Kapitel 20

Christine drehte sich und sah zu Anita hinüber. Sie lag halb zusammengekrümmt im Sessel, den Kopf gegen die Rücklehne gestützt, und hatte die Augen geschlossen. Sie durfte ihr trotzdem nicht trauen. Sie hatte in den letzten Minuten immer wieder die Augen zugemacht, und dann, als sie sich schon völlig sicher fühlte, hatte sie sie doch wieder dabei erwischt, daß sie blinzelte und sie beobachtete. Sie vollendete die Drehung und wandte sich wieder Horst zu.

Horst starrte sie dauernd so komisch an. Sie lächelte, er blieb ernst. Sie tanzte auf ihn zu, hob die Arme, um ihn zu sich herüberzuziehen und zu küssen. Genau in dem Augenblick war die Nummer auf der Platte zu Ende, und Horst wandte sich abrupt von ihr ab. Er schenkte sein Glas voll und sah sie beim Trinken an.

»Is’ was?« Sie kicherte.

Er reagierte nicht, hatte eben bemerkt, daß Anita zu schlafen schien. Er ging zum Plattenspieler und nahm den Tonarm von der Platte, als gerade die nächste Nummer anfing. Es gab ein kratzendes Geräusch.

»Mußt du denn immer alle meine Platten kaputtmachen?«

Er ging mit seinem schon wieder leeren Glas zur Flasche. »Großer Verlust ist es nicht.«

»Für mich schon.« Ihre Stimme war schrill, aber es störte sie nicht, jetzt nicht mehr. Sie schrie: »Mit deinen Platten bist du ja auch so pingelig, da darf keiner sonst ran – aber meine, die kann man ja ruhig zerkratzen!«

»Weil ich sie nicht mehr hören kann«, sagte er ruhig, »diese Primitivschnulzen. Du hast den Geschmack eines Pipimädchens.«

»Oh, wie gewählt du dich ausdrücken kannst! Aber es muß schon stimmen, sonst hätte ich dich schließlich nicht geheiratet.«

Er drehte sich langsam zu ihr um und sah sie an. Sie erschrak. Sein Gesicht war blaß, die Falten neben seinem Mund schienen wie aufgemalt, und seine Augen brannten. Das liegt an dem trüben Licht, versuchte sie sich einzureden, oder er hat wieder mal zuviel gesoffen. Aber sie wußte, daß das nicht stimmte. Sie wollte etwas sagen, irgendeine alberne Bemerkung zum Ablenken, aber er drehte sich schon wieder weg. Sah zu Anita hinüber. Die hatte sich nicht bewegt, auch nicht, als sie so laut geschrien hatten. Also schlief sie endlich. Christine konnte das aufsteigende Triumphgefühl nicht unterdrücken; sie versuchte es auch gar nicht. Sie hatte es geschafft. Ihr war es geglückt … Tief und fest wie ein Baby. Widerwillig mußte sie zugeben, daß Anita im Schlaf wirklich aussah wie ein kleines Mädchen. Das schmale Gesicht war völlig entspannt, sie schien sogar zu lächeln. Wenn sie wach war, dann sah man nur ihre riesigen Augen, aber jetzt lenkten sie nicht mehr ab davon, daß Anita schön war, auf eine andere Art als sie selber, aber es war nicht zu übersehen … Ihr Blick fiel auf Horst. Horst sah auf Anita hinunter, und man brauchte kein Psychologe zu sein, um seine Gedanken zu erraten.

»Sie schläft«, sagte Christine überflüssigerweise.

Horst hörte sowieso nicht hin. Er starrte verzückt auf Anita, dann ging er zur Couch, nahm die Decke auf und breitete sie sanft über Anita. Er beugte sich dabei so tief über sie, daß Christine glaubte, er wolle sie küssen.

»Bist du übergeschnappt?« zischte sie. Er richtete sich auf und drehte sich zu ihr um, immer noch diesen idiotischen Gesichtsausdruck in der Fresse.

»Aber sie schläft. Sie wird frieren.«

»Ist das alles, an was du denken kannst?«

»Wieso?« Er füllte sein Glas, sah immer wieder zu Anita hin.

»Weil sie eine Pistole hat! Weil wir jetzt zum erstenmal die Möglichkeit haben, sie zu überwältigen … Wieso! Wieso! Mein Gott, wie kann man nur so dämlich sein!« Sie ging zu Anita, zögerte kurz und lauschte auf ihre tiefen, regelmäßigen Atemzüge. Dann beugte sie sich vor, zog die Decke zurück und faßte in die Tasche der Cordjacke. Ihrer eigenen Cordjacke …

»Leg das weg!«

»Na endlich!« Es hatte fast hysterisch geklungen. Christine zog sorgfältig die Decke hoch, richtete sich auf und betrachtete verwundert die Waffe. Das Ding war schwerer, als sie gedacht hatte. Ihr Finger strich über den geriffelten Griff, berührte den kleinen Hebel, der am Ende auch eine Längsriffelung hatte, und hob den kurzen, stumpfen Lauf.

»Leg’s weg!« jetzt schrie er schon.

Sie lächelte. »Los – ruf die Polizei an!«

Er bewegte sich nicht, glotzte nur immer verschreckt auf die Pistole.

Sie lachte. »Du brauchst keine Angst zu haben, sie wird nicht aufwachen. Ich hab ihr genug Dolestan in den Kräuter getan, das reicht für Stunden.«

»Was hast du getan?« Zum erstenmal wandte er den Blick von der Pistole und starrte sie an.

Sie lachte. Es ging nicht anders, als sie sein dämliches Gesicht sah, mußte sie lachen. »Du brauchst nicht gleich loszuheulen. Sie wird schon wieder aufwachen. Allerdings in etwas anderer Umgebung. Ich hab gehört, daß sie sie anschnallen. Aber das mit dem Brot und Wasser ist wohl überholt, oder?« Er sah immer noch sie an und nicht die Pistole. Er schien heute ziemlich langsam zu kapieren, aber dann konnte sie es sehen – wie die Lämpchen in einem Flipper sah sie seine Gedanken aufblitzen. Und dann hatte er wieder diesen Ausdruck von vorhin.

»Das war es also! Ich hab mir schon so was gedacht, als ich dich im Bad gesehen hab … Hat auch seine Nachteile, wenn man sich so gut kennt.« Jetzt verzog er den Mund leicht, vermutlich glaubte er zu grinsen.

Sie deutete mit der Pistole auf das Telefon. »So ruf doch schon die Polizei an!«

Sie sah die Szene schon vor sich. Die heulenden Sirenen, die flackernden Blaulichter, die Nachbarn, die aus ihren Häusern gelaufen kamen, in aller Eile nur die Mäntel über den Nachthemden. Neugierige Gesichter, Gemurmel; Männer in schwarzen Lederuniformen schleppten Anita aus dem Haus, um die Handgelenke blinkende Handschellen, und dann kam auch schon die Presse, vielleicht sogar das Fernsehen … Blitzlichter, Scheinwerfer, Mikrofone. Und mittendrin sie. Blond und schön und mit einer Pistole. Na ja, die würden sie ihr vermutlich wegnehmen, als Beweismaterial, aber trotzdem … Horst hatte eben etwas gesagt.

»Was sagst du?«

»Nein.«

»Was nein?«

»Ich werde nicht anrufen.« Er stellte sein Glas weg. »Ich denke nicht daran, sie bei der Polizei zu verpfeifen.«

»Verpfeifen? Das nennst du verpfeifen? Sie hat uns bedroht, sie hat uns hier eingesperrt, sie hat uns …«

»Quatsch. Sie hat sich hier versteckt, und sie hat keinem von uns was getan. Ich denke nicht daran, sie zu denunzieren. Etwas anderes ist das doch nicht. Sie ist hilflos genug.« Er ging zur Tür.

Christine sah ihm fassungslos nach; dann rannte sie hinterher. »Du rufst sofort an!«

Er antwortete nicht. Ging ins Schlafzimmer, setzte sich auf die Bettkante und begann seine Schuhe auszuziehen. Sie baute sich vor ihm auf, wedelte mit der Pistole herum.

»Das ist es also! Du hast dich echt in sie verknallt, du willst sie retten … Wie edel!«

Er hatte einen Schuh abgestreift und machte sich ruhig an den zweiten. Sie keifte.

»Du brauchst gar nicht erst zu lügen. Du hast mich immer schon betrogen, und immer mit diesem Typ, diese Rehaugen, bei denen du das Gefühl haben kannst, daß du der große Zampano bist!«

Er hatte den zweiten Schuh abgestreift und zog auch die Socken aus, stand auf und zog den Reißverschluß seiner Hose herunter. »Ausnahmsweise hast du mal recht.«

»Womit?« Sie starrte ihn an. Sie hatte nicht erwartet, daß er es so einfach zugeben würde.

Er lächelte und zog die Hose aus. »Es gab immer andere Frauen.« Er knöpfte sein Hemd auf.

Sie dachte daran, daß sie es ihm gekauft hatte. Daß er es auch bei anderen Frauen aufgeknöpft hatte. »Du hast mich betrogen …« Sie konnte kaum sprechen. Sie war ihm immer treu geblieben, auch damals mit diesem Marco; sie hatte es sich verkniffen, weil sie an die Ehe geglaubt hatte, und er … Er …

Er hängte das Hemd über die Stuhllehne. »Übrigens war mir das ernst vorhin. Das mit der Scheidung. Ich hoffe, dir auch.«

Sie brachte keinen Ton hervor. Er hob die Schultern.

»Wenn nicht, ist es auch egal. Keine Kinder, kein Problem.« Er lächelte schwach. »Und keine Mäuse …« Er wurde wieder ernst, fast feierlich: »Die Hälfte der Hypothek übernehm ich natürlich.« Er wollte ins Bad, mußte an ihr vorbei.

Sie gab den Weg nicht frei. Sie hob die Pistole. »So einfach ist das nicht.«

Er wischte die Pistole mit einer Hand zur Seite. »Jetzt hör schon auf mit dem Quatsch! Außerdem ist sie nicht mal entsichert.«

Sie stellte sich breitbeinig ihm in den Weg, versuchte, den kleinen Hebel zu bewegen. Er saß fest. Ihr Fingernagel brach ab. Endlich ruckte er. »Nicht so«, sagte sie leise, »nicht so. Du übernimmst die Schuld, und du wirst zahlen. Nicht anders.«

»Schuld?« Er lächelte wieder. »Das gibt es heute nicht mehr. Und wenn, dann wären wir’s beide.«

»Aber du bist schuld!« Sie merkte, daß sie nahe dran war, loszuheulen. Sie schluckte krampfhaft. »Du bist allein schuld. Ich hab nie mit einem anderen Mann was gehabt. Niemals in all den Jahren! Nicht ein einziges Mal!«

»Arme Christine.« Er hob eine Hand und strich ihr über die Haare. »Arme kleine Christine …«

Seine Stimme klang weich, aber er grinste; er grinste ganz eindeutig. Ihr Zeigefinger kroch über den Abzugshebel und zog ihn durch. Ein Schlag riß ihren Arm zurück, der Knall betäubte sie fast, Putz rieselte von der Decke.

Horst starrte sie an, wich etwas zurück, stammelte. »Christine … Komm, hör auf zu spinnen … Laß uns reden …«

Sie hatte noch immer den Knall in den Ohren, sah sein grinsendes Gesicht. Sie drückte wieder ab, noch einmal und noch einmal. Dann sah sie die Punkte auf seiner Brust, zwei, drei, vier. Größer werdend, sich langsam rot färbend. Rot.

Er stand immer noch. Sie drückte wieder ab, aber es kam nur ein trockenes Klicken. Er starrte sie an und grinste. Dann kam er auf sie zu. Sie schrie auf, wich zurück und zog sinnlos den Abzug durch, immer wieder.

Er schien noch zu gehen, ohne die Füße zu bewegen, nur sein Oberkörper kam auf sie zu, drehte sich mitten in der Bewegung, richtete sich wieder auf. Jetzt bewegten sich auch seine Beine. Aber nicht nach vorn, rückwärts. Dann stürzte er schwer zu Boden. Das dumpfe Geräusch, mit dem er auf dem weichen Teppichboden auftraf, war gegen die lauten Schüsse vorhin kaum zu hören.

Ihr schien es überlaut. Sie schrie auf und kniete neben ihn hin. »Horst! Horst!«

Er bewegte sich, er war nicht tot. Seine Hände tasteten nach Halt, er versuchte, sich aufzustemmen, das Blut färbte den Boden unter ihm dunkel.

»Horst«, murmelte Christine immer wieder, »Horst …«

Seine nackten Beine schrammten über den Boden, dann begann er zu zucken. »Horst«, kreischte sie. Er drehte unendlich langsam den Kopf und öffnete den Mund. Bewegte die Lippen. Hellroter Schaum kam heraus. Dann sank sein Kopf zurück.

Er sah sie an. Und grinste. »Christine …«

Nur ein Flüstern. Sein Mund hatte sich nicht bewegt. Es kam auch kein roter Schaum mehr. Er war …

»Christine.«

Sie schrie und fuhr herum. In der Tür stand Anita. Sie schwankte leicht, hielt sich am Rahmen fest, gähnte. Ihre Augen waren groß und dunkel. »Christine. … Was war das? Knallen …«

Sie mußte Horst sehen und den dunklen Fleck auf dem Boden. Christine sah nicht noch einmal hin. Sie stand auf und hob die Pistole. »Er ist tot«, sagte sie, und noch einmal lauter: »Er ist tot. Und du hast ihn getötet. Erschossen.« Sie hielt die Pistole jetzt flach in der Hand.

Anita wich zurück, mußte sich immer noch am Türrahmen festhalten, starrte an ihr vorbei auf Horst. »Nein, nein …« Sie schüttelte den Kopf so heftig, daß die Haare herumflogen und für Sekunden ihr Gesicht verdeckten. »Nein!«

»Doch.« Christine folgte ihr einen Schritt. »Du warst es. Die verrückte Mörderin, die alle Männer haßt. Ich werde die Polizei rufen, dann sperren sie dich endlich wieder ein.«

»Nein!«

Anita wandte sich um, rannte hinaus in den Flur, Christine hörte sie gegen irgend etwas rempeln, dann wurde die Tür aufgerissen und wieder zugeschlagen. Stille.

Christine wartete noch einen Augenblick, dann ging sie zurück und hockte sich neben Horst hin. Er sah sie an und grinste. Sie legte die Pistole neben sich. Er sah sie immer noch an. Sie empfand Ekel davor, ihn zu berühren, aber sie wußte auch, daß sie es tun mußte. Sie krallte die Hände zusammen, hob sie über sein Gesicht und schloß die Augen.

Als ihre Finger seine Haut berührten, zog sie zwei Streifen über seine Backen herunter. Öffnete die Augen. Es war nichts zu sehen. Sie kratzte noch einmal und noch einmal, schlug ihre Fingernägel, so tief es ging, in seine Haut und zog sie herunter. Endlich bildeten sich rötlich-weiße Linien. Über der Nase begann seine Haut sich gelb zu färben.

Sie nahm die Pistole und stand auf. Sie dachte nicht in klaren Sätzen oder nach einem bestimmten Plan, aber sie war überzeugt, alles zu tun, was gut und richtig war. Sie ging ins Badezimmer, legte die Pistole auf den Klodeckel und ließ das Wasser laufen. Heiß, so heiß, daß es sie fast verbrühte. Rieb ihre Hände mit Seife ein und schrubbte mit der Bürste unter den Nägeln. So lange, bis sie es vor Schmerz nicht mehr aushalten konnte. Dann trocknete sie die Hände sorgfältig ab, warf das benutzte Handtuch in den Wäschekorb und riß ein doppeltes Kleenex aus dem Paket. Nahm damit die Pistole, wickelte sie ein und rieb sie ab, jede einzelne Vertiefung. Dann nahm sie ein neues Kleenex, ließ die Pistole in das frische Tuch gleiten, warf die beiden andern ins Klobecken und ging ins Schlafzimmer. Ließ die Pistole unter das Bett gleiten. Sie rutschte nicht weit, Christine mußte sie mit dem Fuß weiterstoßen, bis sie nicht mehr zu sehen war. Sie ging ins Bad zurück, ohne zu Horst hinzusehen, warf auch das andere Kleenextuch ins Klo und spülte alles runter. Sah sich noch einmal um. Nichts. Sie ging ins Schlafzimmer, überlegte, ob sie Horsts Hose … Sie unterdrückte den Gedanken, bevor er fertiggedacht war, hastete ins Bad zurück und schaute in den Spiegel. Vielleicht eine Minute lang. Ihr Gesicht wirkte ein bißchen angespannt. Als ob sie zuviel gearbeitet hätte oder auch zuviel getrunken. Sie begann ihr Haar zu bürsten und erneuerte ihr Make-up. Dann ging sie ins Wohnzimmer hinüber zum Telefon, nahm den Hörer ab und wählte den Notruf.

In diesem Augenblick dachte sie zum erstenmal bewußt an die Lebensversicherung.