Kapitel 21

Es war spät, bestimmt nach zwölf, und die meisten Leute in der Siedlung schliefen. Heftiger Wind hetzte die Wolken über den Himmel; der Mond tauchte für Sekunden auf, beleuchtete eine Geisterszene und verschwand wieder. Es war kalt.

Anita merkte nichts. Sie rannte taumelnd auf dem Weg entlang, weg von den Häusern, weg von der Siedlung, auf den Wald und die Felder zu. Die Schüsse. Der Mann. Das viele Blut. Tod … Sie schwitzte; der Wind trocknete den Schweiß sofort wieder auf ihrer Haut. Kälte. Sie lief schneller. Polizei. Einsperren. Sie hatte den Wald erreicht. Erst jetzt spürte sie, daß ihre Füße weh taten. Daß sie keine Schuhe anhatte.

Der Mond konnte auch in den kurzen Augenblicken, in denen ihn die Wolken freigaben, nicht durch die hohen Tannen dringen. Anita lief in einen stacheligen Zweig hinein und blieb keuchend stehen. Es war stockdunkel. Sie sah sich um. Rund um sie herum nur Schwärze und das Heulen und Knacken des Windes in den Ästen. Panik. Sie drehte sich um sich selbst und tastete mit den Händen nach einem freien Platz. Wieder kam der Mond kurz zum Vorschein; Anita sah einen Lichtstreifen und lief darauf zu.

Sie kam auf die Lichtung mit dem Hochsitz. Wieder sanken ihre Füße in den weichen Boden ein; sie stolperte, schleppte sich vorwärts, auf den Hochsitz zu. Zog sich die Holzleiter hinauf und verkroch sich in der hintersten Ecke, zog die Beine unter sich zusammen und legte die Arme über die Knie. Sie merkte nicht, daß sie auf dem gleichen Hochsitz schon in der vorvergangenen Nacht gesessen hatte; sie spürte weder die Kälte, noch hörte sie den Wind. Sie hatte keine Erinnerung an die letzten 24 Stunden oder an die Wochen davor. Sie rollte sich zusammen und gab sich schläfrig dem leichten Schwanken des Hochstandes hin.

Schüsse … Wieso hatte es so oft geknallt? Sie schloß die Augen. Aber sie schlief nicht. Sie war wieder zu Hause in ihrer Wohnung.

Boris saß an seinem Arbeitstisch. Das Licht der hellen Arbeitslampe ließ die vielen Papiere grell aufleuchten. Er drehte sich zu ihr herum, wandte ihr das Gesicht zu, aber sie sah nur einen dunklen Schädel mit hellem Flaum darauf und, scharf wie unter einer Lupe, Leberflecken auf seiner Haut.

»Hör auf, rumzufummeln, das macht mich nervös.«

»Aber ich muß doch den Tisch abdecken. Ich bin gleich fertig.«

»Ach, das Neueste, Hausfrau.« Überlaut: »Du sollst mit dem Gefummel aufhören, verdammt! Ich muß arbeiten.«

Sie stand mitten im Zimmer, das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr und den Essensresten in den Händen. Sie war vollkommen ruhig. Sie öffnete nur die Hände. Das Tablett neigte sich leicht, krachte dann auf den Boden. Teller und Gläser zersprangen; angetrocknete Spaghetti ringelten sich zwischen den Scherben, Wein und Tomatensoße breiteten sich aus wie Blut.

Blut.

Er starrte sie an. Sie blieb ruhig stehen mit den halb geöffneten Händen vor sich und lächelte. Er erhob sich halb aus seinem Stuhl. »Mach das weg.«

Sie stand immer noch in derselben Haltung vor ihm, bewegte leicht den Kopf hin und her und sagte leise: »Ich gehe.«

Er hatte nichts gehört. Er brüllte. »Du sollst diese Sauerei da wegmachen! Was stehst du noch rum, los! Ich kann den Gestank nicht ertragen.«

Sie lächelte immer noch. »Es ist deine Wohnung und dein Geschirr. Ich hoffe, du kannst noch etwas davon gebrauchen.« Sie wandte sich zur Tür um.

Er war mit zwei Sätzen bei ihr, packte sie am Arm und riß sie zurück. »Wo willst du hin?!«

»Das ist nicht wichtig. Nur weg. Ich hätte es längst tun sollen.« Er verstärkte den Druck auf ihren Arm, verdrehte ihn leicht, aber sie spürte nichts. »Ich konnte es nur nicht vorher.«

Er riß sie so grob zu sich herum, daß sie ihn ansehen mußte. »Was soll das heißen?«

»Ich lasse mich scheiden.«

Endlich war es raus, und die Erleichterung, es gesagt zu haben, ließ ihre Muskeln wieder arbeiten. Sie versuchte, sich zu befreien. Er drehte ihren Arm weiter herum. Sie schrie auf. Die Wut in seinem Gesicht wich; er sah zufrieden aus. Er drehte den Arm langsam weiter, so lange, bis sie es nicht mehr aushielt und sich vor ihm krümmte. Er packte mit der anderen Hand ihre Brust und quetschte sie zusammen.

»Wenn du mich um Verzeihung bittest, dann werde ich vergessen, was ich gehört habe.«

Sie schwieg, obwohl der Schmerz kaum noch erträglich war. Sie spürte seinen Atem neben ihrem Ohr.

»Bitte mich um Verzeihung!«

»Nein.« Es war mehr ein Stöhnen, aber daran, daß er den Druck noch mehr verstärkte, konnte sie erkennen, daß er sie verstanden hatte. Sie stöhnte lauter.

Er stand jetzt dicht über sie gekrümmt. »Du wirst mich jetzt um Verzeihung bitten, und dann reden wir nie wieder davon, hörst du? Nie wieder.«

Er zwang sie mit einer weiteren Drehung in die Knie. Wartete. Sie schwieg, stöhnte auch nicht, atmete nur mit flachen, hastigen Zügen. Er schlug sie. Er mußte dazu ihre Brust loslassen, und das Nachlassen dieses Schmerzes ließ sie den anderen kaum fühlen. Außerdem hatte er sie schon öfter geschlagen, es war fast vertraut und vermittelte ihr in diesem Augenblick ein Gefühl der Überlegenheit. Sie lachte. Die Schläge setzten einen Augenblick lang aus, dann ließ er auch ihren Arm los. Sie hörte seinen pfeifenden Atem und dachte einen Moment lang, daß er als Arzt nicht so viel rauchen sollte.

Dann konnte sie nicht mehr denken. Seine Schläge prasselten wieder auf sie herunter, nicht mehr mit der flachen Hand, mit der Faust, mit den Knöcheln, er riß sie am Pullover hoch, schlug weiter auf sie ein. Tränen traten ihr in die Augen; sie taumelte rückwärts. Er folgte ihr, schlug weiter auf sie ein.

Sie stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Er packte ihre Handgelenke und preßte sie hoch gegen die Wand, als wollte er sie kreuzigen. Sein Mund stand halb offen, sein keuchender Atem roch nach Pfefferminz und Tabak, und in seinen Augen stand der Ausdruck, den sie hatten, wenn er sich im Bett auf sie warf. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, bäumte ihren Körper auf und zerrte an den Handgelenken. Er verzog nur den Mund. Sie hob ein Knie, wollte zustoßen, er wich geschickt aus und lachte laut auf. Nagelte sie noch gespreizter an die Wand.

Ihre Finger berührten etwas. Kühl, glatt. Sie war an der Wand, an der seine Waffen hingen. Ihre Finger berührten eine Pistole. Sie entspannte sich, um mehr auf die eine Seite hinüberzukommen, streckte die Finger aus. Sein Griff schien sich plötzlich zu lockern. Sie schob sich auf die Seite, reckte sich noch ein Stück … drehte den Arm …

Und hatte die Pistole in der Hand.

Er riß sie plötzlich nach vorn. Sie taumelte und stürzte auf den Boden. Sie hatte die Pistole nicht verloren.

Er stand über ihr und lachte schallend. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst, wie?«

Sie hielt die Pistole in der Hand, so ein stumpfes kleines Ding, das ihr immer schon Angst eingejagt hatte, mehr jedenfalls als die alten, verzierten Duellpistolen. Ihre Hände zitterten. Sie mußte die Linke nehmen, um die Rechte abzustützen. Richtete den Lauf auf ihn. Er lachte immer noch. Kam langsam näher. Sie hob die Pistole an. Er war jetzt direkt über ihr.

»Du wirst weder weggehen«, sagte er leise, »noch dich scheiden lassen noch schießen. Ich kenn dich doch, Kindchen.« Er bückte sich, packte sie am rechten Handgelenk, riß sie hoch und drehte ihr die Pistole aus den Fingern. »Meine Güte, bist du dämlich. Und ich versuch dir das jetzt seit Jahren beizubringen. Entsichern muß man sie!« Er drückte den kleinen Hebel demonstrativ langsam zur Seite.

Sein Gesicht war jetzt entspannt und ernst, konzentriert darauf, ihr etwas zu zeigen. Sie sah für einen Augenblick die leichten Schatten, die seine Tränensäcke auf die Backen warfen, und die winzigen roten Äderchen darunter. Dann warf sie sich auf ihn. Sah die roten Striemen, die ihre Fingernägel in seine Haut rissen, sah die kleinen Blutstropfen übergroß hervortreten und kratzte weiter und weiter. Krallte sich in sein Gesicht. Um es zu zerstören.

Zerstören.

Sie schrie. Nein, das war sie nicht – er schrie. Sie hackte weiter auf ihn ein. Er versuchte, ihre Arme zu erwischen, wollte sie wegstoßen, schaffte es nicht. Er zog sie zu sich heran, umklammerte sie. Er schrie immer noch. Schrie Worte, die sie nicht verstand. Sie hörte nur den ohrenbetäubenden Knall und roch den scharfen Pulvergestank.

Sie ließ von ihm ab und wich zurück. Er hielt sie nicht länger fest. Stand nur da und starrte sie unendlich verwundert an. Dann sanken seine Arme herunter. Die Pistole fiel auf den Boden. Er sah sie immer noch an, auch als er in die Knie ging und zur Seite kippte. Sein Hemd färbte sich dunkel.

Sie ging an ihm vorbei, stieg sorgfältig über die Scherben auf dem Boden und hob den Telefonhörer ab. Sie wählte 110 und meldete, daß sie eben ihren Mann ermordet hatte …

Der Wind fuhr eisig durch die lockeren Holzstäbe, sie rollte sich noch mehr in sich zusammen. Sie fror plötzlich, aber es war ein gutes Gefühl, zu frieren. Etwas zu spüren. Sich zu erinnern. Alles war wieder da. Auch die Wochen danach und der letzte Tag. Der Bungalow und dieses Ehepaar. Horst und Christine. Christine mit ihrer Pistole. Horst. Er war tot, aber sie hatte es nicht getan. Sie mußten ihr irgend etwas in den Wein gemischt haben, oder in dieses bittere Magenzeugs. Valium, oder ein Schlafmittel. Aber sie war nicht müde; sie war so wach, wie sie schon lange nicht mehr gewesen war. Vielleicht war sie abgestumpft durch die Wochen in der Anstalt, oder vielleicht war es auch der viele Wein. Oder die Schüsse.

Anita breitete die Arme aus, um den kalten Wind an ihren Körper zu lassen. Sie wußte es jetzt. Sie hatte Boris nicht getötet und diesen Horst auch nicht. Sie war nur immer weggerannt. Vor allem und jedem und vor sich selbst. Dieser Kerl in seinen Kaschmirpullovern. Weigerung, die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Vielleicht konnte sie ihn eines Tages unter anderen Umständen treffen und ihm einiges über Boris erzählen. Und über sich. Vielleicht konnte man sogar mit ihm sprechen.

Sprechen.

Sie richtete sich halb auf und schaute über die Brüstung auf die Lichtung hinaus. Die Wolken hatten den Mond für einen Augenblick freigegeben. Dort drüben, wo gestern der Bauer mit seinem Traktor gearbeitet hatte – jetzt erkannte sie das alles wieder –, da drüben waren auch Häuser, kleinere, Bauernhäuser. Alles war dunkel. Nur einzelne Straßenlampen. Und ein heller Fleck, länglich. Ein Telefonhäuschen … Telefonieren. Jemand anrufen. Kahn. Dr. Kahn. Der Anwalt. Ihm alles erzählen. Ihm sagen, wie es wirklich passiert war, und dann mit ihm gehen. Wohin auch immer. Das würde sie durchstehen. Es konnte nichts sein im Vergleich zu den letzten Wochen. Sogar, wenn sie sie wieder dahin zurückbringen würden. Und wenn es Jahre dauern würde. Es gab ein Danach.

Sie stand auf. Der Wind heulte immer noch, aber irgendwie hatte sich das Geräusch verändert. Sie drehte lauschend den Kopf. Auf der anderen Seite war der Wald. Aber er war nicht mehr schwarz wie vorhin. Lichtpunkte tanzten zwischen den Bäumen, verschwanden, kamen wieder hervor, kamen näher. Eine ganze Kette von Lichtern. Und das Heulen kam in abgehackten Abständen, hatte nichts mit dem Wind zu tun. Es war das Bellen der Hunde.

Anita taumelte zu der Holzleiter, drehte sich um und ließ sich halb rutschend hinuntergleiten. Der schwere Ackerboden klebte an ihren Füßen, aber er war am letzten Tag etwas ausgetrocknet, und sie hatte auch keine Schuhe an, die hängenblieben; sie kam ganz gut voran.

Trotzdem kamen die Umrisse der alten Häuser und das Licht der Telefonzelle nicht näher. Im Gegenteil, sie schienen wie eine Fata Morgana, wie in einem Alptraum immer weiter von ihr wegzugleiten. Dafür wurde das Bellen und Kläffen hinter ihr immer lauter … Sie versuchte, noch schneller zu laufen. Bekam keine Luft mehr, spürte scharfe Stiche in der Seite. Rannte immer weiter. Sie konnte das Telefonhäuschen erkennen. Sah sogar das gelbe Telefonbuch auf dem Sockel liegen. Sah sich nicht um. Das Kläffen kam immer näher. Sie unterschied jetzt auch Stimmen. Männerstimmen. Scharfe Rufe. Dann ein Knall. Das Häuschen war direkt vor ihr. Nur noch über die Straße. Sie riß an der Tür. Sie bewegte sich nicht. Sie verstärkte den Druck. Immer noch nichts. Sie konnte die Hundepfoten hören, die über den harten Asphalt tapsten. Zog langsam, drückte an der anderen Seite dagegen. Die Tür öffnete sich, sie schlüpfte hinein und zog sie hinter sich zu.

Sie keuchte. Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während ihre Hände zitternd und blind in dem Telefonbuch wühlten. Kahn. A, B, C, D … J, K, L, M N … Kahn. K. zurückblättern … Wie hieß er mit Vornamen. Kahn … Kahn …

Kratzen an der Glasscheibe. Das aufgerissene Maul eines Schäferhundes. Pfoten, die an der Glastür schrammten; das Fell an dem Hundebauch war weiß und sah sehr weich aus. Noch einer. Drei, vier. Sie wandte sich ab. Stemmte ihren Fuß gegen die Tür und suchte weiter. Spürte den Druck, mit dem sich die Hunde gegen die Tür warfen. Kramer, wieder zurück, Kämmerling … Hier: Kahn. 85 42 79. Sie nahm den Hörer ab. Ein Zeichen leuchtete auf. Bitte zahlen. Sie kramte in allen Taschen des Hosenanzugs und wußte schon jetzt, daß sie kein Geld bei sich hatte. Nicht einen einzigen Pfennig. Ohne zu wissen, warum, mußte sie plötzlich an die Geschichte von Nils Holgersson denken, die ihr Vater ihr vorgelesen hatte, und fühlte tiefe Verzweiflung.

Das Kratzen an der Tür hatte aufgehört. Sie drehte sich langsam um. Scheinwerfer blendeten sie. Sie blinzelte. Konnte kaum etwas erkennen. Die Hunde waren ein Stück zurückgewichen, aber sie bellten immer noch. Hinter ihnen standen Männer. Sie konnte keine Gesichter erkennen, nur dunkel glänzende Uniformen und dunkel glänzende Maschinenpistolen. Sie hob langsam beide Hände über den Kopf.

Ein Stiefel, sie konnte für einen Moment das Nagelprofil erkennen, trat gegen die Tür; sie schwang nach innen und traf sie am Ellbogen. Schmerz ließ ihren Arm herunterzucken. Etwas traf sie am Kopf; sie fühlte sich aus dem Telefonhäuschen gerissen und herumgewirbelt.

»Nein!«

Sie hatte geschrien, spürte einen heftigen Schmerz im Rücken und dann Hände auf ihrem Körper. Hörte Männerstimmen, Befehle, Signale.

»Wir haben sie!« – »Vorsicht, sie ist bewaffnet!« – »Pfui, kusch. Zurück!«

Die Scheinwerfer waren starke Taschenlampen. Immer noch auf ihr Gesicht gerichtet. Sie schloß die Augen und ließ die Arme sinken. Wurde sofort wieder herumgerissen, wäre gefallen, wenn sie nicht zwei Hände hochgezerrt hätten. Sie spürte kaltes Metall um ihr kaum verheiltes Handgelenk schnappen und fühlte wieder den stechenden Schmerz in ihrem Ellbogen. Sie begann zu weinen.