»Der Weekendheini hat die Kurve gekratzt.«
»Vermutlich hat er's mit der Bandscheibe.«
»Ich hab' gehört, daß Frau Weekend die beiden in flagranti erwischt hat.«
»Wo, im Bett?«
»Quatsch, in der Kneipe.«
»Und die heißt ›In Flagranti‹?«
Albernes Gegacker. Charlotte lachte am lautesten. Seit Tagen war Ruth nicht mehr wiederzuerkennen. War sie vorher schon superschlank gewesen, – jetzt sah sie dürr und eingefallen aus, und ihre ewigen Braun-, Grau- und Aubergine-Kombinationen schlotterten farblos an ihr herum. Ihr Mund wirkte leicht schief, auf der einen Seite hatte sich eine scharfe Falte eingegraben. Vermutlich war sie schon vorher dagewesen, aber aufgefallen war sie ihnen nicht. Im Moment stand Ruth als einzige im Laden draußen und sortierte fahrig an den Neuerscheinungen herum. Einer der Stammkunden hatte den Mädchen eine Flasche Martini rosso geschenkt, jetzt saßen sie hinten im engen Packraum und genehmigten sich eine Zigarettenpause. Als vorn die Glocke ging, reagierten sie nicht weiter, Ruth war ja draußen. Erst als energisch kurze Schritte näherstampften, sprang Dagmar auf. »Verdammt, klingt nach Old Maggie!« Sie versuchte hastig die Flasche, die Gläser und die Zigaretten gleichzeitig zu verstecken. Nicole packte völlig sinnlos irgendein altes Paket ein und aus, es war zu spät! Margarete Herbst, Witwe und Besitzerin der Buchhandlung Herbst, stand schon in der Tür. Ein Meter achtundfünfzig hoch aufgerichtet, den für ihre Größe und ihr Alter gewaltigen Busen wie ein Geschütz ausgefahren und das eisengraue Haar zu einem mächtigen Knoten auf den Kopf getürmt. Schweigen. Charlotte spürte, wie sie rot wurde, und wär' gern aufgestanden, aber dazu war jetzt kaum noch Platz. Starrte nur paralysiert. Es kam selten vor, daß Old Maggie, wie die Mädchen sie nannten, sich hier blicken ließ. Niemand wußte genau, wie alt sie war, weit über siebzig in jedem Fall. Sie reiste viel herum, Kultur in Verona, Quellwasser in Bad Mergentheim, Trauben in Meran. Die Führung der Buchhandlung überließ sie Ruth, aber die Bücher und Finanzen hatte sie fest in der Klaue. Sie war eine knickrige, knochenharte Geschäftsfrau. Sie schwieg noch immer. Dagmar versuchte, sich an ihr vorbeizudrücken, aber sie gab die Tür nicht frei. Die Tatsache, daß Ruth sie weder gewarnt hatte noch jetzt auftauchte, sprach dafür, daß sie draußen mit einem Herzinfarkt über der Kasse hing.
Charlotte stand entschlossen auf und zwang die alte Frau dadurch, einen Schritt zurückzugehen. Sofort huschten die Mädchen hinaus. Und ließen sie mit Maggie allein. Graue Augen unter kahlgerupften Brauen musterten die Gläser, die auf einer Bücherkiste Ringe hinterlassen hatten, und die letzte Zigarette, die im Aschenbecher vor sich hinglimmte. Charlotte drückte sie unbeholfen aus und verbrannte sich die Fingerkuppe. Rauchen war hier strengstens verboten, und jede Entschuldigung wäre sinnlos gewesen.
»Glauben Sie wirklich, daß ich Sie dafür bezahle?«
Charlotte hatte eine ganze Reihe von Antworten darauf im Kopf. Soviel ist es ja weiß Gott nicht. Außerdem arbeite ich seit Wochen ganztags zum kümmerlichen Halbtagslohn. Es war sowieso kein Kunde da. Und, wenn's dann losgeht, schuften wir doppelt. Und so weiter. Sie brachte aber keinen Ton hervor. Wischte unauffällig ihre feuchten Hände am Rock ab. Wenn sie jetzt den Job ganz verlor, dann war alles aus. Gerade jetzt. Sie versuchte, dem kalten Blick standzuhalten, und blinzelte. Nicole erlöste sie endlich. »Frau Gerlach, da ist der Kunde, der die Kulturgeschichte bestellt hat.«
Den Rest des Tages arbeiteten sie stumm und verkrampft, während Old Maggie wie ein Scharfrichter über den Papieren und Unterlagen hockte und nach Unregelmäßigkeiten suchte. Natürlich gab es jede Menge davon. Vergessene Bestellungen, nicht verschickte Rechnungen, falsch abgelegte Mahnungen und sonstiger Kleinkram, der sich so angesammelt hatte. Das meiste davon ging auf Ruths Konto, zumindest trug sie die Verantwortung dafür. Sie schlich gekrümmt herum, sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und hätte Charlotte und den Mädchen leid getan, wenn die Erleichterung über jedes Donnerwetter, das nicht sie traf, nicht größer gewesen wäre. Die Mittagspause fiel selbstverständlich aus.
Charlotte hatte sich in die Kinderbuchabteilung verzogen und räumte und ordnete dort mit ziemlichem Geräuschaufwand herum. Um halb zwei war sie mit Manfred im Leopold verabredet gewesen, jetzt war es schon nach drei. Er wußte nicht, was los war, machte sich vielleicht Sorgen. Anrufen konnte sie ihn jetzt nicht. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, hier anzurufen. Oder kam auf irgendwelche dummen Gedanken. Es war noch nie passiert, daß einer von ihnen ein Treffen verpaßt hatte. Verrückt. Charlotte blätterte versonnen in ›Pu der Bär‹. Sieben Wochen und vier Tage. Fast zwei Monate. Und es war noch immer nicht zu Ende. Im Gegenteil. Vorn bei der Belletristik ging ein neues Donnerwetter herunter. Nicole diesmal. Charlotte schreckte auf und schob ›Pu‹ ins falsche Fach.
Endlich, um sechs Uhr, hob Old Maggie zur letzten Schlußtirade an, verteilte giftige Bemerkungen an alle und kündigte Gehaltskürzungen, fristlosen Rausschmiß und sofortige Versteigerung des ganzen Ladens an einen Supermarkt an.
Vier Kunden, die ganz friedlich in den Regalen stöberten, lösten sich vor Schreck in Luft auf. »Sie sollten sich um die Kunden kümmern und nicht blöd rumstehen!« schrie sie Charlotte an, dann rauschte sie ab. Dagmar und Nicole begannen hysterisch zu lachen, Ruth bekam einen Heulkrampf und schloß sich auf dem Klo ein. Charlotte hätte gern den Laden zugemacht, war aber nicht sicher, ob Old Maggie nicht noch irgendwo in der Gegend herumlungerte, weil sie genau darauf wartete. Einer ihrer Stammkunden, ein Germanist im achten Semester, kam herein. Grinste.
»Sie ist an der Ecke in ein Taxi gestiegen.«
Taxi. Charlotte hätte gern gefragt, was für ein Taxi, aber erstens hätte der Germanist das nicht gewußt, und außerdem war es sowieso zu spät. Manfred war jetzt auf Tour.
Es wurde spät an dem Abend.
Dagmar und Nicole wollten unbedingt den restlichen Martini mit dem Germanisten trinken, und Ruth entschuldigte sich mit Magenschmerzen. Es war nach sieben, als Charlotte das Gitter herunterließ. Sie machte einen Umweg zum nächsten Standplatz. Wenn Manfred es einrichten konnte, dann war er manchmal dort. Heute war überhaupt kein Taxi da, und sie nahm den Bus.
Der Verkehr hatte schon nachgelassen, die Geschäfte waren geschlossen, hinter erleuchteten Fenstern saßen die Leute bei Abendessen und Tagesschau. In der Straße, in der sie wohnte, war außer ihr nur noch der Sohn vom Friseur nebenan mit seinem Beagle. »Schöner Abend«, meinte er, sie nickte und sah, daß bei ihr oben Licht brannte. Sie wäre gern gerannt, mußte sich aber zuerst noch anhören, daß der junge Mann beim bayerischen Frisierwettbewerb die Goldmedaille gewonnen hatte. Der Hund nutzte die Pause zu einem Geschäftchen auf dem Gehweg. Charlotte schaute immer wieder zu ihren Fenstern hoch. Unterbrach den Vortrag mitten zwischen Stufenschnitt und Fönschwung und lief über die Straße. Im Treppenhaus roch es nach Bohnerwachs. Die durchgetretenen Stufen waren spiegelglatt und glänzten vor Öl. Auf dem dunklen Holz staubige Muster von Profilsohlen. Charlotte ging schneller. Läutete an ihrer Tür, während sie nach dem Schlüssel suchte. Nichts. Sie schloß auf.
Die Wohnung war aufgeräumt und sauber und leer. Im Wohnzimmer und im Flur brannte Licht. Auf dem kleinen Tisch lag ein Zettel. ›Wo warst du? Ich vermisse dich. Im Ofen ist ein Auflauf. Nur anstecken. Schau mal in den Kühlschrank. Denk an mich. M.‹
Im Kühlschrank waren Lebensmittel für einen halben Monat. Obst, Gemüse, Käse, Wurst, ein Hühnchen, eine Dose Krabben und Wein. Ganz vorn stand eine Schüssel mit Obstsalat in Cointreau. Sahne daneben. Charlotte sah in den Hängeschränken nach, wohlgeordnete Pakete mit Nudeln, Reis, Zucker, Salz, Kaffee, Fischbüchsen, Salzmandeln und saure Gurken. Im Brotkasten waren ein Vintschgauer Laibl und ein frisches Zwiebelbrot.
Charlotte setzte sich mit zwei Salamibroten und einer Flasche Wein vor den Fernseher. Vielleicht konnte Manfred seine Schicht heute ja abkürzen, dann war immer noch Zeit für den Auflauf und den Obstsalat. Nach einer reichlich lauten Musiksendung und einem Politikerporträt kam ein alter Krimi mit Walter Matthau. Woher hatte er das viele Geld? Sie widerstand dem Impuls, in dem Geldversteck unter den Strumpfhosen nachzusehen. Bisher hatten sie immer von Tag zu Tag eingekauft, manchmal auch bei ihm in der Wohnung gekocht. Einfache Sachen wie Spaghetti, Risotto oder Chili con Carne. Der Wein, den sie gerade trank, war auch kein offener Landwein, sondern Orvieto Classico. Sie redete sich selber ein, daß sie sich umziehen wollte, und ging ins Schlafzimmer hinüber. Das Kuvert mit dem Geld war noch an seinem Platz. Vier Hunderter, ein Fünfziger, zwei Zehner. Charlotte spürte ihre Fingerspitzen kribbeln, als sie den Umschlag zurückschob. Ging zurück zum Fenster und sah ein zerklüftetes Gesicht. Seit diesem ersten Tag hatte sie aus dieser Schublade nur noch Strumpfhosen geholt. Saubere. Neue hineingetan. Mehr als zweihundert waren nie in dem Kuvert gewesen. Oder hatte sie sich verrechnet. Aber doch nicht gleich ums Doppelte. Sie fror. Schenkte sich Wein nach. Schwarze Autos jagten schwarze Autos. Sie war nie besonders ordentlich gewesen. Auch nicht in Gelddingen. Das hatte immer Walter besorgt. Er war sparsam. Sie hatte ihr Schmugeld im Strumpffach. Im Dritten lief ein farbenfroher Bericht über behinderte Kinder. Das Unbehagen verlagerte sich. Eine Kontonummer für Spenden wurde gezeigt. Charlotte ging ins Bett und konnte nicht einschlafen.
Sie wurde mitten in der Umarmung wach. Regen prasselte gegen die Scheiben. Sein Bart kitzelte sie. Seine Arme erdrückten sie fast. Wo warst du. Ich hab' dich vermißt. Mach das nie wieder. Ich liebe dich. Er stopfte ihr die Kissen in den Rücken und fütterte sie mit dem Obstsalat. Die Sahne thronte wolkig über allem.
Während sie ihm den Besuch von Old Maggie schilderte und die komischen Aspekte dabei besonders hervorhob, versuchte sie krampfhaft, sich an die Gründe des Unbehagens zu erinnern, wegen dem sie nicht hatte einschlafen können. Sie kicherte unmotiviert. Er hatte noch Cointreau nachgegossen. Woher hatte er das Zeug. War verdammt teuer. Das Kuvert im Strumpffach. Alles war falsch.
»Aber, das ist falsch!« Er nahm den Obstsalat weg und beugte sich über sie. »Hör mal, so kann die das doch nicht machen! Du hast einen Halbtagsjob und schuftest voll. Und das alles noch für so einen grotesken Hungerslohn!«
»Ich kann mich nicht erinnern«, sie mußte rülpsen und setzte sich höher, »daß ich dir je gesagt habe, wieviel ich verdiene.« So, jetzt war's raus und noch dazu ziemlich würdevoll.
Er wich zurück, als hätte sie ihn geschlagen. Wurde rot, dunkelrot, kauerte neben ihr. Gestand. Stockend wie ein kleiner Junge vor der zerbrochenen Sparbüchse. Von seiner Mutter, und wie er die Mappe mit den Papieren gefunden hatte. Den Bankauszug. Seine Scham. Seine Angst. Seine Liebe. Ja, er hatte auch das Kuvert unter den Strümpfen gefunden. Er hatte die Schränke aufgeräumt. Hatte sie das denn nicht gemerkt? Er hatte die ganze Wäsche gewaschen oder weggebracht. Das Kuvert hatte er doch nur durch Zufall gefunden. Nein, er war kein Schnüffler und hier schon gar nicht. Ja, er hatte zwei Hunderter dazugetan. Er hatte gefürchtet, es würde nicht halten. Sie würde seiner überdrüssig werden. Sie würde es vielleicht nicht merken. Danach. Er schwieg und sah sie an.
Müdigkeit, Überraschung, Rührung und Cointreau ließen sie das Unbehagen vergessen. Sie legte ihm die Arme um den Hals und zog ihn zu sich herunter. Küßte ihn und ließ sich von seiner Wärme bergen. »Liebst du mich?« flüsterte er. »Bitte, sag es nur einmal, bitte!« Sie nickte, wußte, daß er das nicht sehen konnte. Verpaßte den Augenblick, einfach nur ›ja‹ zu sagen. Es war so ungewohnt.
Beim Frühstück waren sie albern und verliebt, keine Stimmung für ernsthafte Gespräche. Es war noch immer dunkel draußen, und sie tranken ihren Kaffee bei Kerzenlicht. Eisgekühlte Melone mit Serranoschinken, hauchdünnes Zwiebelbrot mit butterweichem Camembert, Eier im Glas mit einem Klacks Kaviar drüber. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, zu fragen, woher er das viele Geld hatte, und vielleicht hätte er ihr da sogar ehrlich geantwortet. Sie hätte den ganzen Tag über Zeit gehabt, nachzudenken. Aber vermutlich hätte sich auch dadurch nichts geändert.
Im Bus stand sie eingekeilt zwischen einer Gruppe regennasser Berufsschüler und schwankte in den Kurven glücklich mit. Abgehoben. Sie schnuffelte an ihrer Oberlippe, die nach Kaffee, Käse und Manfred roch.