Die Zelle war etwa zwei mal drei Meter groß. Die Wände waren mit grüner Ölfarbe gestrichen, der Steinboden blankgewischt. Ein vergittertes Fenster aus Milchglas unter der Decke. Zu hoch, um es zu erreichen. Eine Kloschüssel, ein Waschbecken, ein Klapptisch mit einem Hocker und ein schmales Eisenbett mit gewürfeltem Bettzeug und einer grau-grünen Wolldecke. Die Matratze hing durch und quietschte, wenn man sich bewegte. Anita trug den Hosenanzug von Christine. Sie galt immer noch als Untersuchungsgefangene.
Sie sah hoch, als sie das Schlüsselbund an der Stahltür rasseln hörte. Die uniformierte Wärterin forderte sie mit einem Kopfnicken auf, ihr zu folgen. Anita sprang auf. Kahn. Das mußte er sein. Endlich. Die Wärterin hatte zwar noch nicht viel gesagt, aber sie wirkte ganz freundlich. Vielleicht vierzig, etwas zu dick für die ohnehin plump geschnittene Uniform und mit Gesundheitsschuhen. Es gab noch eine weißhaarige magere und eine ganz junge, aber die hatte Anita bisher kaum zu sehen bekommen.
Zwei Frauen in blau-grauen Kittelschürzen wischten den Boden auf. Sie hoben den Kopf, als Anita an ihnen vorbeiging, und sahen sich an. Anita konnte sie flüstern hören, und sie konnte sich denken, was sie sagten. Es machte ihr nichts mehr aus. Sie lächelte. Sie konnte Kahn jetzt alles erzählen, und er würde dann schon wissen, was zu tun war … Die Wärterin schloß die Tür zum Besuchszimmer auf und ließ sie hineingehen.
Ein Tisch, zwei Stühle. Aber kein Dr. Kahn. Nur ein junger Mann mit strähnig-blondem Haar, sonnengebräuntem Gesicht und einem hellgrauen Flanellanzug. Hinter ihr schlug die Tür zu, der Schlüssel drehte sich. Sie wirbelte herum.
»Nein! Aufmachen!«
Der junge Mann war aufgestanden. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er mit leicht pastoraler Stimme.
Sie kannte den Tonfall, es war der, den die Leute immer dann hatten, wenn sie glaubten, mit einer gemeingefährlichen Irren zu sprechen. Sie drehte sich zu ihm um.
»Ich habe keine Angst, aber ich will meinen Rechtsanwalt sprechen!« Sie wandte sich wieder der Tür zu und hob eine Hand, um dagegen zu trommeln. Er packte ihre Hand; sie riß sich los. »Fassen Sie mich nicht an! Ich brauch keinen geistlichen Beistand, ich brauche einen Rechtsanwalt.«
Er lächelte verlegen und ging zum Tisch zurück. Auf dem Tisch lag ein Aktenköfferchen. »Ich bin Ihr Rechtsanwalt.«
Sie starrte ihn fassungslos an, ließ sich dann auf den einen Stuhl fallen und nahm die Zigarette, die er ihr anbot. »Aber … Aber ich dachte, Herr Dr. Kahn …«
»Mein Name ist Berthold, Günter Berthold. Ich arbeite in der Kanzlei von Dr. Kahn.«
Sie nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette, kippelte ihren Stuhl zurück und sah ihn durch den Rauch hindurch an. »So ist das also«, sagte sie leise. »Er hat mich aufgegeben; der Fall interessiert ihn nicht mehr. Er sieht keine Möglichkeit mehr, den Prozeß zu gewinnen. Da soll sich lieber sein kleiner Assistent die Zähne dran ausbeißen.« Sie registrierte zufrieden, daß er bei ›kleiner Assistent‹ zusammenzuckte.
Seine Stimme klang nicht mehr ganz so jovial. »Sie müssen aber auch zugeben, daß Sie es einem schwermachen. Ich meine, eine Tötung im Affekt, der Ehemann – gut, da hätten wir mit dem berühmten Paragraphen operieren können; aber so? Erpressung, Einbruch, Mord an einem völlig Unbekannten, vorsätzlicher …«
»Stop«, unterbrach sie ihn scharf; er schwieg irritiert. Sie ließ ihren Stuhl wieder nach vorn kippen und beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber; er versuchte, auszuweichen, aber hinter ihm war die Wand. »Und jetzt hören Sie mir mal zu. Gut zu. Als die Sache mit meinem Mann passierte, war ich nicht zurechnungsfähig. Als mir dieser Reporter da den Kontakt zu Kahn vermittelte, da wußte ich überhaupt nicht, wer das war. Mir war alles egal. Jetzt weiß ich, wer er ist: ein Anwalt, der seine Klienten fallenläßt, wenn die Publicity nicht nach seinen Wünschen läuft … Trotzdem glaube ich aber, daß er sein Fach versteht. Wobei mir nicht klar ist, wie Sie in seine Kanzlei geraten sind … Sie beschuldigen mich, Sie als mein Anwalt beschuldigen mich hier, ohne mich auch nur angehört zu haben. Sie setzen Dinge als gegeben voraus, die Sie noch nicht einmal andeutungsweise geprüft haben … Selbst die Polizei kann die Untersuchung in der kurzen Zeit noch nicht abgeschlossen haben.«
»Die Indizien sind eindeutig, und die Aussage von Frau Selbeck …«
»Sie sollen mich nicht immer unterbrechen«, unterbrach sie ihn. »Die Aussage von Christine Selbeck steht gegen meine, und Sie glauben natürlich, daß die Selbeck glaubwürdig ist, weil sie eine sogenannte normale bürgerliche Frau ist. Mich hingegen halten Sie für geistesgestört, wahnsinnig, irre, was weiß ich, ohne auch nur den endgültigen Befund des Psychiaters zu kennen … Entweder Sie ändern Ihr Verhalten mir gegenüber und benehmen sich wie ein richtiger Anwalt, oder ich bestehe darauf, mit Dr. Kahn selbst zu sprechen.«
Er schnaufte, drückte seine Zigarette aus und steckte sich sofort wieder eine neue an. »Okay, es tut mir leid.« Er grinste etwas verzerrt.
Sie lehnte sich zurück und nickte. »Fangen wir an. Ich habe keinen der beiden Männer ermordet. Auch Boris nicht.«
»Aber Sie haben doch selbst immer wieder darauf bestanden, daß Sie es waren! Sie haben doch selbst verhindert, daß unsere Strategie …«
»Vergessen Sie mal Ihre Strategie. Es sieht jetzt anders aus. Ich hatte ein völliges Blackout. Verstehen Sie, ich wollte Boris töten. Ich habe mir seinen Tod seit Jahren gewünscht. Wenn er mit dem Auto unterwegs war, dann habe ich mir vorgestellt, wie er verunglückt, wie die Polizei mich von dem tragischen Verlust verständigt. Wenn er mit dem Flugzeug zu einem Kongreß flog, habe ich im Fernsehen fieberhaft auf eine Unglücksmeldung gehofft. Ich habe ihn gehaßt, weil er mich zehn Jahre lang fertiggemacht hat … Er war ein Sadist, und er kannte mich. Ich war unfähig, etwas zu tun, was von mir selbst kam. Weil ich nicht mehr wußte, wer ich selber war. Verstehen Sie das?« Er verstand nichts. Sie konnte es seinem ausdruckslos-freundlichen Interesse anmerken. Sie gab auf. »Es war ein Unfall.« Nüchtern und emotionslos: »Wir haben gekämpft; er hatte die Pistole in der Hand, der Schuß löste sich und traf ihn. Ein Unglücksfall.«
»Aber Ihre Fingerabdrücke wurden an der Waffe gefunden.«
»Ich hatte sie auch in der Hand. Aber vorher. Er hatte sie mir abgenommen … Das muß sich doch feststellen lassen. Daß seine Abdrücke über meinen lagen. Oder wurde das erst gar nicht lang geprüft?«
Er machte wieder sein höflich-zweifelndes Gesicht. »Und bei Horst Selbeck? Hat sich da auch ein Schuß gelöst?«
»Sie hat ihn erschossen. In voller Absicht. Und alles so gedreht, daß es aussehen sollte, als hätte ich es getan. Ich glaube, die beiden haben sich gehaßt, ohne es überhaupt zu merken …« Sie lächelte. »Es ist nicht alles normal, was glänzt.«
Er spielte am Verschluß seines Aktenkoffers, den er noch nicht einmal geöffnet hatte, und schob seinen Stuhl zurück. »Nun«, meinte er vage, »ich werde sehen, was sich machen läßt.«
Sie sah ihn zur Tür gehen, die Hand nach dem Klingelknopf heben. Sie sprang auf. »Halt!«
Er drückte auf die Klingel und sah sich unsicher nach ihr um.
»Sagen Sie Ihrem Dr. Kahn einen schönen Gruß: Entweder er ist in spätestens drei Tagen hier, oder ich nehme mir einen anderen Anwalt.«
Er antwortete nicht. Die Wärterin schloß auf; er eilte davon. Sie trottete hinter der Uniformierten her, die langen Gänge entlang, Eisentreppen hinauf, wieder Gänge. Stahltüren. Die müden und hoffnungslosen Gesichter von Frauen, die schon zu lange hier waren, oder die aggressiven der Neuen. Das Gefühl der Überlegenheit bröckelte von ihr ab. Der kurze Sieg über einen überforderten Handlanger war vergessen. Sie ließ sich wieder in ihre Zelle einschließen und sank auf das Bett.
Das war es also. Das Ende. Genau in dem Moment, in dem sie zum erstenmal das Gefühl hatte, sie selbst zu sein, ein Leben zu haben, eine Zukunft, wurden diese Aussichten auf zwei mal drei Meter beschränkt. Für immer.