Kapitel 17

Die verdammte Hammelkeule war natürlich völlig mißraten. Innen halb roh, außen schwarz gebrannt, die Kräuter verschrumpelt und die Knoblauchzehen, die sie so mühsam hineingebohrt hatte, verkohlt. Die Kartoffeln hatte sie zu salzen vergessen, und im Salat war dafür zuviel Salz.

Sie saßen am Eßzimmertisch. Sie hatte das geblümte Tischtuch von daheim aufgelegt und das schöne Geschirr, und überall Kerzen angezündet, damit man die Bücherwand nicht so sehen konnte. Und gegen den Brandgeruch hatte sie Räucherstäbchen angesteckt. Es half überhaupt nichts. In dem flackernden Kerzenlicht sah das schwarze Loch in der Einbauwand aus wie eine faulige Zahnlücke, und die Mischung von verkohltem Plastik, verbranntem Holz, feuchtem Teppich, Weihrauch und Knoblauch konnte einem den Magen auch ohne mißratenes Essen umdrehen.

Christine legte jedem ein Stück Fleisch auf den Teller, versuchte, es so zu drehen, daß man die angebrannten Stellen nicht so sah, häufte Kartoffeln drauf. Zu weich waren sie auch, sie fielen ihr fast vom Löffel. Horst entkorkte die Rotweinflasche. Anita schien Hunger zu haben. Sie schnitt ein Stück Fleisch ab und aß es schweigend.

Christine nahm ihr Glas: »Tralala – auf den netten Abend!«

Die anderen tranken, ohne mit ihr anzustoßen. Also trank sie auch, das ganze Glas auf einmal. Hielt es Horst auffordernd unter die Nase. Er goß es voll; Wein schwappte über, lief auf das Tischtuch.

»Idiot!« Christine trank vorsichtig etwas von dem Wein ab, stellte das Glas auf den Tisch und streute hilflos Salz über den Fleck. »Das ist noch von meiner Urgroßmutter. Sie hat es selbst bestickt. Für ihre Aussteuer.«

Horst streute Pfeffer auf den Fleck. »Gott sei Dank macht ja Rotwein keine Bierflecken.« Wieder lachte er seine blöde Lache und schaute beifallheischend zu Anita hinüber.

Anita kaute.

Christine legte eine Serviette über den Fleck. Okay, sie würde jetzt nicht durchdrehen; sie würde so tun, als sei ein Fleck auf dem besten Tischtuch überhaupt nichts weiter. Sie konnte natürlich auch versuchen, es in die Waschmaschine zu geben, aber dann würden die Farben der Stickerei leiden. Reinigen, sie würde es reinigen lassen. Aber vielleicht würde der Fleck nicht rausgehen dabei; dann wäre er für immer auf dem Tischtuch … Sie trank einen Schluck, als könnte sie dadurch alles ungeschehen machen.

»Ich weiß noch«, sagte sie leise, »wie wir bei meiner Großmutter zu Besuch waren. Da lag auch immer diese Decke auf dem Tisch.«

»Na, dann ist sie ja einiges gewohnt.« Horst hatte noch nichts gegessen.

»Zu Weihnachten gab es immer Sekt. Einmal hat mein Vater sein Glas umgestoßen. Es war ihm schrecklich peinlich. Da nahm meine Großmutter ihr Glas und schüttete es auch über den Tisch.« Sie wartete auf eine Reaktion. Nichts geschah. »Das hat sie getan, damit es meinem Vater nicht so peinlich war!«

Horst hob sein Glas und hielt es, als wollte er es auch über den Tisch kippen. Er wartete darauf, daß sie schrie, daß sie ihm das Glas wegnahm, daß sie ihn anflehte. Sie preßte die Lippen zusammen und sagte nichts. Er grinste und stellte das Glas wieder hin.

»Und dann hat deine Großmutter das Tischtuch sofort in die Waschmaschine geworfen.«

»Nein.« Es war ihr rausgerutscht, ohne daß sie wollte.

Er grinste stärker. »Nein? Hatte sie etwa keine Waschmaschine? Wie hat die das nur überlebt? Wie alt ist sie geworden? Siebenundachtzig? Na sag mal, und das ohne eine einzige Waschmaschine?«

Jetzt antwortete sie nicht. Den Erfolg würde sie ihm nicht gönnen. Sie schnitt ein Stückchen Fleisch ab und schob es in den Mund. Horst wandte sich an Anita.

»Sie hat nämlich eine sehr glückliche Kindheit gehabt. Behütet, weißt du. Wohlhabende Eltern. Höhere Tochter und so.«

Anita sagte nichts.

Das Fleisch war zäh und ließ sich nicht kauen. Christine schluckte das ganze Stück runter und spülte mit Wein nach. Horst schaute sie an, dann sah er zu Anita. Grinste, obwohl die beiden nicht zu ihm hinsahen, nur über ihre Teller gebeugt dasaßen. Anita hatte schon die ganzen Kartoffeln gegessen, das Fleisch lag noch auf dem Teller. Horst seufzte auf und nahm Messer und Gabel.

»Da ist ja Knoblauch dran«, sagte er und legte die Gabel wieder hin.

»Na und?«

»Du weißt genau, daß ich keinen Knoblauch mag.«

»Das ist das erste, was ich höre. Nach immerhin …« Sie rechnete an den Fingern nach: »… zehn Jahren. Nach immerhin zehn ganzen Jahren magst du plötzlich keinen Knoblauch mehr.«

»Ich mochte ihn noch nie.«

»An Hammel gehört aber Knoblauch.«

»Hammel kann ich nicht ausstehen.«

Sie sahen sich an. Horst wartete darauf, was sie jetzt sagen würde. Aber sie konnte sich beherrschen. Sie lächelte und aß eine Kartoffel.

»Und wenn, dann gehört Reis zu Hammel.«

»Erstens haben wir keinen Reis im Haus, und zweitens gehen Kartoffeln genauso.«

Anita schwieg.

Er ließ sein Messer auf dem zähen Fleisch herumhopsen. »Der ist vermutlich auch aus der Generation deiner Großmutter.«

Sie kaute die Kartoffeln, trank einen Schluck Wein, sagte nichts. Er klatschte das Messer flach auf die Kartoffeln. »Und die kommen wohl aus dem Bunker deiner Urgroßmutter. Oder nannte man das anders? Miete oder wie?«

»Erstens …« Sie schluckte runter und überlegte, was sie sagen konnte. Kühl bleiben, überlegen; sie würde sich nicht provozieren lassen, nur weil er aus so einem gestörten Elternhaus kam. »Erstens war das nicht meine Urgroßmutter, sondern das waren meine Eltern, und auch das nur in den allerersten Jahren nach dem Krieg.«

»Klar, danach hattet ihr ja genug zu fressen.«

»Essen!«

»Wie auch immer.« Er wandte sich wieder an Anita: »Die Hülle, die Fülle. Du mußt wissen, sie kommt aus einem Haus, in dem es immer alles gab. Reichlich. Im Krieg und nach dem Krieg. Alle hatten sich lieb und ausreichend zu essen und anzuziehen. Sollten die anderen ruhig hungern und frieren.«

Sie war immer noch völlig ruhig; und sie bewunderte sich selbst dafür. Man stritt sich nicht, wenn Gäste da waren. Und sonst … Sie hatten sich noch nie gestritten. Nie richtig gestritten … Sie spürte so ein albernes Würgen im Hals und trank hastig einen Schluck Wein. »Mein Vater ist Kaufmann.«

Horst lachte laut und warf auch sein Messer auf den Tisch. »Na klar – nichts weiter als Kaufmann. Er war auch nie irgendwie politisch. Wenn er in die Partei eingetreten ist, dann nur wegen seiner Kunden.«

»Das ist nicht wahr!« Sie schielte zu Anita, aber die schien sich um ihren Teller zu kümmern. »Es ist nicht wahr«, sagte sie mit unterdrückter Stimme. »Er hat es gemacht, weil man das damals mußte.«

»Komisch, daß nicht alle mußten.«

»Mein Vater hatte immerhin eine gewisse Stellung in der Stadt, in der wir wohnten, und er …«

Horst unterbrach sie: »Ich wette, er hat einer Menge Menschen das Leben gerettet.«

»Hat er auch.«

»Klar, jedem einzelnen aus seiner Familie.«

»Und was hat dein Vater getan?«

»Was weiß ich!« Er lachte wieder. »Ich hab ihn nicht zu Gesicht bekommen.«

»Aber deine Mutter, die war eine Heilige, oder?«

»Sie hat jedenfalls keine Kriegsgeschäfte gemacht, und sie war nie in der Nazipartei drin.«

»Nein, aber in einer anderen.«

Jetzt hatte sie ihn. Sie sah es an seinem Gesicht. Sie hatten nie darüber gesprochen; es war ein Tabu, und beide hatten es respektiert. Er hatte noch nie über ihren Vater gesprochen und sie nie über seine Mutter. Er würgte. Konnte nichts mehr sagen. Sie sah triumphierend zu Anita hinüber.

»Sie ist Kommunistin, weißt du?«

»Quatsch.« Er steckte sich eine Zigarette an, wendete sich an Anita. »Alles Blödsinn! Vor dreiunddreißig, ja – war meine Mutter in der KPD … So ein Blödsinn! Nach dem Krieg, da hatte die genug damit zu tun, mich hochzubringen, ganz ohne Mann.«

»Und sie ist es immer noch!«

Er wandte sich wieder ihr zu. Sein Gesicht war bleich, nur auf den Wangen hatte er rote Flecken. Die hatte er nur, wenn er besoffen war oder wütend. Seine Stimme klang leider nicht wütend. Nur kalt. »Dein Vater, der ach so geliebte, der hat immer nur Geschäfte gemacht – mit den Nazis, nachher auf dem Schwarzmarkt, und heute unter jeder Partei.«

»Und du bist auch so einer.«

»Hä?« Er starrte sie an, sein Gesicht bekam wieder Farbe; er trank einen Schluck Wein, sah sie verständnislos an.

Aber sie wollte nicht aufgeben. »Warst du doch immer schon. Nie hast du mir was gegönnt. Immer hast du dich aufgeführt, wegen jedem Scheiß, den ich gekauft hab. Da kannten wir uns noch nicht mal zwei Wochen. Da hab ich mir einen Rock gekauft. Nur für dich. Und das einzige, was du gesagt hast …«

Er unterbrach sie, nahm sein Messer wieder auf, wedelte damit in der Luft herum: »Ach Gott, jetzt kommt sie mit diesem alten Mist! Weil sie noch nie was anderes im Kopf hatte als Klamotten und Möbel und Einkaufen. Frigide im Bett und unheimlich geil im Kaufhaus.« Er sah sie an, grinste, brauchte nicht mal mehr zu Anita hinüberzuschauen. Er war ganz oben, fühlte sich top. Schlug mit dem Messer auf das kalte Hammelfleisch auf seinem Teller, auf dem sich schon weißer Talg bildete. »Und diesen Fraß hier, den kannst du selber in dich reinwürgen, wenn dir das schmeckt. Höhere Tochter! Hausfrau … Nicht mal das!« Er lehnte sich zurück, paffte an seiner Zigarette und spielte mit dem Weinglas zwischen seinen Fingern.

Sie haßte ihn. Er hatte alles kaputtgemacht, woran ihr etwas lag. Alles. Und zwar mit Absicht. Hilfesuchend sah sie zu Anita.

Die legte eben Messer und Gabel weg. »War doch gut – wieso?«

Christine sprang auf und rannte hinaus. Es war ihr egal, ob jemand hinter ihr herkam oder nicht. Sie würde es den beiden schon zeigen. Das würde sie. Sie stolperte ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Lief zum Badezimmer hinüber. Ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Sah in den Spiegel. Schaute sich an. Sie war hübsch. Ach was – sie war schön. Alle in ihrer Klasse hatten das gesagt, und ihre Mutter und ihre Großmutter. Die hatten völlig recht gehabt. Sie hätte alles bekommen können. Jeden Mann. Aber auch jeden …

Sie dachte an Frank; der war jetzt in Bonn. Und Peter, der war Oberbürgermeister in … Na ja, das hätte sie vielleicht doch nicht gewollt. Aber Martin, der war Professor an der Uni in Bochum. Okay, schön – Bochum war nicht eben ihr Traum. Aber dann eben Erwin. Erwin hatte immer unheimlich auf sie hingesponnen; der hätte sie gleich nach der Schule geheiratet, und seine Eltern hatten eine Schuhfabrik. Und er selber war jetzt Manager bei einer amerikanischen Firma in Düsseldorf … Das wäre schon nicht schlecht – Düsseldorf … Alle sagten, daß es dort unheimlich in war, alles. Und dann natürlich Pauli. Der kleine Pauli. Die Eltern von dem wohnten in so einem kleinen Holzanbau, und er war auch kleiner als sie. Eben, der kleine Pauli. Aber der hatte was. Der hatte wirklich etwas drauf. Klein und picklig, aber wie er sie einmal geküßt hatte, bei einer bestimmten Gelegenheit … wenn er nur nicht so klein gewesen wäre. Und jetzt? Jetzt war er Programmdirektor bei so einer Fernsehanstalt. Und mit einer anderen verheiratet. Sie hatte gehört, daß er vier Kinder hatte. Die Frau war sicher so eine kleine Graumaus aus dem Büro. Geschah ihm grad recht.

Sie schaute wieder in den Spiegel. Voller Selbstmitleid. Alles versaut und beschissen. Was hatte denn dieser dämliche Horst schon gehabt, damals? Leichtathletik-Jugendmeister – wenn das schon was war … Sie sah in den Medizinschrank neben dem Spiegel. Zog die Tür auf, schaute in den Schrank. Alles schön weiß und sauber und geordnet. Neben dem Aspirin-plus-C lag ein uraltes grau-weißes Röllchen Dolestan. Schlafmittel. Heute nicht mehr erhältlich. Ohne Rezept jedenfalls. Aber sie hatte es noch … Christine zog das Glasröhrchen aus der Packung. Es war noch fast voll.

Plötzlich lächelte sie ihrem Spiegelbild zu. Sie war sehr viel hübscher, wenn sie lächelte. Sie ließ das Röhrchen in die Tasche gleiten und wandte sich um.

Sie standen direkt hinter ihr. Horst und diese Anita.