Irgend etwas stimmte nicht. Christine war fröhlich und ausgelassen, aber er hatte vorhin im Bad ihr Gesicht gesehen. Er kannte sie. Sie führte etwas im Schilde … Schon wieder lachte sie so übertrieben.
Sie saßen am Küchentisch und spielten so ein albernes Würfelspiel, bei dem Christine immer gewann. Auch jetzt. Aber das war noch lange kein Grund für dieses Getue. Sie würfelte eine Straße, trug sie sorgfältig auf ihrem Block ein, sah triumphierend um sich und gab den Lederbecher weiter. Anita würfelte, Christine beugte sich zu ihr hinüber und erklärte ihr hilfsbereit, was sie alles mit den Zahlen anfangen konnte. Fehlte noch, daß sie für sie weitergewürfelt hätte.
Anita machte alles mit. Sie war den ganzen Abend schon abwesend und in sich gekehrt.
Wieder lachte Christine laut auf. Gab ihm den Würfelbecher. Strahlte ihn an. Anita fiel nichts auf. Sie trank ab und zu einen Schluck aus ihrem Weinglas, starrte vor sich hin, schien an andere Dinge zu denken. Er würfelte dreimal und trug irgend etwas auf seinem Block ein. Merkte an Christines hämischem Lachen, daß er nicht optimal überlegt hatte. Reichte ihr den Becher weiter. Er mußte rausfinden, was sie vorhatte. Er beobachtete sie.
Ihr Gesicht war glatt und hübsch. Wenn sie sich so wie jetzt konzentrierte und gleich wieder übermütig auflachte, sah sie aus wie zwanzig. Ihr Haar wirkte im Lampenlicht fast blond und lag in weichen Locken um ihren Kopf. Unschuldig sah sie aus. Wenn er nur daran dachte, daß er sich mal echt in sie verknallt hatte … Oder war es das gar nicht gewesen? Alle anderen waren hinter ihr hergewesen. Sie war mit Abstand das hübscheste Mädchen in der Gruppe, und außerdem war sie die Tochter vom alten Härtlein. Das hatte ihm damals noch imponiert. Ihre Eltern hatten ihn nie voll akzeptiert, aber er hatte es geschafft. Ihn hatte sie geheiratet … Zehn Jahre.
Er war wieder dran mit Würfeln und tat so, als dächte er an nichts anderes als an seine Punktzahl.
Er hatte eigentlich immer getan, was man von ihm erwartete. Erst seine Mutter, dann Christine. Dieser Werbejob. Okay, da konnte er mehr Geld verdienen als sonstwo, aber wenn er, wie er es vorgehabt hatte, zur Zeitung gegangen wäre, dann könnte er jetzt doch auch schon was sein. Und wenn nicht. Spaß machen würde es … Er gab den Würfelbecher weiter und sah unauffällig zu Christine hin. Scheidung? Wenn er ganz ehrlich war, dann hatte er schon oft dran gedacht. Aber nie so richtig. Noch mal ganz neu anfangen. Ein anderer Job, eine andere Frau. So eine wie Anita, nur nicht so verrückt. Er schaute zu ihr hinüber. War sie denn wirklich verrückt? Wer war denn hier der wirklich Verrückte? Christine mit ihrem blöden Kleinmädchengekicher? Oder er mit seinen Verklemmungen? Okay, er würde es machen. Er würde sich scheiden lassen. Die neuen Scheidungsgesetze konnten ihn mal. Er würde den Job kündigen, sollte die Fischer ihn haben, und was ganz anderes machen. Noch mal studieren. Seinen Doktor bauen … Nein, das nicht. Zur Zeitung gehen. Irgendwo in die Provinz, wo ihn keiner kannte. Na ja, war auch nicht so einfach. Und wenn schon – wenn er nicht viel verdiente, dann konnte er ihr auch nicht viel zahlen … Oder er würde schreiben. Nichts Großes, aber Serien oder Berichte. Verdammt, schreiben konnte er schließlich, und Leute kannte er auch genug. Und außerdem konnte die blöde Ziege doch selber auch was tun. Oder Papa konnte sie wieder daheim aufnehmen. Der hatte doch genug Geld. Mann, er war schließlich noch nicht mal 35. Jung. Mitten im Leben. Wenn er in eine Diskothek ging, dann würden die jungen Mädchen … Na klar, diese Kleine vom Empfang. Die flogen doch auf ihn. Nein, nicht so eine wie Anita. Eine ganz Junge, die er … mit der er … Da war es auch wieder gut, wenn man etwas älter war, Erfahrung hatte. Er würde das doch alles heute ganz anders machen …
Schon wieder war er mit dem Würfeln dran. Er schüttelte den Becher. Schüttelte. Grinste. Er konnte nicht verhindern, daß er grinste.
Christine sah ihn an. »Hat sich schon mal einer totgeschüttelt.«
Er schüttelte weiter. Lächelte jetzt, oder glaubte jedenfalls zu lächeln. »Sag mal, was würdest du davon halten, wenn wir uns scheiden lassen?«
»Gute Idee.«
»Ja, nicht wahr?« Wieso reagierte sie so gelassen. Anita sah nicht einmal auf. Er würfelte, hatte zwei Sechsen und eine Fünf. Er trug es ein und gab den Becher weiter.
Christine sah ihn an, legte den Kopf schief. »Armer Horst. Immer muß er verlieren.«
»Nicht immer.« Er war sicher, daß er das gelassen und überlegen rausgebracht hatte.
Sie lächelte immer noch. »Du kennst doch die neuen Scheidungsgesetze?«
»Klar.« Jetzt grinste er sie offen an. »Klar kenn ich die. Aber du offenbar nicht. Sie zwingen mich nicht, weiter in dem Job zu bleiben, aber sie werden dich zwingen, auch mal was zu tun. Außer Staubwischen und Abwaschen und Einkaufen.«
Sie hörte gottverdammt nicht auf zu lächeln. Ließ ihre Würfel über den Tisch rollen. »Ich hab gewonnen … Leute, was haltet ihr davon, wenn wir feiern? Meinen Sieg, die Scheidung, einfach alles?« Anita lächelte abwesend. Christine schubste sie leicht. »Heh, Anita, komm, wir feiern! Wie wär’s mit einem feinen Rumpunsch? Hm?«
»Danke, nicht für mich.« Sie verzog das Gesicht, lächelte gleich darauf entschuldigend. »Aber laßt euch nicht abhalten, wenn es was zu feiern gibt.« Sie hatte überhaupt nicht zugehört.
»Ohne dich macht’s keinen Spaß.« Christine beugte sich zu Anita hinüber und gab ihr einen Kuß. So wie sie es immer bei ihm machte, wenn sie mit anderen Leuten zusammen waren. Ganz die liebe kleine Christine. »Du bist doch der Grund, Horst hat sich nämlich in dich verknallt, und jetzt will er sich von mir scheiden lassen.«
»Ich denke, du willst auch?«
»Klar, schon lange.« Wieder strahlte sie ihn an. Aber da war wieder dieser Ausdruck in ihrem Gesicht, den er vorhin im Bad bemerkt hatte. Sie stand auf. »Gehen wir ins Wohnzimmer rüber, mir tut das Kreuz weh.« Wieder blieb sie hinter Anitas Stuhl stehen, legte die Arme um sie und zog sie mit hoch. »Komm, die Nacht ist noch lange nicht rum!« Sie lachte. »Und wir müssen sie noch ausnützen, bevor du uns wieder in den Keller sperrst.«
Anita stand auf, berührte Christines Gesicht kurz und lächelte Horst zu. »Stimmt«, sagte sie leise, »die Nacht ist noch nicht rum … Es gibt auch Nächte, die nie vorbeigehen.«
Einen Moment lang glaubte er, sie würde vorgehen, aber sie ließ Christine zuerst durch die Tür, dann sah sie ihn an, und dann erst kam sie.
Im Wohnzimmer tänzelte Christine auf den Plattenspieler zu und summte dabei vor sich hin.