Kapitel 13

Das neue Semester hatte angefangen, und der Laden war fast dauernd gerammelt voll. Alte Kunden, die schon wußten, was sie wollten, und Anfänger, die noch unsicher in den Katalogen und Regalen kramten und alles aufhielten. Charlotte erwischte einen Studenten, der das Oxford Dictionary in seiner Mappe wegzuschleppen versuchte, und ein Mädchen, das mit einer Minox über der Geschichte von Byzanz herumhantierte. Die Buchhandlung bestand aus drei großen ineinandergehenden Räumen, und es war schlicht unmöglich, gleichzeitig Kunden zu beraten, selten verlangte Bücher aus dem Lager zu holen und auch noch auf Diebe zu achten. Und sie klauten wie die Raben! Manche traten ganz professionell auf, kamen zu zweit oder dritt, einer lenkt ab, die anderen packten ein. Old Maggie hatte für die Stoßzeiten eine Aushilfskraft versprochen, aber wenn Charlotte oder Ruth jemanden vorschlugen, dann kam immer irgend etwas dazwischen. Wo war überhaupt Ruth schon wieder?

Charlotte fand sie zusammengekrümmt im Packraum. Magenkrämpfe. Sie taumelte in den Waschraum und kam ewig lang nicht mehr zurück. Charlotte mußte zwei Kunden bedienen, bevor sie wieder nach ihr sehen konnte. Sie war bleich, ihr Gesicht schweißüberströmt. Sie weinte, während sie ihre Jacke anzog. »Ich bin krank. Ich hab' Blut gespuckt.« Sie schluchzte auf, und Charlotte verstand etwas von Krebs. Sie packte sie, schüttelte sie sanft.

»Red doch keinen Unsinn! Du hast einen nervösen Magen, weiter nichts! Geh sofort zum Arzt. Das ist nichts Schlimmes, ich schwör's dir.« Sie glaubte es selbst nicht, Ruth sah grauenhaft aus. Alt und eingefallen. Gleich um die Ecke praktizierte ein Internist, Ruth kannte ihn. Sie verließ den Laden, als ginge sie zu ihrer Hinrichtung.

In den nächsten zwei Stunden kam Charlotte nicht zum Nachdenken. Kurz vor der Mittagspause tauchte Old Maggie auf. Der Arzt hatte Ruth sofort in die Klinik eingeliefert: Verdacht auf ein Magengeschwür. Old Maggie zog vor den Kunden ein Drama ab und machte Charlotte für alles verantwortlich. Charlotte ließ sie mitten im Wortschwall stehen, um an der Kasse Belege auszuschreiben und die gekauften Bücher zu verpacken. Old Maggie stand im Durchgang und lauerte auf ein Betätigungsfeld. Stürzte sich auf den nächsten Kunden. Ein Linguistikprofessor, der regelmäßig hier kaufte und dessen gehemmte Annäherungsversuche Charlotte früher amüsiert hatten. Er wich erschrocken zurück, schaute hilfesuchend nach Charlotte und floh, als die Alte mit einem opulenten Bildband über die Azoren auf ihn losging. Charlotte gab Dagmar und Nicole ein Zeichen, ging zu Old Maggie, packte sie am Ellbogen und bugsierte sie ziemlich grob in den Packraum. Setzte sie auf den einzigen Stuhl und baute sich vor ihr auf. »Sie sind jetzt bitte mal fünf Minuten still, Frau Herbst. Bei allem Respekt, nein jetzt rede ich! Und ich mach's kurz, weil ich sonst platze. Sie haben genau zwei Möglichkeiten. Entweder Sie übertragen mir die Verantwortung und zahlen mir dafür das volle Gehalt, oder ich kündige und zwar sofort.«

Margarete Herbst war sprachlos. Das hatte Charlotte noch nie erlebt, und so vermutete sie auch nur eine kleine Pause vor dem Sturm. Als die Reaktion dann einsetzte, war es jedoch schlimmer. Old Maggie hatte Tränen in den Augen. Mühsam und schwächlich stemmte sie sich aus dem Stuhl hoch, selbst ihr gigantischer Busen schien erschlafft. »Mit mir können Sie es ja machen! Ich bin nur eine einsame alte Frau. Wenn Herbst das geahnt hätte …«, sie sprach von ihrem Verstorbenen immer nur von ›Herbst‹, so als wäre er sehr berühmt gewesen. Als sie ging, konnte Charlotte immer noch nicht fassen, daß es stimmte. Old Maggie hatte ihr widerstandslos die Leitung der Buchhandlung übertragen und ihr Gehalt um mehr als das Doppelte erhöht. Ja, sie hatte sie sogar bevollmächtigt, nach ihrem Gutdünken eine Aushilfskraft einzustellen, bis man Näheres von Ruth hörte. Sie hatte sogar darauf bestanden, das alles auch sofort schriftlich zu fixieren und, während sie ihre krakelige Unterschrift auf das Papier setzte, feierlich verkündet: »Die Buchhandlung Herbst gehört ebenso zu München wie die Universität. Das hat er immer gesagt. Das war sein Wunsch.«

Die Mädchen jubelten. Nicole rannte sofort los, um eine Flasche Sekt zu holen, während Dagmar einen früheren Schulkollegen anrief, der dringend einen Job suchte. Er kam eine halbe Stunde später. Schmal, blond und lieb. Er hieß Werner Georgi und bat, Schorschi genannt zu werden. Er wollte keinen Sekt, er wollte gleich anfangen. Stellte intelligente Fragen und behandelte Charlotte mit ausgesuchtem Respekt. Als sie den Laden wieder aufmachten, gehörte er schon dazu.

Für Charlotte war das alles viel zu schnell gegangen. Sie kam in der Hektik nicht einmal dazu, sich zu freuen. Wunderte sich höchstens zwischendurch einmal, daß sie es geschafft hatte, überhaupt so resolut und bestimmt aufzutreten. Zu sagen und zu zeigen, wo bei ihr die Grenze lag, der Punkt, von dem ab sie nicht mehr gewillt war, alles mitzumachen. Zum erstenmal in ihrem Leben, wenn sie's genau nahm.

Gegen Abend ließ der Andrang endlich nach, und sie hatte Zeit, etwas aufzuräumen und nachzudenken. Sie rief bei dem Arzt an und danach in der Klinik. Man sagte ihr, daß Ruth morgen früh operiert werden müßte, und daß sie vorerst keine Besuche empfangen könnte. Charlotte steckte sich eine von Ruths Zigaretten an. Sie hatte das unangenehme Gefühl, den ganzen Erfolg Ruths Unglück zu verdanken, und zermarterte sich vergeblich den Kopf nach Erinnerungen oder Bemerkungen von Ruth. Sie wußte nichts von ihr. Nicht, ob sie noch Familie hatte und wenn, dann wo. Hatte sie nicht einmal einen Bruder erwähnt? Oder eine Tante. Ruths ganzes Leben, ihre über vierzig Jahre alte Geschichte, Ruth überhaupt schien nur aus der Buchhandlung und diesem Weekendheini zu bestehen. Wenigstens wußte sie, wo Ruth wohnte, auch wenn sie nie bei ihr gewesen war.

Es war ein düsteres Mietshaus am Rosenheimer Berg. Früher für kinderreiche Arbeiterfamilien gebaut, hatte man die Wohnungen nach dem Krieg in noch kleinere Löcher aufgeteilt. Die Hausmeisterin sprach schlesisch-bayerisch und gab bereitwillig Auskunft. »Ja, das Fräulein Ruth, so ein netter Mensch! Wissen Sie, ich bin so froh, daß sich jemand um sie kümmert. Sie hat ja sonst keinen mehr. Manchmal kam sie runter, dann haben wir es uns zusammen gemütlich gemacht. Wenn was Gutes im Fernsehen war. Ich hab' ja meinen Mann auch verloren …« und immer so weiter. Sie hatte den Schlüssel zu Ruths Wohnung und bestand darauf, Charlotte mit hinaufzunehmen. Sie hatte Ruth beim Packen geholfen. Das arme Mensch! Geweint hat sie. Das Nötigste halt. Wäsche, Nachthemd, Papiere. Sie würde sie ja auch besuchen, wenn sie mit ihrem Bein besser könnte! Aber die Wohnung, die würde sie schon sauberhalten.

Die Wohnung bestand aus zwei winzigen Räumchen nach Norden, einem primitiven Bad und einer viel zu großen Küche mit Südbalkon über die Hinterhöfe. Die Küche war der schönste Raum, wenn man so etwas überhaupt sagen konnte, denn sie war karg und ärmlich eingerichtet wie auch die beiden Zimmer. Das einzige, was auffiel, war eine Unzahl von wuchernden Topfpflanzen auf jeder noch so kleinen waagrechten Fläche. Für Blumen hat sie immer eine gute Hand gehabt. Meine Güte, die sprach von Ruth, als wäre sie schon tot! Charlotte suchte nach irgendwelchen persönlichen Zeichen und Spuren, aber selbst die gestrickten Deckchen auf den Sesseln und die Keramiksouvenirs aus Italien und Spanien sahen aus wie zufällig hier vergessen.

Plötzlich läutete es an der Tür.

Charlotte und die Hausmeisterin fuhren ertappt herum.

Die Frau, die zuerst einen riesigen Koffer, danach sich selbst in die Wohnung schob, war hager, um die Sechzig und in ein graues Wollkostüm gekleidet. Sie sprach breites Rheinisch, ließ aber die üblicherweise mit diesem Landstrich verbundene Fröhlichkeit völlig vermissen. Heftig schnaufend nahm sie Besitz von der Wohnung, stellte sich als Ruths Tante vor, sprach von Ruth als ›dem Kind‹ und warf die beiden raus. Sie würde sich jetzt schon um alles kümmern.

Charlotte war so erleichtert, dieser bedrückenden Enge endlich entrinnen zu können, daß sie sich nicht einmal von der Hausmeisterin verabschiedete. Sog gierig die in der Feuchtigkeit der Straße gestauten Auspuffgase ein und rannte den Rest des Weges zu Fuß.

Ihre eigene Straße erschien ihr als eine Oase der Großzügigkeit und Ruhe, die kümmerlichen Kastanien in ihren Betonbecken wie eine Allee. Zum erstenmal, seit sie in dem Haus wohnte, bemerkte sie die verwitterten Stuckelemente an der unscheinbaren Fassade. Das Haus müßte nur mal neu gestrichen werden. Farblich abgesetzt. Die Haustür war aus dunklem Eichenholz. Die gerundeten Glasscheiben im oberen Teil hatten geschliffene Ränder. Das Treppenhaus war breit angelegt und das Geländer aus feinem Mahagoni.

Zum erstenmal, seit sie Manfred kannte, dachte sie beim Aufschließen der Wohnung nicht an ihn. Sie hatte nicht einmal zu den Fenstern hochgeschaut, ob Licht brannte. Sie läutete auch nicht. Drehte nur am Schlüssel und wollte die Tür aufschieben. Sie ließ sich nur ein Stück bewegen. Dann stieß sie gegen etwas. Etwas Weiches. Charlotte warf sich gegen die Tür und schob. »Moment!« Manfreds Stimme. Schnurren, die Tür öffnete sich.

Im Flur stapelten sich Koffer und Kisten, Pakete und Rollen, Berge von Kleidern und Kartons mit Wäsche, Möbelstücke und Pfannen, Stapel von Büchern und Platten. Im Wohnzimmer brannte Licht, aber auch dort war alles voller Papiere, Zeitungen, Töpfe und zerfledderter Pappschachteln.