vor dem Fernseher sitzen können. Das Fahndungsfoto stand immer noch auf der Scheibe.
Sie sprang auf, packte den Bierkrug und schleuderte ihn gegen den Fernseher. Sie hörte einen Schrei und wußte nicht, ob sie geschrien hatte oder Christine. Der Knall kam nicht sofort. Sie zuckte zurück. Splitter flogen durch den Raum. Es klirrte, dann war es einen Sekundenbruchteil lang still; etwas zischte, brutzelte, und im nächsten Moment schlugen Flammen heraus. Wieder ein Schrei. Diesmal war es eindeutig Christine; sie sprang auf und rannte schreiend in die Küche. Horst starrte in die Flammen, die an der Einbauwand hochkletterten, schien einen Augenblick lang gelähmt und lief dann in den Flur hinaus. Christine kam mit einem Wasserkrug zurück. Lächerlich klein. Sie kippte das Wasser auf den Fernseher, die Flammen zischten noch höher auf. Es stank nach verbranntem Plastik.
Anita bewegte sich nicht. Sie schaute in die bläulichen Flammen, hörte auf das Knacken des ausgetrockneten Holzes und fühlte nichts weiter als eine gewisse gelassene Zufriedenheit. Der Fernseher würde ihr Bild nie mehr zeigen können. Christine rannte mit dem Wasserkrug in die Küche zurück. Horst kam herein, er hielt einen kleinen roten Feuerlöscher in der Hand, fummelte nervös an dem Verschluß herum. Anita sah den Feuerlöscher überscharf, die Staubschicht auf der Kappe, die Finger von Horst. Sie stand langsam auf, ging zur Steckdose und zog den Stecker heraus.
Die Flammen hatten das oberste Regalbrett geschwärzt, es bog sich knackend durch, wölbte sich hoch und brach. Bücher und eine Porzellanfigur stürzten auf den Fernseher. Horst hatte den Feuerlöscher immer noch in den Händen, fluchte vor sich hin, riß am Verschluß. Weißer Schaum spritzte auf. Er hielt den Feuerlöscher falsch herum, wurde von dem Schaum getroffen, taumelte blind auf das Regal zu und drehte den Löscher herum.
»Ruf doch an!« brüllte er. »112, Feuerwehr …«
Weder Christine noch Anita rührten sich. Der weiße Schaum legte sich auf den schwarz verkohlten Apparat und auf die Regalbretter. Horst pumpte mit dem Oberkörper vor und zurück, als könnte er dadurch noch mehr Schaum aus dem Löscher herausbekommen, aber der Druck ließ schon nach. Dann fielen nur noch ein paar Tropfen auf den Teppichboden.
Es qualmte und stank, aber auch die letzten kleinen Flammen verkümmerten unter dem Löschschaum. Horst stand schwer atmend mit dem Löscher in der Hand vor dem Fernseher, von dem nur noch das schwarze Gehäuse, ein Drahtgewirr und angerußte Glassplitter übriggeblieben waren. Dann sah er, daß aus einem der Bücher noch Glutpünktchen aufleuchteten, riß das Buch herunter und trampelte darauf herum.
Christine sprang ihn von hinten an, riß ihn zurück. »Alles ist hin!« weinte sie; »alles hast du kaputtgemacht – die Bücherwand, den Teppichboden … Schau dir doch an, was du da gemacht hast …«
Horst bewegte sich nicht, starrte nur immer weiter auf die verkohlten Bretter. Anita ging zu Christine, nahm sie sanft in den Arm und zog sie von Horst weg.
»Ist ja schon gut«, sagte sie leise; »wir machen gleich sauber, wir bringen das in Ordnung.«
Christine schluchzte auf und hielt sich an ihr fest. »Das geht nie wieder, das ist alles hin, das ist doch alles versaut …«
»Versichert, meinst du.« Horst warf den Feuerlöscher weg und ging zum Schrank. Er setzte die Kornflasche direkt an den Mund und trank. Lachte. »Alles versichert. Feuer, Wasser, Ehekrach, alles ist bei uns versichert.«
Anita merkte, daß Christine sich von ihr losmachen wollte. Sie rüttelte sie. »Los, komm, laß ihn doch, wir machen jetzt erst mal sauber. Habt ihr einen Metalleimer, eine Schaufel oder so was?«
Christine warf Horst einen wütenden Blick zu, dann schniefte sie auf und nickte. »Das Gartenzeug, in der Garage.«
Anita ging mit ihr, wandte sich noch einmal zu Horst um: »Das Fenster muß zubleiben, bis wir die letzte Glut raus haben.«
Horst starrte sie an, dann nickte er, stellte die Flasche zurück und folgte ihnen.
Sie arbeiteten gut eine Stunde. Sie schafften den Fernsehapparat hinaus, die verkohlten Bücher und die angebrannten Regalbretter; sie kratzten, so gut es ging, den Ruß von dem Holz und säuberten den Teppichboden mit Seifenschaum. Sie sprachen nicht dabei, außer wenn es unumgänglich war, und die körperliche Tätigkeit entspannte sie alle. Da war plötzlich etwas, was sie tun konnten, was getan werden mußte; etwas, bei dem man nicht zu denken brauchte. Sie rissen die Fenster auf und ließen sich in die Sessel fallen. Und merkten, daß das alles nicht viel geholfen hatte. Der Gestank blieb hartnäckig im Zimmer und würde vermutlich noch Wochen darin hängenbleiben. Die Regalwand war verzogen, und überall war das Furnier abgeplatzt und hochgewölbt. Und auf dem Teppichboden war ein riesiger schmieriger Fleck, der nach dem Trocknen sicher auch nicht verschwinden würde.
Aber keiner von ihnen machte eine Bemerkung darüber. Nicht einmal Christine. Sie saßen nur da, tranken, rauchten und genossen den Moment der Ruhe, die auf den Schock und die körperliche Erschöpfung folgte.
Natürlich war es Christine, die den Frieden störte.
»Wie hoch sind wir denn versichert?« fragte sie quengelig.
»Weiß nicht«, knurrte Horst; »hunderttausend oder so was … Wird ja wohl reichen, oder?«
Christine stand auf, nahm die Weinflasche und kam zu Anita. »Ist das nicht schön? Alles hat auch sein Gutes. Dann kaufen wir eben eine neue Regalwand. Und einen Fernseher mit Fernbedienung.« Sie setzte sich auf Anitas Lehne, goß ihr Glas voll und lehnte sich an sie. »Wir sind nämlich wirklich gegen alles versichert, weißt du. Auch gegen dich …« Sie lachte, schmiegte sich gegen Anitas Kopf und sah zu Horst hinüber. Anita konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber sie war sicher, daß sie lachte. Horst stand auf und ging hinaus.
Christine lachte jetzt laut. Anita lauschte nach draußen. Als sie die Haustür zufallen hörte, sprang sie auf und rannte hinter Horst her. Er stand vor der Garage neben dem Auto und wollte gerade den Schlüssel in den Türgriff schieben.
»Nein«, sagte sie leise und blieb neben ihm stehen.
Er richtete sich auf, drehte sich um und lächelte verkrampft. »Keine Pistole?«
»Ich hab sie dabei.« Sie legte die Hand auf die Jackentasche, steckte sie aber nicht hinein.
»Du meinst, du brauchst sie nicht?« Er lächelte immer noch.
»Nein.« Anita lächelte zurück. »Ich glaube, ich brauche sie nicht.«
»Ich könnte dich niederschlagen, schneller, als du mit der Hand in die Tasche kommst.«
»Aber du wirst es nicht tun.«
»Und warum nicht? Ich meine, warum bist du so sicher?«
Weil das Abenteuer für dich dann vorbei wäre, dachte sie; laut sagte sie nichts. Sie lächelte ihn nur an. Das Licht, das aus der Haustür fiel, ließ die hellen Karos auf seinem Hemd leuchten, alles andere war schwarz.
Er hielt ihr seine geballte Faust vor das Gesicht. »Weißt du, was das ist?«
»Eine Faust.« Sie spürte Heiterkeit in sich aufsteigen, ein Gefühl, als wäre alles nur ein großer Spaß, aus dem man lachend zurückkehrt in die Wirklichkeit.
Er lachte jetzt nicht mehr. »Ich meine, was ist drin in der Faust.«
»Keine Ahnung.«
»Die Autoschlüssel.« Er öffnete die Hand. Auf der Innenfläche lag ein glitzerndes Schlüsselbund mit einem kleinen Fußball als Anhänger. »Der ist für die Tür –« sein Daumen bewegte einen der Schlüssel – »und der da für die Zündung … Du kannst doch Auto fahren, oder?«
Sie konnte nicht sprechen, nickte nur, in der Annahme, daß er das erkennen konnte in der Dunkelheit. Sie hörte sein Lachen.
»Na klar doch, du hast ja dem Gärtner seine Karre auch weggenommen.« Er ließ die Schlüssel in seiner Hand gegeneinanderklirren. »Na?«
Sie starrte auf die glitzernden Schlüssel. Der Wagen war so eine moderne Kiste – für sie sahen sie alle gleich aus. Aber schneller als der Lieferwagen war er bestimmt … Die Schlüssel flimmerten vor ihren Augen.
»Und was meinst du, was Christine jetzt drin macht? Sie ist ganz allein. Und das Telefon geht wieder.«
Sie schaute immer noch gebannt auf die Schlüssel. Räusperte sich. »Die wird nach dem Braten im Ofen sehen. Ich wette, der ist schon längst fertig.«
Er lachte kurz auf, wurde wieder ernst. »Du verstehst was von Psychokram und so, wie? Man lernt was, wenn man da drin ist, ja? Kann sogar sein, daß du recht hast. Wenn sie an den Ofen gedacht hat, ist sie jetzt in der Küche und jammert. Aber wenn nicht, wenn sie ihn vergessen hat, wenn sie doch schon an der Strippe hängt?« Die Schlüssel sprangen leicht hoch. »Na, wie wär’s damit?«
Ihre Hand bewegte sich nach vorn, ohne daß sie ihr den Befehl dazu gegeben hätte; angezogen von den klimpernden, glitzernden Autoschlüsseln, hob sie sich und kam auf Horsts Hand zu. Hatte sie erreicht. Ihre Finger streckten sich nach den Schlüsseln.
Horst zog die Hand zurück, lachte, holte aus und schleuderte die Schlüssel hinter sich in die dunklen Büsche.
Anita wandte sich um und ging zum Haus zurück.
»Ich hab noch Ersatzschlüssel!« rief Horst hinter ihr her.