Kapitel 9

»Gut sieht sie aus.«

»Ringe um die Augen!«

»Schau du mal selber in den Spiegel!«

»Sie hat abgenommen!«

»Schwarz streckt …« Sie kicherten hinter ihrem Rücken. Charlotte packte mechanisch Bücherpakete aus und bemühte sich, Dagmar und Nicole zu überhören. Manfred in ihrer Wohnung. Manfred an ihrem Geldversteck unter den Strumpfhosen. Über zweihundert Mark, aber das war nicht so schlimm. Eine von den Strumpfhosen war nicht gewaschen. Sie hatte sie nur einmal angehabt und zusammengeknüllt zu den anderen gestopft. Das Fotoalbum. Die Kinderzeichnungen von Thomas. Walters allererste Liebesbriefe im Schuhkarton. Die schmutzige Wäsche. Hinter dem großen Wassertopf gammelte eine Tüte mit alten keimenden Kartoffeln vor sich hin. Im Badezimmer lag das Tampaxpäckchen offen herum. Sie hatte es nie weggeworfen. Kaum dran gedacht. Oder doch? Seit der Unterleibsoperation brauchte sie keine mehr. Verstümmelungen. Sie war damals erst vierundvierzig und noch mit Walter zusammen. Er hatte sie im Krankenhaus besucht und ihr Blumen mitgebracht. Macht ja nichts, altes Mädchen, hatte er gedröhnt, die Frau vom Chef haben sie auch ausgeräumt und sie treibt's wie eh und je. Ausgeräumt! Die Frau neben ihr im Zimmer war noch keine dreißig und benützte selber diesen Ausdruck. Charlotte war nur froh, als sie endlich wieder rausdurfte und die Schamhaare nachwuchsen. Mit Walter schlief sie doch sowieso schon lange nicht mehr. Wieder aufrecht gehen konnte und heben durfte. Und Kinder wollte sie um Gottes Willen auch keine mehr. Merkte, daß die Narbe gut verheilte und keinen Wulst bildete. Im Gegenteil, sie konnte froh sein, daß sie den Kram mit der Pille und den Tagen endlich los war. Frei! Sie konnte ihren Urlaub buchen, wann sie wollte, und immer schwimmen gehen.

Natürlich war irgendwann auch der Schock gekommen. Nie mehr, unwiderruflich nie wieder. Lächerlich. In ihrem Alter konnte sie froh sein, wenn sie das Klimakterium nicht bemerkte und so jedenfalls vor psychischen Hämmern verschont blieb. Und wieso hatte sie dann bitte das Tampax liegen lassen? Verstaubt, verkrümmt, oben auf dem Spiegelschränkchen.

Manfred hatte nichts gesagt, keinen Ton. Er hatte sie gestreichelt, und er war dabei auch über die Narbe gekommen. Sie war empfindlich. Wenn sie lag, konnte man kaum etwas erkennen, nur im Stehen bildete sich eine Falte. Charlotte ließ einen Karton fallen, die Bücher platzten heraus, eines hatte eine eingedrückte Ecke.

Dagmar und Nicole waren schon neben ihr und halfen ihr beim Einsammeln. Deckten sie ab, Dagmar bog die Ecke von dem Buch wieder gerade. »Schauen Sie sich mal unauffällig um!«

Neben der Kasse standen Koffer. Zwei Koffer in verschiedenen Größen, passende Reisetaschen und Beautycase. Weiches Patchworkleder in verschiedenen Braun- und Rottönen. Oben, auf der Kasse ein bunter Plastikstrauß, leicht ramponiert, davor ein gelber Briefumschlag.

»Will jemand verreisen! Geht eine von euch in Urlaub?«

Die Mädchen quiekten um die Wette. Sie hat noch immer nichts gemerkt. Gute alte Charlotte! Ist doch Ihr Kram!

Sie hatte bei dem Schaufensterwettbewerb des Kinderbuchverlages den dritten Preis gewonnen. Der erste war ein Flug nach New York gewesen, der zweite ein Farbfernseher. Dagmar und Nicole hatten mit Ruths Apparat noch ein paar Aufnahmen gemacht und sie dann eingereicht. Heimlich. Sahen sie jetzt erwartungsvoll an.

Charlotte wurde wütend vor Rührung. »Ihr könnt es behalten. Teilt es euch. Ich fahr' eh nicht weg. Räumt lieber das Lager auf.« Sie lachten nur und luden sie mittags an einem grauenerregenden Würstchenstand zum Essen ein. Nahmen ihr auch am Nachmittag alle nur mögliche Arbeit ab und hofierten sie wie einen Star. Es war so übertrieben und so lächerlich, daß es leicht wie eine Verspottung hätte wirken können, aber Charlotte wußte, das sie es so meinten, und mußte sich beherrschen, die beiden Mädchen nicht dauernd in den Arm zu nehmen.

Zwei Sekunden nach sechs läutete das Telefon. Ruth ging ran und kam dann zu Charlotte. »Für dich. Dein Sohn.« Es klang, als würde sie die Queen von England anmelden. Charlotte wollte nicht hingehen, konnte den Hörer aber auch schlecht so neben den Prospekten und Katalogen und Bestellbüchern liegen lassen. Niemand rief sie je in der Buchhandlung an. Wenn doch, lag vermutlich eins der Enkelkinder im Sterben. Nagende Schuldgefühle regten sich. Sie rannte fast zum Telefon.

»Thomas! Was ist passiert! Wo bist du! Wer ist krank?«

»Mutter! Bei dir ist ein Mann in der Wohnung! Soll ich die Polizei anrufen?« Zuerst verstand sie nur Polizei. Schweißausbrüche am ganzen Körper. Die fragenden Gesichter der anderen. Sie drehte sich zur Wand hin und nahm den Telefonapparat mit.

»Thomas, du weißt doch, daß du mich hier nur im äußersten Notfall anrufen sollst!«

»Ich konnte doch nicht ahnen, daß du jetzt schon den ganzen Tag in dem Laden rumhängst! Und es ist wirklich ein Notfall!« Seine Stimme kippte ins Weinerliche über. Charlotte kramte sich eine von Ruths Mentholzigaretten aus der Packung und suchte unter den Papieren auf dem Schreibtisch nach dem Feuerzeug.

»Was für ein Notfall?«

»Ein Einbrecher vermutlich. Ich wollte dich anrufen, und da hat sich ein Mann gemeldet!«

»Ein Mann! Was hat er gesagt?« Sie hatte endlich das Feuerzeug gefunden, hatte Mühe, den Mechanismus rauszufinden. Es war so ein bescheuertes auf alt gemachtes Gasfeuerzeug mit Rädchen.

»Hallo, und dann einfach aufgehängt!«

»Du hast dich verwählt, das ist alles.« Charlotte inhalierte und bekam einen Hustenkrampf.

»Rauchst du etwa schon wieder?!«

»Nur leicht erkältet«, nach dem zweiten Zug hatte sie sich an den scharfen Mentholgeschmack gewöhnt. »Also, was wolltest du mir sagen?«

»Daß sich in der Wohnung ein Einbrecher befindet!« Seine Stimme waberte vor Mißbilligung und Wichtigtuerei. »Und daß ich die Polizei rufe, wenn du es nicht tust.«

»Reg dich ab. Du hast dich verwählt. Kann auch mir mal passieren.«

»Im Hintergrund hab' ich aber Musik gehört!« Triumphierend. »Shorty Rogers. Unsere Platte!« Pause. Charlotte zog an der Zigarette. Hinter ihr kramte Ruth in den Papieren.

»Und du glaubst, es gibt nur diese einzige Shorty-Rogers-Platte auf der Welt?«

»Nein, Mutter«, seine Stimme bekam etwas Hinterhältiges, »aber nur eine mit einem Sprung in Cool Sunshine.«

»Okay, Söhnchen«, sie gab sich Mühe, gelassen zu klingen, »vielen Dank für die Information. Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern und, wenn nötig, den Staatsanwalt einschalten. Sonst noch was?« Lange Pause. An der Tür hatten die Mädchen Mühe mit irgendwelchen Ausländern. Französische Studenten, so wie es aussah. Und dabei hatten sie beide Französisch bis zum Abitur gehabt.

»Wir wollten uns nur verabschieden«, das klang wieder weinerlich. »Wir fliegen übermorgen und dachten, du hättest die Kinder vielleicht noch gern vorher gesprochen.« Sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig.

»Wollt ihr die etwa mitnehmen nach Kenia?«

»Natürlich nicht. Sie gehen in der Zeit auf einen Ponyhof hier in der Nähe.«

»Dann ist es ja gut. Viel Spaß und kommt heil zurück.« Sie legte auf, bevor er noch etwas sagen konnte, und eilte zu den Franzosen, die sich als Kanadier herausstellten und nur nach dem Weg zur Kunstakademie fragen wollten. Das waren keine hundert Meter, aber Dagmar und Nicole bestanden darauf, daß es ein sehr komplizierter Weg sei, den nur sie beide kannten. Charlotte ließ sie gehen, das war schließlich das mindeste. Ruth machte ihr Vorwürfe, auch sie hatte pünktlich um halb sieben eine Verabredung. Sie ließ es geheimnisvoll klingen, auch wenn sie sicher war, daß Charlotte niemals auf die Idee kommen würde, daß es neben dem Weekendheini vom Kultusministerium noch einen weiteren Lover gab.

Charlotte schloß den Laden und räumte auf. Behielt die beiden letzten Kunden dabei im Augenwinkel und räusperte sich, als sie eine Hand mit Hans Mayer Band II in einer Parkajacke verschwinden sah. Das Buch wanderte wieder ins Regal zurück, Charlotte verkaufte vier Magritte-Postkarten. Sie kontrollierte noch einmal alles, nahm ihre Tasche und schaltete das Licht ab. Als das schwere Metallgitter herunterrasselte und unten ins Schloß schnappte, fiel ihr ein, daß sie das gewonnene Koffer-Set vergessen hatte. Sie hatte keine Lust, noch einmal aufzusperren, und noch weniger, die dämlichen Koffer heimzuschleppen.

Heim.

Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie sich auf den Weg machte.

Schon von weitem konnte sie sehen, daß in ihrer Wohnung Licht brannte. Dafür gab es verschiedene Möglichkeiten. Er hatte vergessen, es auszumachen. Er hockte da noch rum und war besoffen. Er hatte eine Party veranstaltet und alles war versaut. Er hatte alles ausgeräumt, und da oben wartete die Polizei. Sie ging langsamer.

Im Treppenhaus traf sie niemanden. Aus den Türen quollen die Fernsehnachrichten. Es roch intensiv nach Knoblauch. Immer stärker. Sie suchte nach dem Zweitschlüssel. Die Wohnungstür öffnete sich vor ihr wie durch Zauberhand. Manfred nahm ihr die Tasche ab und küßte sie auf den Hals, auch er roch nach Knoblauch. Der Tisch war gedeckt, zwei Teller, zwei Gläser, ein Blumenstrauß, der alte Kerzenhalter auf neu poliert und im Hintergrund ein bißchen Thelonious Monk. Keine Taxifahrer, keine nackten Weiber, keine Polizei. Alle Möbel noch vorhanden. Neben dem Knoblauchduft ein Hauch von Polyboy und Weißer Riese. Charlotte ließ sich erleichtert auf einen Stuhl fallen.

Manfred servierte das Essen. Endiviensalat mit feingehacktem grünem Sellerie und Zwiebeln, Spaghetti mit Tomatensoße und Parmesan.

Manfred ließ es nicht zu, daß sie ihm half. Er wollte alles selber machen. Servierte wie im Drei-Sterne-Hotel. Hatte ein frisches Hemd an. Freute sich wie ein Kind, als es ihr schmeckte. Erzählte mit vollem Mund, wie er die Soße zubereitet hatte. Tomaten gebrüht und gehäutet. Zwiebeln und sehr viel Knoblauch, Oregano und Chilipfeffer, Olivenöl und zerkleinerte Sardellenfilets. »Bescheuert, wenn man denkt, wieviel Tomaten für das bißchen Soße nötig waren.«

»Schrecklich viel Arbeit«, meinte sie anerkennend.

»Aber Kostenfaktor quasi Null.« Er goß ihr Wein nach. Ein französischer Landwein, den es zur Zeit im Sonderangebot gab. Leicht und trocken.

Sie tranken sich zu, und auf einmal hatte sie nicht mehr das Gefühl, daß dieser Mann so furchtbar jung und fremd war. Sie sah seine Augen über den flackernden Kerzen.

Er war da.

Und sie war zu Hause.