Die Schmerzen kamen in kurzen Anfällen und gingen dann wieder. Sie durfte sich nur nichts anmerken lassen. So neu war das ja schließlich nicht … Wieder! Sie zwang sich zu einem Lächeln und ließ sich in einen Sessel fallen. Christine legte eine alte Bing-Crosby-Platte auf und brachte die Weinflasche zum Tisch. Anita krümmte sich unauffällig zusammen. Preßte ihre Hand gegen den Bauch. Dann war es wieder zu ertragen; nur die Herzschläge pochten viel zu tief. Sie stand auf und ging hinaus. Sie sahen ihr nach. Sollten sie doch. Es war ihr egal. Alles war plötzlich egal. Sie schloß sich auf dem Klo ein. Sollten sie doch die Tür aufbrechen. Sollten sie doch mit Maschinenpistolen über sie herfallen. Sie hätte gern geweint. Es ging nicht. Nichts ging mehr. Die ganzen Körperfunktionen waren durcheinander. Sie spülte und wusch sich die Hände. Beugte sich über das kleine Waschbecken und kühlte ihr Gesicht mit Wasser. Kaltes Wasser. Sie wäre gern draußen gewesen, an einem Bach oder im Wald. Raus aus diesem Haus, weg von diesen Leuten. Sie schloß die Tür auf und ging ins Wohnzimmer zurück. Halb erwartete sie, dort von Polizisten empfangen zu werden. Aber da waren nur Horst und Christine. Er saß immer noch auf dem Sofa, sie tanzte allein im Zimmer herum. Sie hatten sich wieder angegiftet. Das konnte man förmlich riechen. Anita ließ sich auf ihren Sessel fallen.
Gestern war plötzlich wieder da. Und vorgestern, und die Wochen davor. Die Linoleumböden, die fahlen Kacheln an den Wänden, die Eisenbetten mit den Lederriemen zum Festschnallen. Das Mädchen im Bett neben ihr. Wer schlief wohl jetzt in ihrem Bett, oder in dem anderen, das auch leer war, nachdem … Angerfeldt. Erika Angerfeldt. So hatte sie geheißen; jetzt war sie vermutlich nur noch eine Nummer in der Registratur. Anita sah das Gesicht deutlich vor sich. Sie sah ein Lächeln in den stumpfen Augen und die Hände, die absichtlich langsamer arbeiteten, um ihr zu zeigen, wie man diese komischen Stecker zusammensetzte. Sie hätte mit ihr reden sollen, einfach nur so … Sie hätte nicht geantwortet. Sie hatte sich irgendwann in ihrem Leben geweigert, zu antworten, wenn sie angesprochen wurde, und sie hätte auch ihr nicht geantwortet. Aber sie hätte ihre Stimme gehört, da war sich Anita ganz sicher. Sie hätte sich gefreut, vielleicht, irgendwie, auf ihre Art. Und die anderen, die, die immer von ihr weggerückt waren, weil sogar durch diese Mauern ihre Geschichte gedrungen war: Mörderin. In der Abteilung waren sicher noch andere, die … Sie hätte doch mit ihnen reden können; man kann mit jedem reden. Reden. Anna und Rosie. Sogar die beiden hatten gelächelt, als sie mit ihnen gesprochen hatte. Es war lächerlich. Alles war nur lächerlich. Da waren zwei Mädchen, eines vom Land, eines in der Anstalt alt geworden, nie richtig ausgebildet für das, was sie da tun mußten, und immer nur Angriffen ausgesetzt … Wie sollten sie da anders reagieren? Die Frau, die schon soweit war, daß sie im Garten arbeiten durfte. Der sie vielleicht den Vergünstigungsjob weggenommen hatte, die aussah wie eine verhärmte Mutti … Mutti. Ihr Vater hatte nie von ihrer Mutter gesprochen. Sie war bei einem Autounfall umgekommen. Sie hatte immer gedacht, ihre Eltern seien sehr glücklich gewesen. Jetzt war sie sich nicht mehr sicher.
Horst und Christine tanzten. Obwohl sie sehr eng tanzten, schienen sie sehr weit voneinander entfernt zu sein. Sie lächelten sich an, aber das Lächeln stimmte nicht. Nichts stimmte mehr.
Wenn ich wieder dahin zurückgehe, dachte Anita, dann stimmt es wieder. Dann ist wieder alles in Ordnung. Der Tag, die Nacht, jede Stunde, jede Minute.
Plötzlich war Christine bei ihr, umarmte sie von hinten. »Sag doch, was mit dir los ist!« Sie schmiegte sich an sie. Horst schaute zu.
»Nichts weiter. Bißchen Bauchweh. Nichts weiter.«
»Ach, du Arme, warum sagst du das nicht gleich? Diese blöde Hammelkeule; die war ja auch wirklich scheußlich … Paß auf, ich hab einen prima Kräuterschnaps im Haus. Magst du?«
Sie nickte, um sie wieder loszuwerden. Wenn sie zurückginge, dann wäre alles wieder so, wie es sein sollte.
Christine lief hinaus in die Küche, Horst kam zu ihrem Sessel. Setzte sich auf ihre Lehne. Streichelte sie. Redete leise auf sie ein. »Mach doch nicht so ein Gesicht; wir helfen dir, ehrlich, du brauchst keine Angst zu haben. Am Montag hol ich Geld von der Bank, und dann kannst du mein Auto haben, alles, ehrlich!«
Sie schaute zu ihm hoch. Sein Gesicht war viel zu faltig für einen so jungen Mann. Sie lächelte. »Weißt du«, sagte sie sehr leise, mehr zu sich, »die Verrückten sind gar nicht verrückt. Sie sind die wirklich Normalen.«
Er verstand nichts, vielleicht hatte er auch gar nicht zugehört. Er lächelte, weil er eigentlich fast immer lächelte. Sie wandte den Kopf ab.
Christine kam aus der Küche, in einer Hand eine Flasche Kräuterlikör, in der anderen ein kleines, geschliffenes Glas, bis zum Rand dunkel gefüllt. Sie drückte ihr das Glas in die Hand. »Hier, du wirst sehen – das hilft garantiert.« Sie sah zu Horst. »Noch jemand ohne?«
Anita nahm das Glas und probierte. Es schmeckte grauenhaft.
Bitter mit einer Spur Süße. Sie wollte es abstellen. Christine schüttelte den Kopf.
»Nein, das trinkst du aus!«
Anita trank es aus. Vielleicht half es ja wirklich, scheußlich genug war es. Christine holte sich aus dem Wohnzimmerschrank ein anderes Glas und schenkte sich auch ein.
»Das ist der echte und gemeinste Magenputzer.« Sie trank.
Anita stellte ihr Glas weg. Es war leer. Horst und Christine sahen sich an. Sie lachte, er war ernst. Komisch, wenn er ernst war, dann sah er viel älter aus. Sie sahen sich nur an. Sagten nichts, taten nichts … Das Mädchen im Bett neben ihr hatte etwas getan. Sie hatte sich gewehrt. Sie hatte um sich geschlagen und gebissen und geschrien. Jetzt schlief sie. Es war spät, sie hatte ihre Spritze bekommen und schlief. Die anderen auch. Schlaf.
Sie mußte sich überlegen, wie sie es in der Nacht anfangen würde. Sie mußte sich etwas ausdenken. Die beiden tanzten jetzt. Die Initiative ging eindeutig von Christine aus. So eine italienische Platte aus den 50er Jahren. Schnulze. Anita kicherte unkontrolliert vor sich hin. Merkte, daß Christine zu ihr herüberschaute, und wurde sofort wieder ernst. Irgend etwas spielte sich zwischen den beiden ab. Sie wußte nur nicht, was es war. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Sie hatte ihre eigenen … Zurück? Wohin zurück … Müde … Ihr Kopf sank gegen die Lehne. Sie bemerkte den Blick von Christine. Richtete sich wieder auf. Die beiden tanzten weiter. Sie mußte sich einfach anlehnen … Kopf so schwer … Schlafen … Aufpassen …
Sie schreckte auf.
Die Musik war zu Ende. Horst drehte die Platte um. Anita lächelte. Nein, die beiden würden sie nicht verraten. Und wenn schon. Egal … Sie schmiegte sich in den weichen Sessel. Es roch immer noch nach Verbranntem. Nicht einschlafen … Sie schloß die Augen. Nur eine Sekunde, nur eine ganz kleine Sekunde …
Die Musik setzte wieder ein.