Kapitel 2

Das Mädchen hatte extrem lange und extrem schöne Beine. Pinkfarbene Leuchtstrümpfe unter einem violetten Minirock. Sie hatte sich neben ihn gesetzt, und er hatte den Sitz für sie zurückgestellt. Sie schlug die Beine übereinander und kramte sich eine Zigarette heraus. Er gab ihr Feuer und fuhr beinahe gegen den Randstein. War glücklich über die rote Ampel. Musterte sie. Pinkfarbenes T-Shirt unter einem knappen Lederblouson. Das Haar kunstvoll auf ›zerzaust‹ frisiert, kaum Make-up. Grün. Manfred mußte sich wieder auf die Straße konzentrieren. Das Mädchen war älter, als er zuerst gedacht hatte. Mitte, Ende 20. Studentin mit reichem Papi schätzte er. Ihr Gesicht war apart, vielleicht ein bißchen zu streng. Das Schönste an ihr waren die Beine.

»Da vorn«, sagte sie und holte ihre Geldbörse aus der Tasche. Er hielt direkt vor der Bar. ›THE JUNGLE‹ war im Moment in, und alles traf sich dort. Das Mädchen zahlte und gab ihm 50 Pfennig Trinkgeld. Manfred gab so heftig Gas, daß die Reifen auf dem Asphalt schleiften. Blöde Zicke! Schicki-Micki-Pute! Er übersah ein paar aufgeregt winkende Betrunkene und fuhr zum nächsten Standplatz. Er konnte sich an das verdammte Trinkgeld nicht gewöhnen und noch viel weniger an das satte Erfolgsgefühl, wenn er mehr als eine Mark bekam.

Am Standplatz waren schon zwei andere Taxen, Max und Ahmed. Max las die ›BILD‹. Ahmed hörte türkische Jaulmusik. Der einzige Ausländer, mit dem sie redeten, war Kofi. Der kam aus Ghana und lachte auch noch über ihre bescheuerten Witze. Manchmal auch Mario. Dessen Bruder hatte eine Pizzeria, und sie bekamen Extrapreise bei ihm. Manfred fuhr weiter. Max sah nur kurz hoch. Wenn Max etwas noch mehr haßte als Ausländer, dann waren es diese Studierten. Manfred pickte ein Liebespärchen auf und verstellte den Rückspiegel, um ihr Geknutsche nicht sehen zu müssen. Dann wurde er über Funk in eine Kneipe im Westend gerufen und gleich darauf zu einem Haus in Schwabing. Junges Ehepaar, sie kurz vor der Entbindung. Er fuhr so schnell und sanft wie nur irgend möglich. Sie stöhnte, der Mann schwitzte vor Hilflosigkeit. Manfred redete beruhigend auf die beiden ein und überlegte krampfhaft, was er machen sollte, wenn es in seinem Auto losginge. Atmete erleichtert auf, als er die beiden in der hellerleuchteten Krankenhauseinfahrt loswurde. Sie vergaßen zu zahlen, und er mußte die nächste Fahrt schwarz fahren, um das wieder gutzumachen.

Ein Betrunkener nach Grünwald, Leerfahrt zurück. Eine Gruppe Jugendlicher, die aggressiv wurden, weil er nicht alle fünf in das Taxi ließ. Ein alter Knacker mit einem viel zu jungen Mädchen. Manfred stellte den Rückspiegel ein. 14? Nicht mal, vermutlich knappe 12. Er bremste. Der Alte fing an zu belfern, Manfred drohte mit der Polizei. Als er endlich draußen war, begann das Mädchen zu weinen. Manfred fuhr bis zur nächsten Parklücke und redete dann auf sie ein. Bekam endlich ihre Adresse raus, lieh ihr einen Zehner und versprach, den Eltern nichts zu verraten. Sie hieß Tanja und hatte heute einen Sechser in Mathe geschrieben. Sie dankte ihm unter tränenverschmierter Schminke, als sie ausstieg, und Manfred war sich ziemlich sicher, daß sie morgen wieder irgendeinen Mist bauen würde.

Er sah auf die Uhr. Kurz vor zwei. Das ›FLOP‹ hatte noch auf. Er stellte das quäkende Funkgerät ab und parkte das Taxi. Die Luft war zum Schneiden dick, und seine Brillengläser beschlugen auf dem Weg zur Bartheke. Ein Pils. Er drehte sich um. Hinten in der Ecke an dem runden Stammtisch saßen sie alle: Horst, Eberhard, Petra und Susanne, Uli. Und Elke. Manfred hätte sich gern in Luft aufgelöst, aber sie hatten ihn schon gesehen und winkten ihm zu. Er nahm sein Glas und ging an den runden Tisch. »Taxi gefällig?« Er grinste und setzte sich. Sie machten ihm Platz und redeten weiter. Das bayerische Schulsystem und der Scheißchef und die bescheuerte Achte und die neuen Bestimmungen und der ganze Papierkram und diese Idioten vom Elternbeirat und überhaupt. Sie quatschten über ihn hinweg, als wäre er überhaupt nicht vorhanden. Einmal sagte er auch etwas, aber nur Elke reagierte. Ganz freundlich: »Du, da hat sich einiges geändert in den letzten Jahren.«

Er stand auf, trank den Rest im Stehen und ging. Fuhr wie eine gesengte Sau und hatte doch irgendwann das Gefühl, sich cool verhalten zu haben. Soviel hatte er sich nun auch wieder nicht aus Elke gemacht. Meine Güte, vier Jahre, was war das schon?! Sie hatten zusammen studiert, und er hatte ihr ab und zu geholfen. Sie hatte was im Kopf, und damals konnte schließlich kein Mensch ahnen, daß sie voll auf den Emanzotrip abfahren würde.

»So eilig habe ich es nicht«, sagte der Besoffene hinter ihm, und Manfred wurde plötzlich bewußt, wie er fuhr. Er schaltete runter und entschuldigte sich. Der Besoffene schlief schon wieder. Manfred drehte am Rückspiegel, um zu sehen, ob er nicht vielleicht ganz leise auf die Bodenmatten kotzte.

Das Schlimme war ja gar nicht, daß Elke sich von ihm getrennt hatte, das war irgendwann sowieso zu erwarten gewesen. Das Schlimme war der Grund. Kein anderer Typ, nichts dergleichen. Es war, weil er plötzlich der falschen Klasse angehörte. Taxifahrer statt Lehrer! Natürlich stritt sie das ab. Sie stand schließlich immer auf seiten der Enterbten und Entrechteten. Und vielleicht wäre es auch anders gekommen, wenn er wegen einer politischen Vergangenheit keine Planstelle bekommen hätte. Da hätte man was draus machen können. Aber so? Nur, weil seine Noten beim Staatsexamen nur gerade eben ausreichten, und seine Fächerkombination plötzlich überlaufen war. Das war dann doch zu dürftig. Der Besoffene konnte nicht mehr allein gehen, und Manfred schleppte ihn vier Stock hoch, um ihn bei seiner Frau abzuliefern.

Den nächsten Fahrgast hätte er nicht genommen, wenn seine Gedanken nicht immer noch bei Elke gewesen wären. Er war jung, kaum 20, trug einen schmuddeligen Trenchcoat und hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Sein Gesicht war grobflächig und halb unter einer Schirmmütze verborgen. Er nannte eine Straße in Solln, und die feine Villengegend paßte nicht im geringsten zu seiner Fresse. Manfred spürte das unangenehme Kribbeln im Rücken, als sie auf die dunkle Schnellstraße kamen. Bei der letzten Straßenlaterne hatte er im Rückspiegel das verspannte Gesicht gesehen, die beiden in die Manteltaschen gekrampften Hände. Der Mann war nervös und hatte irgend etwas vor. Die Uhr zeigte schon jetzt 14 Mark 80. Manfred tastete mit einer Hand nach dem Knüppel unter seinem Sitz, konnte ihn aber nicht gleich finden. Im Handschuhfach hatte er eine Gaspistole, aber es war zu auffällig, jetzt da drin herumzukramen. Der Mann bewegte sich, Manfreds Nackenmuskeln zogen sich zusammen. »Jetzt rechts, dann gleich die erste links.« Manfred warf beim Abbiegen einen Blick zurück. Der Mann starrte zurück. »Das Haus da vorn mit dem hellen Zaun.« Manfred bremste, der Knüppel unter seinem Sitz rollte nach vorn, und er konnte ihn packen. »22 Mark 50«, sagte er und drehte sich halb um, den Knüppel jetzt in Kniehöhe. Der Mann hielt ihm einen Zwanziger und einen Zehner hin.

»Stimmt so.« Er stieg aus, ließ die Tür zufallen und ging zu dem Haus mit dem hellen Zaun, öffnete das Gartentor, ging über den Kiesweg und schloß die Haustür auf. Manfred steckte sich eine Zigarette an und wendete. Er empfand Scham und einen unbestimmten Widerwillen gegen sich selbst. Das Gefühl, wieder mal versagt zu haben! Selbst Ahmed hätte den Trenchcoat als echten Burberry erkannt und die Nervosität des jungen Mannes nicht sofort auf sich bezogen. Manfred fuhr jetzt, wenn er die Studienzeit dazurechnete, seit gut drei Jahren Taxi. Und das einzige, was er gelernt hatte, war, seine eigene Sensibilität zu verlieren und statt dessen sämtliche herumlaufenden Spießerängste und Vorurteile aufzuschnappen. Er kannte Kollegen, die immer einen Flachmann dabeihatten, er selber hatte Angst davor, aber jetzt hätte er ein Vermögen für einen langen Schluck gezahlt. Der einzige Ort, an dem es jetzt noch etwas zu trinken gab, war der Bahnhof.

Manfred reihte sich am Standplatz ein und genoß den kindlichen Stolz, so heldenhaft zu widerstehen. Ein Zug kam an, die Reihe setzte sich in Bewegung, er kam dran und sprang aus dem Wagen, um für zwei völlig übermüdete Nonnen den Schlag aufzureißen und ihnen die Koffer abzunehmen.

Bis zur Tagesschicht bekam er noch drei Fuhren, und als er den Wagen und die Kasse abgab, hatte er nicht einmal das Mindestsoll zusammenbekommen. Sigi übernahm den Wagen und beschwerte sich über den Zigarettenmief. War aber immerhin so freundlich, Manfred bis in die Barerstraße zu fahren.

Das Apartment lag im ersten Stock zur Straße hinaus. Alles in allem 21 m² für DM 850,- kalt. Mit Versicherung, Telefon und Bafögrückzahlungen weit mehr, als Manfred sich leisten konnte! Aber er liebte die Wohnung und entspannte sich auch jetzt, sobald er sie betrat. Das fensterlose Zwergenbad hatte er goldgelb gestrichen, über die Sitzwanne ein Karnevalsposter aus Rio, neben dem Klo ein kleines Regal mit Pornocomics. Die Kochnische war weiß und dunkelblau, und alles blitzte wie in einer Puppenstube. Das Zimmer selbst hatte knapp 17 m² und war kuschelig wie eine arabische Teestube. Matratze mit Patchworkdecke, Wandteppiche, kleine Tischchen vom Sperrmüll, eine Wand Bücherregal und am Fenster der Arbeitstisch auf zwei Böcken. Kissen in allen Farben. Rupfenvorhänge, Stehlämpchen und Berberteppich.

Er knipste alle Lampen an, legte Barry Harris auf, briet sich tiefgefrorene Hühnerschenkel, würzte sie mit provençalischen Kräutern, schnitt zum Schluß ein paar Kartoffeln dazu und füllte sich Rotwein aus dem Container in eine Karaffe. Draußen wurde es Tag, Barry Harris hatte Mühe, den Morgenverkehr zu übertönen. Manfred spielte Abend. Voller Vorfreude suchte er sich einen Band aus der Gesamtausgabe von Jules Verne heraus. ›Reise durch das Sonnensystem‹.

Als er den Teller in die Kochnische zurückbrachte und das Geschirr abwusch, dachte er wieder an Elke. Sie hatte ihn einmal besucht, seit er aus Eggenfelden zurück war und noch glaubte, nach seiner Referendarzeit auch eine Planstelle zu bekommen. Sie fand die Wohnung, auf die er so ungemein stolz war, spießig und kleinbürgerlich und ihn auch. Damals war Taxifahren für ihn nur ein Übergangsjob gewesen. Elke war total beknackt. In ihrem frostigen WG-Chaos konnte man als Höchstes der Gefühle Mordgelüste entwickeln. Manfred legte Memphis Minnie auf und versenkte sich wieder genüßlich in den Jules Verne.