Kapitel 5

Zuerst konnte sie das Geräusch weder orten noch einordnen. Sie hatte in der Nacht schlecht geschlafen und beschlossen, den Tag früh und voll ›action‹ anzugehen. Erstmal den Mülleimer, zwei stinkende Plastiktüten und ein Karton mit anderen Abfällen. Der Hinterhof roch nach feuchtem Staub und überständigen Benzingasen, die Fenster der Häuser waren noch morgenblind. Nur auf einer der Fernsehantennen zeigte sich ein erster Sonnenreflex. Da war es wieder. So ein fiependes Jammern, kaum zu unterscheiden von dem rostigen Quietschen der Mülltonnendeckel. Charlotte sah die Schlagzeilen von Zeitungen vor sich, Baby, heimlich zur Welt gebracht, in Mülltonne versteckt. Sie begann zu suchen.

Es war ein Kätzchen. Handtellergroß mit einem verhungerten Dreiecksgesicht, schwarzem Zottelfell und weißen Pfötchen wie schmuddelige Tennissocken. Bernsteingelbe Augen. ›MIENZ‹. Zittern. Charlotte hockte sich auf den Boden und versuchte, das Kätzchen einzufangen. Es verkroch sich noch weiter zwischen Mauer und Mülltonne. Mienzte. Schaute, zitterte. Charlotte machte mit den Lippen kleine Zischlaute und bewegte ihre Finger, als hätte sie etwas anzubieten. Das Kätzchen wagte sich etwas weiter vor. Noch ein Stück. Charlotte packte es, drückte es an sich und redete beruhigend auf es ein. Ließ ihren Mülleimer zurück, trug das Kätzchen wie eine Beute in die Wohnung hoch. Schloß Fenster und Türen und goß Milch in eine Untertasse. Das Kätzchen raste in Panik durch die Wohnung und verschwand dann stumm unter dem Küchenschrank. Erst jetzt merkte Charlotte, daß Hände und Brust zerkratzt waren. Lange Blutschrammen. Sie ging ins Bad und tupfte sich Jod drauf. Redete durch die offene Tür mit dem Kätzchen und nannte es ›Tennissöckchen‹. Sie schnitt einen Bücherkarton zurecht und füllte ihn mit Blumentopferde. Ließ die Badezimmertür offen. Es kam ihr so vor, als wäre in der Zwischenzeit etwas Milch verschwunden.

Charlotte tat nichts weiter. Saß nur auf dem Küchenstuhl und wartete. Zwei oder drei Stunden später kam Tennissöckchen unter dem Schrank hervor, näherte sich vorsichtig der Milch und begann zu schlabbern. Schaute immer wieder hoch, bereit, beim ersten Anzeichen von Gefahr zu fliehen. Charlotte bewegte sich nicht. Es tat ihr weh, daß so ein winziges verhungertes Wesen Angst vor ihr hatte. Nicht begreifen konnte, daß sie ihm nur helfen wollte. In ihr das Böse sah, das sie von den ertragreichen Mülltonnen weggeschleppt hatte. Sie merkte nicht, wie die Zeit verging. Sah nur, daß Tennissöckchen satt wurde, daß sich allmählich der dünne Rattenschwanz aufrichtete, daß das Fell sich glättete, sich die Ohren wieder nach vorn stellten. Tennissöckchen begann erst die Küche, dann die ganze Wohnung zu erkunden. Schnüffelnd, vorsichtig, immer auf dem Sprung. Als es schließlich das Kistchen mit Erde im Bad entdeckte und sein erstes Geschäftchen hineinkratzte, war Charlotte überglücklich.

Die nächsten Tage lebte Charlotte nur für die kleine Katze. Sie besorgte Katzenstreu, eine richtige Schüssel, einen Kratzbaum, Magermilch und Hühnerleber. Tennissöckchen fühlte sich inzwischen ganz zu Hause und tollte übermütig mit zusammengerollten leeren Zigarettenpackungen, die Charlotte durch die Wohnung warf. Ließ sich auf den Arm nehmen, schnurrte vor Wonne und leckte mit rauher Zunge an Charlottes Daumen. Es war ein kleiner Kater, und so klein war er auch nicht. Das Fell glänzte' jetzt, und der Schwanz konnte sich, wenn die Tauben auf dem Balkon landeten, sträuben wie bei einem Eichkätzchen.

Charlotte dachte nicht mehr dauernd an Walter. Wenn sie mit Thomas telefonierte, erzählte sie von Tennissöckchen und überhörte absichtlich den mitleidigen Ist-ja-schon-gut-Omi-Ton in seinen Antworten. Melanie und Vanessa waren heiß interessiert, aber Charlotte konnte sie mit immer neuen Katzengeschichten noch hinhalten. An der Wohnung hatte sie noch immer nichts verändert, das konnte sie jetzt auch nicht. Die Katze. Sie beschloß, eine Party zu geben.

Griechischen Salat mit schwarzen Oliven und Schafskäse, Lammbraten mit Tomaten und Knoblauch, frisches Weißbrot und Rotwein vom Faß. Gleich für den nächsten Freitag. Sie putzte die Wohnung und machte schon mal die ersten Einkäufe. Ruth sagte sofort zu, fragte nur an, ob möglicherweise ihr Heini mitkommen dürfte, Nicole und Dagmar würden gern kommen, wenn nichts Besseres dazwischenkam. Peter Bruns freute sich unbändig, daß sie anrief, er würde neben den neuesten Gerüchten auch noch Champagner mitbringen. Bei Löfflers war Karl-Heinz am Telefon. Klang seltsam verkniffen, bedankte sich jedoch artig und schob seinen Kegelabend vor. Annette würde sicher kommen. Er vielleicht später. Ja, sicher, er würde Annette alles ausrichten. Und, wie geht's dir so? Freut mich. Alles Gute! Bis dann …

Bei Nietsch hatte Charlotte mehr Glück. Renate war am Telefon. Troff nur so vor Neugier und Mitgefühl. »Mensch, daß du eine Party machst, das ist ja eine RIESENidee. SUPER. Klar, kommen wir. Soll ich was mitbringen? Ich back meine Schokotorte, okay? Überhaupt müssen wir mal wieder in Ruhe miteinander quatschen. Ich freu' mich, ehrlich!«

Charlotte hatte eingekauft und gekocht und gebruzzelt wie in alten Zeiten. Tennissöckchen freute sich über die Abfälle. Lief überall in der Wohnung herum und beschnüffelte die Neuerungen. Wein in Karaffen, Gläser auf dem Tisch, verschiedene Salate in der Küche als kaltes Büffet, der Lammtopf im Ofen. Überall Kerzen und ein gedämpfter Elvis. Sie hatte den schwarzen Samtrock an, die rosa Seidenbluse, das rot und lila bestickte schwarze Samtwestchen. Lidstrich, leichtes Make-up, ein Hauch von Chanel und zwei Gin-Tonics. Sie fühlte sich super.

Niemand kam.

Um acht begann der Lammbraten zu stinken, sie schaltete ihn ab. Um halb neun rief Ruth an, sie könne leider nicht kommen, ein andermal gern. Kurz nach neun kamen Dagmar und Nicole von einem verpatzten date und fraßen sich voll, kurz darauf kam Peter Burns mit einem leicht verwelkten Rosenbusch und zwei Champagnerflaschen lauwarm, sein Verteilerkopf war hin. Karl-Heinz Löffler rief gegen zehn an, sie hatten keinen Babysitter gefunden. Niki, ihr Jüngster war vierzehn. Charlotte war mittlerweile ziemlich besoffen, hockte in einer Ecke, Tennissöckchen auf dem Schoß, ein Glas Wein in der Hand. Dagmar und Nicole fraßen nicht nur, sie räumten auch auf und brachten Neues. Peter Bruns, der gute alte Peter, versorgte sie mit neuen Drinks und ging ans Telefon. Setzte sich neben sie, berichtete, wie unglücklich Walter jetzt sei. Diese Nora ist Bergsteigerin, kannst du dir das vorstellen, und Skifahren natürlich! Sie treibt den armen Walter jeden Sonntag in die Gipfel, haha – und sagte ihr, wie schön sie sei, und daß er sie immer schon geliebt habe. Das weißt du doch, oder? Ich bin immer für dich da! Ja, das wußte sie. Geplatzte Äderchen auf der Nase und Hängebacken. Ringe unter den Augen, Tränensäcke, eingefallene Brust und Bauch über dem Gürtel. Guter alter Peter.

Es läutete, und Renate stand vor der Tür …

Sie hatte sich betont locker und jugendlich angezogen, Charlotte vermutete unter dem weiten Rock einen handgestärkten Original-Petticoat aus Renates Jugend in den Fünfzigern, der überbreite Lastexgürtel betonte ihre durch permanente Diätmühen schlankgehaltene Taille. Sie hielt ihre obligate Rum- und Kalorien-triefende Schokotorte wie eine Skulptur vor sich her. »Bussis vom Jürgen, er holt mich nachher ab.« Nicht mal die Andeutung einer Entschuldigung. Renates wieselflinke Augen checkten die Situation im Hui. Zwei Weiber und sonst nur Peter! Die Mädchen machen sich sofort über den Kuchen her, Renate über Peter. Charlotte verzog sich mit dem Champagner in die Sofaecke. Sie wußte, daß sowohl die Nietschs als auch die Löfflers seit ihrer Scheidung Partys gegeben hatten, sie war nicht eingeladen worden. Man hielt sie offensichtlich für männermordend. Die Nummer, die Renate da eben mit Peter abzog, fing an, peinlich zu werden. Peter war fünfzig und ein Fossil, das sich unverheiratet und charmant auf jeder Party gut machte. Er brachte Blumen und Champagner, er machte Komplimente und half beim Abwaschen, er konnte Regale dübeln, Lampen montieren, Kühlschränke reparieren. Wenn er sehr betrunken war, erzählte er von dem hübschen Knaben, den er gerade irgendwo kennengelernt hatte. Vor Renates aggressiven Attacken wich er zu Dagmar und der Schokotorte aus. Dagmar war spindeldürr und sah aus wie ein Junge. Renate hatte ihr Ziel erreicht und setzte sich seufzend neben Charlotte. »Jetzt erzähl mal, wie es dir so geht!« Nicole hatte entweder zuviel gegessen oder zuviel getrunken oder beides. Man hörte sie deutlich aus dem Bad. »Das muß doch toll sein, so frei und ungebunden.« Flüsterstimme: »Finanziell stehst du ja jetzt auch super.« Dann kam eine so offensichtlich übertriebene und gelogene Jammergeschichte über ihr Eheleben und wieder diese wieselflinke Neugier. Charlotte konnte sich später nicht mehr erinnern, wie lange es gedauert hatte, bis sie durchdrehte. Sie schrie und brüllte, und am nächsten Tag fand sie einen Rotweinfleck an der Wand, vermutlich hatte sie eine Flasche dagegengeworfen.

Sie wachte auf, weil sie Kreuzschmerzen hatte, fand sich in der Sofaecke zusammengerollt, stinkend, verschwitzt. Die Wohnung sah aus wie ein Schlachtfeld, aber sie war allein. Sie ging ins Bad, wusch sich, putzte sich die Zähne und räumte den gröbsten Mist weg. Dann merkte sie, daß Tennissöckchen nicht da war. Sie rief und lockte, ging mit dem Müll in den Hof und suchte auch da. Die Katze blieb verschwunden.

Charlotte erschien mit einiger Verspätung in der Buchhandlung. Nicole und Dagmar bedankten sich übermäßig herzlich, Ruth umarmte sie, das hatte sie noch nie getan. Was immer die Mädchen von der Party erzählt hatten, jeder hielt sie für bemitleidenswert. Sie verkaufte an dem Tag zwei Atlanten und ein Kunstlexikon, sie machte sich über die seit Monaten nicht erneuerte Lagerliste her und hatte eine Idee für die neue Schaufensterdekoration. Sie kaufte sich auf dem Heimweg Lachs, frisches Weißbrot und verschiedene Salate in einem Delikatessengeschäft und eine Flasche Armagnac. Zog sich den grünsamtenen Morgenmantel an und hockte sich mampfend vor den Fernseher, bis es nur noch flimmerte.

Kaufte sich am nächsten Tag einen Wickelrock aus englischem Tweed und ein paar figurverdeckende Schlabberpullis. Kam pünktlich in den Laden und ackerte die Bestellisten durch. Ordnete die Regale um und nervte alle mit ihrer Aktivität. Verkaufte einen angestaubten Leuchtglobus zum Listenpreis und schämte sich nicht einmal. Spürte fast körperlich, wie sich Mitleid und Verwirrung bei Ruth, Dagmar und Nicole in Ablehnung verwandelten, und genoß es.