Der Junge vor ihm las ›Global 2000‹ und hatte neben sich auf dem Kundensitz noch einen ganzen Haufen anderer Bücher. Er war knapp zwanzig und hatte einen Anti-Atom-Button unter seinen militärkurzen Haaren auf dem Kragen. Manfred beugte sich zum Fenster hinunter und versuchte, eine Diskussion anzufangen. Der Junge schaute verschreckt auf, versteckte hastig alle Bücher unter dem Fahrersitz und drückte eilfertig die rechte Tür auf, als sich ein Fahrgast näherte.
Manfred ging zu seinem Wagen zurück. Hatte zwei Fuhren in der Innenstadt und eine nach Schwabing. Parkte auf einem Hinterhof, den er kannte. Gleich bei der Uni, jede Menge Buchhandlungen in der Nähe. Die Sonne schien, und im Straßenbild tauchten die ersten T-Shirts auf. Zwei Cafés hatten schon Tische draußen. Er setzte sich in die Sonne und bestellte einen Campari-Soda. Knöpfte seine Jacke auf und die obersten Hemdknöpfe. Seine Mutter hatte ihm eine alberne Katzenpostkarte und einen Scheck über fünfhundert Mark geschickt. Das hatte sie seit Jahren nicht getan, vermutlich war sie verliebt. Zuerst hatte er vorgehabt, den Scheck zu zerreißen und ihr die Schnipsel in Plastik verpackt zurückzuschicken. Dann hatte er den Jungen im Taxi vorn gesehen und plötzlich eine Lust, Bücher zu kaufen, verspürt, die an Heißhunger gemahnte. Er bestellte sich noch einen Campari und genoß die Vorfreude. Für fünfhundert konnte man eine ganze Menge bedrucktes Papier bekommen. Zuerst würde er die Antiquariate abklappern, und dann noch so ein paar Paperbacks und Taschenbücher … er stellte im Kopf eine Liste für über fünftausend zusammen. Es war gut, in der Sonne zu sitzen. Zeit zu haben. Jung zu sein. Wie früher. Ein Mädchen stöckelte heran. Ein Strumpf leuchtgrün, der andere schwarz. Er zwinkerte ihr zu, sie grinste zurück. Miniröcke, Bleistiftsabsätze und pinkfarbene Samtröhren. Flacharsch. Er lehnte sich zurück und wartete auf die Nächste. Schwingende Röcke und angeschmuddelte Uraltjeans, Stiefel und Sandalen, Kuhwaden und Zahnstocherschenkel, Bügelbretter und Melonen. Eine apfelrunde Negerin mit Reggaehaaren. Silberner Löcherschlabber. Er sah ihr nach. An der nächsten Ecke traf sie sich mit einem Typen, so blauäugig und blondgelockt, wie für eine Uniform geschaffen.
Manfred stand auf und steuerte die nächste Buchhandlung an. Sog den Geruch von Druckerschwärze, Leim und lackierten Umschlägen in sich hinein wie Dope. Regale, Wände, Berge von Büchern. Die Überfülle betäubte ihn, und er blätterte fast zaghaft in den herumliegenden Bestsellern und Bildbänden. Er hatte Entzugserscheinungen, das war's! Seit Monaten war er in keiner Buchhandlung mehr gewesen. Langsam begann er an den wandhohen Regalbergen entlangzustreifen. Ein Mädchen stellte sich ihm in den Weg. Fettblond und aknepummelig mit engstehenden Wasseraugen.
»Bitte?« Piepsstimme.
»Gorki!« fauchte er sie an. Sie starrte verständnislos.
»Gogol!« schnarrte er.
»Häh???«
Er änderte den Tonfall. »Ich würde mir gern die neuesten Kataloge ansehen.« Sie versuchte ein Lächeln.
»Die letzten Prospekte liegen bei der Kasse.«
»Ich meine nicht die Prospekte. Die Verlagskataloge. Ich möchte sie mir gerne ansehen.«
»Wir dürfen keine Kataloge mitgeben.«
»Ich habe nicht ›mitnehmen‹ gesagt, sondern ansehen.« Seine Stimme stieg zum Lehrerton auf. Seine letzte Mädchenklasse aus der Mittelstufe in Eggenfelden. Die hier hatte vermutlich Abitur – wie immer sie das geschafft hatte –, wenn sie hier eine Lehrstelle bekommen hatte. Ihr Traumberuf war sicher Stewardeß oder Zahntechnikerin gewesen. Manfred hätte sie erwürgen können. Er rannte hinaus, bevor sie antworten konnte.
Die nächste Buchhandlung war klein, vor allem Fachbücher und Studenten. Seine Vorfreude hatte sich in Frust und Wut verwandelt. Genüßlich steuerte er das jüngste Mädchen im Laden an. »Wo sind die Kataloge?«
»Wir dürfen leider …« Er ließ sie nicht aussprechen. »Ich habe nicht gesagt, daß ich sie stehlen will!«
Das Mädchen musterte ihn, begann plötzlich zu kichern. Sie war hübscher als die vorher, Stupsnase und Discocharme. Er hätte sie gern geohrfeigt. Erschrak über sich selbst. In seiner ganzen Referendarzeit hatte er sich nie so mies gefühlt. Er hatte immer mit den Schülern geredet, hatte ihnen zu helfen versucht, hatte Geduld und Verständnis für sie aufgebracht. Er hatte sie geliebt, und sie hatten ihn geliebt. Er war ein guter Lehrer gewesen, er hatte gelernt aus den Erfahrungen, die er selber als Schüler gemacht hatte. Er wollte sich bei dem Mädchen entschuldigen, aber sie hatte sich schon abgewandt. Winkte einer anderen Buchhändlerin, die auch sofort auf ihn zukam. Gut zwanzig Jahre älter, breit ausladender Hintern unter einem Webrock, kein Versuch, die Figur zu vertuschen, keine Schminke im Gesicht. Große braune Augen unter einem Wust von Krusselhaar und ein breitlippiges warmes Lächeln. Sie nahm ihn mit nach hinten zu einem Stahlrohrschrank und holte die dicken Verlagskataloge heraus. Fragte, was ihn besonders interessierte, schleppte Bücher heran, und statt zu suchen, ihm irgend etwas zu verkaufen, begann sie mit ihm zu streiten. Er wollte sie provozieren, sie parierte wie ein Fechtmeister, und nach kaum zehn Minuten hatten sie die gesamte Weltliteratur von Edgar Allan Poe bis zu Michael Ende durchgehechelt. Als das Discomädchen kam, um sie zu einem anderen schwierigen Kunden zu rufen, schien sie zu zögern. Manfred packte sie am Arm, ließ sofort wieder los.
»Bitte! Darf ich Sie nachher abholen? Gehen wir zusammen essen.« Sie sah ihn an, wandte dann hastig den Kopf nach dem Discomädchen und dem neuen Kunden, war auf dem Sprung wie eine Katze im fremden Haus. Manfred verspürte Angst. Er kannte diesen Blick von Unsicherheit und Flucht, seine Hirnzellen schütteten Adrenalin und Warnsignale aus, seine Wadenmuskeln spannten sich zum Sprint. »Bitte. Wir müssen doch noch über Hemingway und Hitchcock sprechen und über Born, Roth und Hildesheimer!« Sie sah ihn wenigstens wieder an, immer noch Furcht und Flucht in den Augen. »Adorno«, flehte er, »Susan Sonntag! Doris Lessing!« Sie lachte so plötzlich und so lauthals, daß er Mühe hatte, nicht in Tränen auszubrechen.
»Okay, okay, gegen sieben.«
Manfred taumelte aus der Buchhandlung und in die nächste Telefonzelle. Rief seinen Chef an und berichtete von einer unaufschiebbaren tödlichen Krankheit. Kröll schnauzte ihn an, ein Fahrer von der Tagesschicht war ausgefallen. Manfred sollte wenigstens die Stunden bis zu seinem Date übernehmen.
Er fuhr wie ein Prinz. Er riß den jungen Damen den Schlag auf und trug den Alten die Koffer, er achtete auf Kinder, Hunde und Katzen und lächelte sogar einem Polizisten zu. Er freute sich auf den Abend wie ein Kind auf Weihnachten, und kurz vor sieben fuhr er heim, rasierte sich und zog ein frisches Hemd an. Wechselte die Unterwäsche. Stellte Wein in den Kühlschrank und rannte noch einmal runter, um Erdnüßchen und Salzstangen zu holen.
Als er vor der Buchhandlung stand, war auch die Angst wieder da. Er hatte kein Auto. Sicher hatte sie einen Ehemann zu Hause. Die Weinstube, in die er mit ihr gehen wollte, gefiel ihr womöglich nicht. Sie fand ihn zu jung. Sie war längst gegangen.
Sie war noch da.
Aber im ersten Moment erkannte sie ihn nicht. Ihr Lächeln, als er sie begrüßte, war verkrampft und ihre Augen matt vor Müdigkeit. Sie schien zu bedauern, zugesagt zu haben, und auch er verstand nicht mehr, wieso er sich den ganzen Nachmittag so bescheuert aufgeführt hatte. Die Frau war uralt, und er wußte nicht einmal, wie sie hieß.
Es schien ihr egal zu sein, wohin sie gingen, und in der Weinstube bestellte Manfred erstmal eine ganze Flasche. Er hatte es nötig. Sie soff auch nicht schlecht. Zu sagen hatten sie sich nichts. Saßen da und tranken und warteten auf die überbackenen Champignons und den Salat und die Pfeffersteaks. Nach dem dritten oder vierten Glas wurde es besser. Die Pilze waren schlaff, der Salat wäßrig, die Steaks zäh. Der Wein war gut. Sie lachten und redeten über die grusinische Küche und die griechische, über die von Mailand und die aus der Provence. Manfred zahlte und schleppte sie noch zu Rufo. Sie stopften Zuppa Romana in sich hinein und tranken Espresso und Grappa dazu, die dämlichen Bemerkungen vom Taxistammtisch berührten ihn kaum. Das einzige Buch, das sie erwähnten, war der Butt, der einzige Film, das große Fressen. Aber sonst quatschten sie über alles, über Gott und die Welt, die Liebe, das Leben und den Tod. Sie waren sich einig, und als sie zur Sperrstunde auf die Straße hinaustorkelten, hielten sie sich aneinander fest.
Ihr Name war Charlotte.
Sie bestand darauf, seine Briefmarkensammlung anzusehen. Er machte noch eine Weinflasche auf und rechnete fieberhaft nach, wann er zuletzt die Bettwäsche gewechselt hatte. Sie zog ihn aus, und er zog sie aus, und sie lagen zusammen auf der Matratze, und alles war warm und wohlig und lieb. Zwischendurch lachten sie sich über ihre Verlegenheit hinweg und plätscherten Wein ins Bett und krümelten mit den Salzstangen. Schliefen irgendwann erschöpft ein, wie Löffelchen aneinandergeschmiegt.