Kapitel 8

Die Stille war irritierend. Der Verkehrslärm kam fließend und gedämpft von sehr weit her. Mit seinen Ohren schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Es roch nach Kaffee. Seine Nase war also noch okay. Eine Tür klappte. Laut. Er schreckte hoch und wußte nicht, wo er war. Doppelbett. Einbauschrank, Tüllgardinen. Frisierkommode!

Der Duft von Chanel Nr. 5 und barfüßige Schritte neben ihm. Eine Hand in seinem Haar. »Bist du wach?« Meine Güte, er wußte nicht mal, wo er war. Geschweige denn was oder wie oder wer. Die Matratze neben ihm senkte sich, er öffnete die Augen. War wieder da. Alles war wieder da. Das runde Gesicht mit dem freundlichen lächeln, die blanken Augen, die jetzt vor Ironie funkelten, die er aber ganz anders kannte. Sanft und schmelzend. Verloren wie Kinderaugen, die sich erst im Vertrauen seiner Liebkosungen völlig offenbarten. Er streckte die Arme nach ihr aus und zog sie zu sich ins Bett, umfaßte ihre runden Schultern und schob sich zwischen Ohransatz und Hals. Atmete ihren Körpergeruch, der dem seinen so ähnlich war, und nahm den scharfen Biß von Asphalt und Abgasen wahr.

»Du warst draußen!«

Sie küßte ihn. »Semmeln holen.« Lachte. Sah ihn an. Er streichelte sie, zog sie sorgsam aus, holte sie zu sich und liebte sie, bis er ihre Augen wieder davonschwimmen sah. Er liebte sie, er liebte sie wirklich, und er sagte es ihr. Das hatte er noch nie vorher einer Frau gesagt.

Sie stand auf und machte das Frühstück fertig. Sie mußte um neun in ihrer Buchhandlung sein. Er saß in Unterhosen am Küchentisch und sah ihr dabei zu. Sie hatte einen schönen Körper, kräftig, ausladend, funktionell. Jede Handbewegung stimmte, kein Schritt war flirrig oder überflüssig. Wenn sie ihn ansah, lächelte sie. Es war nicht das zerfallene Lächeln der Nacht, es war das Lächeln der gewohnten Vertrautheit. »Ich kenne dich«, sagte er leise, während sie Eier über den brutzelnden Speck in die Pfanne schlug. »Ich kenne dich wirklich, und ich bin der einzige, der dich kennt.« Das einzige Zeichen, daß sie ihn gehört und verstanden hatte, war eine kleine Bewegung ihrer Oberschenkelmuskeln unter dem engen Rock. Sie sagte nichts, drehte sich nicht um, würzte die Eier und ließ sie auf seinen Teller gleiten. »Ich kenne dich«, flüsterte er noch einmal voller Inbrunst, fing ihren Blick auf, bevor sie sich mit der Pfanne wieder zum Ofen wandte, und fühlte so etwas wie Männlichkeit und Stolz in sich aufwallen. Er war glücklich. Zum Bersten glücklich. Umarmte sie, als sie an ihm vorbeikam und küßte ihren weich gewölbten Bauch. Sie wollte zuerst zurückweichen, gab dann nach, die Kaffeekanne in der Hand über seinem Kopf mühsam balancierend. Sie lachten, und dann machte er sich über das Frühstück her wie ein Cowboy im Wilden Westen nach dreitägigem Ritt durch die Prärie.

Sie saß ihm gegenüber, trank Kaffee und aß einen Toast mit Orangenmarmelade. »Du mußt richtig essen«, sagte er und hätte sie gern geknufft. »Du hast einen ganzen Tag vor dir.« Er haßte diese Zicken, die dauernd von neuen Diäten sprachen und nur deswegen mit einem Mann ins Bett stiegen, weil Bumsen keine Kalorien hat. Sie war nicht so, daß war ihm klar. Sie aß gern und gut und sinnlich. Als sie aufstehen wollte, hielt er sie am Handgelenk fest. »Bleib sitzen, du hast noch Zeit.« Sie sah auf die Uhr. Er hielt ihre Hand fest.

»Es ist doch erst halb neun. Den Kram hier mach' ich. Ich bin der perfekte Hausmann«, er lachte, »sag mir nur, wo ich nachher den Schlüssel hintun soll.«

Sie riß noch einen Augenblick an ihrem Handgelenk, dann gab sie nach und setzte sich wieder hin. Er ließ nicht los. Sah sie an. »Bitte. Ich bin nicht dein Sohn. Ich will kein Kind sein. Du mußt mir nicht die Wäsche waschen und die Bauklötzchen wegräumen.« Sie verstand ihn nicht. Er krallte seine Nägel in ihren Handrücken. »Ich will nicht, daß du in mir so eine Art verkümmerten Kinderersatz siehst, verdammt nochmal!« Er brüllte fast. »Ich will, daß du mich als Mann akzeptierst, als Mensch, als Erwachsenen.« Leiser: »Partner ist ein Wort, das ich, außer bei Geschäftsbeziehungen, nicht ausstehen kann.«

Sie sah ihn an, dann ihre Hand, drehte seine Finger weg und lutschte eine kleine Blutschramme weg. »Du bringst da was durcheinander«, sagte sie leise. »Hast du mal so ein paar Kurse Psycho in der Volkshochschule besucht? Nicht jede Mutter hat den Ödi drauf. Mein Sohn, zum Beispiel, ist, ums mit Verlaub zu sagen, ein biederer Stinkstiefel. Und ich bin als Mutter eine absolute Niete. Ich mag dich als dich, aber ich bin älter als du und außerdem der Gastgeber.«

»Ja, stimmt, du bist richtig gut und brav erzogen.« Er stand auf, ging um den Tisch und umarmte sie. »Und es ist doch nicht meine Schuld, daß ich ein bißchen jünger bin als du.« Küßte sie. »Und ich will dir noch was sagen: die meisten Mädchen in meinem Alter sind viel älter als du.« Sie wollte wieder aufstehen, er drückte sie auf den Stuhl zurück. »Nach langjähriger Forschungsarbeit bin ich sowieso zu dem Schluß gekommen, daß 90 Prozent der Menschheit schon als Greise geboren werden.« Sie machte sich mit einem Ruck von seiner Hand frei und grinste. Lächeln konnte man das nicht nennen.

»Wir sollten mal unsere wissenschaftlichen Nachforschungen vergleichen. Ich bin nämlich zu dem Ergebnis gekommen, daß 90 Prozent der Menschheit im reifen Alter von vierzehn steckenbleiben.«

»Ich bin eine große Ausnahme. Ich bin neunundzwanzig und dafür ausgesprochen weit. Und einen Mamakomplex hab ich auch nicht.«

»Aber eine Mama.«

»Klar. Wenn man's genau nimmt, dann ist sie sogar schuld daran, daß wir uns kennen.« Er genoß den erstaunten Ausdruck in ihrem Gesicht. »wenn sie mir nicht in einem plötzlichen Anfall von Großmut Geld geschickt hätte, dann wär' ich auch nicht in deine Buchhandlung gekommen.«

»Würde deine Mutter mich sympathisch finden?« Er konnte an ihrem Gesichtsausdruck sehen, was für eine Antwort sie erwartete. Eine fromme Lüge. Er stellte sich vor, wie Charlotte barfuß über den nachtblauen Velours schlurfte. Lachte.

»Nein. Sie würde dich unmöglich finden, ums mal ganz diskret auszudrücken.« Sie lächelte zufrieden, als hätte sie einen Punkt gemacht. »Unsere Beziehung aber«, fuhr er fort, »die würde sie ausgesprochen genießen.«

»Aber, das ist doch verrückt!«

»Tja, so hab' ich meine Mutter auch immer eingeschätzt. Was aber nicht bedeutet, daß sie nicht durchaus liebenswerte Züge hat.« Manfred sah sie an. Es machte ihm Spaß, in ihrem Gesicht lesen zu können. Er hätte ihr genau sagen können, was sie jetzt dachte. Ihr zu erklären, weshalb seine Mutter die ganze Geschichte gutheißen würde jedoch, das könnte Charlotte verletzen. Sie war so unsicher, sie fühlte sich alt, er konnte ihr nicht sagen, daß er sie ja gerade deswegen liebte. Eben, weil sie nicht so super und glatt und schön und selbstsicher war. Weil sie nicht nur aus Oberfläche bestand. Weil sie verletzlich war. »Manchmal siehst du aus wie ein kleines Mädchen.«

»Ich kann dir ja mal Kinderfotos von mir zeigen. Es gibt da doch gewisse Unterschiede.« Sie stand auf. »Ich muß los.« Sie blieb vor ihm stehen, erwartete, daß er auch aufstand. Er sah zu ihr hoch.

»Wenn du mir deinen Schlüssel nicht geben willst, dann sag es ruhig.« Genau das hatte sie gedacht. Es war ihr unangenehm, ihn allein in ihrer Wohnung zu wissen. Aber jetzt konnte sie das natürlich nicht zugeben.

Er brachte sie zur Tür. Spürte wieder ihr Zögern und hätte sie gern beruhigt, aber was immer er gesagt hätte, es hätte es nur noch schlimmer gemacht. »Ziemlich miefige Gegend hier, in der du wohnst«, meinte er statt dessen.

»Ach, solche Dinge sind für dich wichtig?« Sie lief noch einmal an ihm vorbei in die Wohnung, weil sie ihre Tasche vergessen hatte, kramte in einer Schublade der Flurkommode herum, hielt einen Schlüsselbund mit Plastikanhänger hoch. »Ich habe noch einen zweiten Schlüssel.«

Als er allein war, wusch er das Frühstücksgeschirr ab und steckte sich zum Kaffeerest eine Zigarette an. Schlenderte mit der Zigarette durch die Wohnung und sah sich um. Nachts hatte er die Einrichtung zwar für spießig, aber doch für teuer gehalten. Jetzt sah er überall die Spuren von Zeit und Sparsamkeit. Abgeplatztes Furnier und durchgewetzte Polster, fadenscheinige Vorhänge und flachgetretener Teppichflor. Nur die einfache Stereoanlage und der Fernseher schienen relativ neu. Er machte die Schranktüren auf. Ein buntes Durcheinander und leichter Mief. Er kramte in den Schubladen und fand eine Mappe mit Papieren. Öffnete sie automatisch. Er hatte schon als Kind gelernt, die Briefe an seine Mutter über Dampf zu öffnen. Der Gedanke an seine Mutter ließ ihn die Mappe wieder zuklappen. Scheiße, er war doch kein Schnüffler!

Er begann, die Wohnung sauberzumachen. Staubsaugen, wischen, putzen. Er ließ heißes Wasser in die Badewanne und weichte die vergilbten Gardinen ein. Er reinigte den Kühlschrank und stellte die Mülltüten in den Flur, um sie nachher mit hinunter zu nehmen. Er bearbeitete die Polstermöbel mit Trockenschaum und die Holzflächen mit Polyboy. Er versuchte, sich voll aufs Arbeiten zu konzentrieren, und hatte die ganze Zeit wie ein Dia das oberste Papier aus der Mappe vor Augen. Ein Bankauszug. DM 783,06. H.

Er genehmigte sich einen Cognac aus dem Schränkchen und steckte sich eine Zigarette an. Fand eine Coltrane-Platte und legte sie auf. Er konnte schließlich nichts dafür, daß er sowas wie ein eidetisches Gedächtnis hatte. Daß er auch die anderen Zahlen noch vor sich sah. Was sie verdiente und was sie von ihrem Alten bekam.

Es war verdammt wenig.

Manfred drückte die Zigarette aus, wusch die Gardinen und hängte sie feucht auf. Eigentlich hatte er zum Abendessen gespickten Hasenrücken machen wollen. Als er die Mülltüten im Hof in die Tonnen packte, grüßte ihn eine alte Frau mit Stock. Er nickte zurück und ging in den nächsten Supermarkt zum Einkaufen.