Kapitel 25

Anita lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett, einen Arm über dem Gesicht. Der weiche Pulloverärmel war feucht von Tränen, aber das brauchte ja nicht jeder zu sehen. Der Schlüsselbund schrammte gegen die Stahltür, dann öffnete sie sich knirschend. Sie bewegte sich nicht.

»Birgmaier!«

»Ich will nichts essen.«

»Besuch für Sie.«

»Schicken Sie ihn weg. Ich will niemand sehen.«

»Es ist Ihr Rechtsanwalt.«

»Dieser Arsch«, murmelte sie unter ihrem Ärmel, »der kann mich mal kreuzweise und kostenlos …«

»Birgmaier!« Die Stimme wurde schärfer.

Anita richtete sich auf und lächelte verkrampft. »Tut mir leid …« Noch ein Lächeln.

Endlich zog auch die Wärterin einen Mundwinkel leicht hoch. Es war die Alte. Bei ihr bedeutete Mundwinkelhochziehen ein Lächeln, aber eins, wie es überarbeitete Krankenschwestern für Dritte-Klasse-Patienten haben. Oder Stewardessen für Chartergäste, die eben die Tüte vollgekotzt haben … Anita stand auf und lächelte immer noch.

»Ich komm schon.«

Sie strich sich durch die Haare, sah in den Spiegel, obwohl sie ihr Bild nicht im mindesten interessierte. Aber man mußte sich normal verhalten, das war das Wichtigste. Gefangene sind höflich und zurückhaltend und arbeiten immer mit. Frauen kümmern sich um ihr Aussehen; sie wollen schön sein. Wenn man einen guten Eindruck machte, dann wurde das vermerkt; wenn man sich gehenließ, auch … Sie war bereit und lächelte noch immer. Die Mundwinkel der Wärterin hoben sich zustimmend. Auf beiden Seiten.

Sie gingen zusammen durch die Gänge, die Treppe hinunter, wieder durch Gänge. Es war Mittag. Die Kalfaktoren verteilten das Essen. Es roch nach Maggi.

»Eigentlich ist jetzt keine Besuchszeit«, sagte die Wärterin, die rüstig vor ihr herschritt, »aber Sie haben eine Sondererlaubnis.«

Sie sagte das, als würde sie Anita diese Auszeichnung persönlich überreichen. Und Anita wußte, daß sie darauf irgendeine Art von Dankesbezeugung äußern sollte. Aber das brachte sie beim besten Willen nicht fertig. Die Wärterin schloß das Besuchszimmer auf und ließ Anita vorgehen. Jetzt lächelte sie richtig, würdevoll wie ein englischer Butler schloß sie die Tür hinter ihr wieder ab.

Anita blieb stehen.

»Meine liebe Frau Birgmaier …« Er kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu und ergriff ihre Hände.

Dr. Kahn persönlich.

Das eisgraue Haar voll um den Kopf gelockt, solariumgebräunt, trimmgeschlankt, in silbergrauer Hose und anthrazitgrauer Sportjacke, das schneeweiße Leinenhemd in gutem Kontrast zu seiner Gesichtsfarbe. »Kommen Sie, setzen Sie sich, es tut mir ja so unendlich leid, Sie müssen Schreckliches durchgemacht haben, aber Sie verstehen, die Arbeit, ich schlafe keine vier Stunden …« Er geleitete sie zu dem abgewetzten Holzstuhl, als würde er eine Königinmutter auf den Thronsessel schleppen. Hurtete sofort auf die andere Seite des Tisches und klappte seinen Aktenkoffer auf.

Helles Büffelleder mit Goldinitialen. »Da haben sich einige neue Aspekte ergeben …«

»Haben Sie eine Zigarette?« Er sah irritiert auf, lächelte entschuldigend.

»Sorry – ich rauche nicht mehr; muß auf meine Gesundheit achten …« Er räusperte sich. »Also, wie ich schon sagte, ich bedaure zutiefst, daß ich letzte Woche verhindert war, aber …«

»Aber es haben sich neue Aspekte ergeben.«

»Wie?« Er sah von seinem Aktenkoffer auf, lächelte kurz und holte eine dicke Mappe aus rosaroter Pappe hervor. »Ganz recht: Dieser Tötungsfall Horst Selbeck … Im Gegensatz zu dem … Ähem, der Tötung an Ihrem Gatten wurden die Kratzspuren im Gesicht erst nach dem Eintritt des Todes beigebracht. Im Labor konnte festgestellt werden, daß einer der Fingernägel der Täterin abgebrochen war. Linker Zeigefinger. Im Haus der Selbecks wurde ein Glas sichergestellt mit Spuren von Kräuterbitter und einem Schlafmittel. Widerspruch in der Aussage Christine Selbeck. Die Tatwaffe war nach der Tat sorgfältig abgewischt worden. Im Gegensatz zu Ihrer … Ähem … Tötung. Außerdem wurden, ebenfalls im Gegensatz zu Ihrer … Ähem … zu Ihrem Fall, mehrere Schüsse abgegeben. Einer davon ging in die Decke – Rückstoß vermutlich. Mehrere Treffer in den Brustkorb. Der tödliche … Nun, ich will Sie nicht langweilen, aber es war ein reiner Zufall, daß ein tödlicher Treffer dabei war!«

Er sah sie triumphierend an. Anita verstand überhaupt nichts. Er beugte sich über den Tisch:

»Sie können doch schießen, oder?«

»Ja; mein Mann hat mich gezwungen, es zu lernen. Aber ich habe ihn doch nicht erschossen – es war ein Unfall …«

»Eine Sekunde, meine Liebe, dazu kommen wir gleich!« Heftiges Blättern in dem rosa Ordner. »Wie gesagt, keinerlei Übereinstimmung; Verdacht der Schuldzuschiebung lag nahe.« Er grinste jetzt breit und beifallheischend.

Anita hätte gern eine Zigarette gehabt. »Heißt das …« Sie stotterte, schluckte, fing wieder an: »… heißt das, daß es jetzt erwiesen ist, daß ich Horst nicht getötet habe?«

Er nickte zufrieden.

»Und Christine? Ich meine, hat sie … Was ist mit ihr?«

»Zusammengebrochen.« Er beugte sich noch weiter vor und senkte seine Stimme vertraulich: »Habe mir da einen kleinen Bluff erlaubt; habe angedeutet, daß man auch nach Tagen noch Reste von Haut, Blut und Sekreten unter den Fingernägeln feststellen kann … Nicht weitersagen.«

»Und wie hat sie … Ich meine, wie hat sie es aufgenommen? Wie hat sie reagiert, was hat sie …« Sie kam ins Schwimmen und brach ab.

Kahn lachte kollernd. »Völliger Zusammenbruch, wie gesagt. Verlangt psychiatrische Untersuchung. Behauptet, während der Tat unzurechnungsfähig gewesen zu sein und sich an nichts mehr zu erinnern. Schon eingewiesen.«

»Aber … Aber …« Anita stockte. Das ging alles zu schnell für sie, sie verstand nichts.

Kahn schien das nicht zu bemerken. »Und nun zu der anderen Geschichte … Jetzt ganz andere Möglichkeiten! Ganze polizeiliche Untersuchung muß neu überarbeitet werden – Obduktionsbericht, gerichtsmedizinische Befunde und so weiter, und so weiter … Wurde da ein bißchen geschlampt. »Aber –« er hob tadelnd einen Zeigefinger – »nicht ohne Ihre Schuld!« Er packte die rosa Mappe wieder in den Büffelkoffer und ließ das Schloß zuschnappen. »Wir kriegen das schon hin.« Er stand auf und ging zur Tür.

Anita war mit einem Satz bei ihm. »Was soll das alles heißen?«

»Aus dem einen Mord sind Sie raus, Kindchen.« Er drückte auf die Klingel. »Und den anderen … Na, wollen mal sehen; ich glaube, da holen wir Sie auch runter. Bleibt schwere Körperverletzung – der Gärtner … Na ja. Unter den Umständen …«

»Was heißt das, runter? Ich meine, wie lange muß ich noch hier …«

»Versprechen kann ich nichts.« Plötzlich wieder geschäftsmäßig.

Anita stellte sich zwischen ihn und die Tür. »Ist das wahr, daß Sie noch nie einen Fall verloren haben?«

Er lächelte geschmeichelt. »Nun, das ist wohl etwas übertrieben.«

»Und mein Fall?«

Schlüssel drehten sich in der Tür, die Wärterin wartete. Er schlängelte sich an Anita vorbei.

»Versprechen kann ich nichts. Nicht sofort. Aber, immer guten Mutes …« Er winkte ihr noch einmal mit der Hand zu, ohne sich umzudrehen, und eilte davon.

Anita ging hinter der Wärterin her zu ihrer Zelle zurück. Sie dachte an die schnellen Sätze zurück, die Kahn auf sie abgeschossen hatte, und mußte über das Wort lachen: Abgeschossen … Die Wärterin schloß ihre Zelle auf und sah sie mißbilligend an.

»Danke«, sagte Anita.

Die Wärterin starrte sie verständnislos an. »Was haben Sie eben gesagt?«

»Danke. Danke für die Begleitung.«

Die Wärterin wich hastig einen Schritt zurück. Anita stellte einen Fuß in die Tür, so daß sie nicht sofort wieder abschließen konnte.

»Ich meinte das ernst … Sie haben’s doch auch ziemlich schwer hier, oder?«

»Los, rein!« Die Wärterin stieß Anitas Fuß gekonnt weg, schlug die Tür zu und murmelte noch: »Aber nicht so schwer wie du.«

Anita ließ sich rücklings aufs Bett fallen und lachte laut. Sie lachte laut, obwohl sie wußte, daß Leute, die laut lachen, verrückt sind. »Aber ich steh’s durch … Sie mußte immer stärker lachen, Tränen kamen ihr in die Augen.

»Das schwör ich dir – ich steh’s durch …«