Er brachte es nicht fertig, sie zu berühren. Auch sie lag nur da, tat, als würde sie schlafen. Draußen wurde es hell. Er überlegte, was er sagen konnte, ihm fiel nichts ein. Warum hatte sie ihn nicht gewarnt. Oder hatte sie das getan. Er wußte doch, daß sie einen Sohn hatte. Er wußte auch, wie alt er war. Hatte sich trotzdem einen Halbwüchsigen vorgestellt. Nicht einen Familienvater! Der älter wirkte als seine Mutter. Sie war so jung und so hilflos. Die Wochen, in denen sie die Wohnung renoviert hatten, war es ihm vorgekommen, als wären sie beide erst zwanzig, und das ihre erste Wohnung. Sie hatten zusammen gemalt und gehämmert, geplant und gebaut, geblödelt und Musik gehört und zusammen unter der Dusche die Farbreste weggewaschen. Die Wohnung war ihre eigene Welt gewesen, zu der niemand Zutritt hatte, schon gar nicht ein gleichaltriger Mann, der hier aufgewachsen war.
Manfred rollte sich auf die Seite und krümmte sich vor Schmerzen. Im ersten Moment hielt er es für Magenkrämpfe und schob es auf die Mayonnaise von gestern oder den Wein. Aber ihm war nicht übel, und es war auch nicht der Magen. Das Herz. Grotesk, er hatte Herzschmerzen. Er warf sich herum und klammerte sich an ihr fest. »Ich bin eifersüchtig«, schluchzte er, »ich bin stockeifersüchtig!« Sie umarmte ihn, bis er sich beruhigt hatte.
Zum Frühstück gab es die Reste von gestern. Neben seinem Teller lag ein kleines flaches Päckchen. Er packte es aus. Ein Namensschild. Messing mit schwarzer Gotik. Manfred Seitz. Er heulte los, er konnte nicht anders. Sie stand auf, wandte ihm den Rücken zu und stapelte das Geschirr im Abwasch. »Du wohnst doch hier jetzt.«
Als sie gegangen war, wusch er ab und räumte auf. Die Kommode aus dem Schlafzimmer stand jetzt rot lackiert in dem Zimmer, das sie die Werkstatt nannten. Die Strumpfschublade gab es immer noch. Er legte seine letzten dreihundert Mark in das Kuvert. Erst dann schraubte er das neue Schild an die Tür, unter das andere.
In der letzten Woche waren Max und Kofi ausgefallen, Ahmed richtete seine Wohnung mit Charlottes alten Möbeln neu ein, und Sigi hatte Urlaub. Kröll war froh, daß Manfred überhaupt kam, und es war kein Problem, noch eine halbe Tagesschicht zur Nacht zu bekommen. Überhaupt schien Kröll irgendwelchen Ärger daheim zu haben, er war auffallend milde und gedankenverloren. Den ersten Ruf gab er nicht über Funk an den Nächstliegenden durch, sondern schickte Manfred. Ein Glücksfall! Vier japanische Geschäftsleute, die ihn mitsamt dem Taxi als Fremdenführer buchten, Hotel, Messehalle, dann Hofbräuhaus und die anderen Sehenswürdigkeiten. Sie löhnten bei jedem Stopp und knauserten nicht mit Trinkgeld. Ihr Englisch war fließend, wenn auch schwer verständlich. Als es dunkel wurde, bekamen sie Hunger. Manfred brachte sie in ein bayerisches Spezialitätenlokal, fütterte sie mit Lüngerl, Schweinshaxe, Knödeln und Bier und einem Vortrag über die Historie des Lokals im einzelnen und der Landeshauptstadt im besonderen. Sie hörten höflich zu, wollten danach noch in ein McDonalds und eine Peepshow.
Manfred rief Otto über Funk um Hilfe und bekam alle erforderlichen Auskünfte. Die Japaner bestanden nach wie vor auf seiner Begleitung. Sie waren von geradezu rührender Bescheidenheit, beschwerten sich auch in den Nepplokalen im Bahnhofsviertel nicht über die Preise, kauften den Mädchen Blumen und Sekt ab und zahlten Manfreds Whisky. Kurz vor vier setzte er sie benebelt vor dem Sheraton ab. Unter dem Sitzpolster hatte er die vollste Kasse seines Lebens, und er fand den Job als Taxifahrer optimal. Wenn er nicht der einzige Wagen vor dem Hotel gewesen wäre, hätte er auch leicht heimfahren können. Aber der Platz war super. Der Portier winkte ihn vor, und er bekam eine neue Fuhre. Ein Pärchen, das so dick im Clinch saß, daß er die zwei kaum unterscheiden konnte. Er war Amerikaner, Mitte Dreißig, sie schien ein ganzes Ende jünger und kicherte unentwegt. Sie wollten einen Trip mit Fullmoon an die Isar. Da Manfred keinen Vollmond aus den Wolken zaubern konnte, fuhr er sie zu einer lauschigen Brücke und machte diskret ein Nickerchen, während die Uhr lief und die beiden sich auf den Rücksitzen verabschiedeten. Offensichtlich mußte er morgen früh mit der ersten Maschine heim nach Boston und sie heute schon zurück zu Mammi und Papi.
Sie wohnte in Großhadern, und kurz vor der Schnellstraße passierte es. Die Ampeln waren schon ausgeschaltet, und der andere kam von rechts. Viel zu schnell, wie es Manfred schien, der zu besoffen war, um überhaupt noch etwas mitzubekommen. Außer dem gemeinen metalligen Krach und dem Schlag. Es war ein knallroter VW-Variant, der vorn ziemlich mies verbeult schien. Manfred fühlte sich plötzlich völlig nüchtern und dachte voller Panik an Polizei, Blastüte und Führerschein. Erst dann fielen ihm seine Gäste ein, er drehte sich um, das Mädchen heulte in einer Ecke, der Ami fummelte an der Tür. Der VW-Fahrer schien auch Mühe mit seiner Tür zu haben, Manfred sah kurz einen blonden Frauenkopf daneben. Er stieg aus. Kotflügel und rechter Scheinwerfer waren hin.
Damit war alles aus.
Kröll, die Polizei, vermutlich sogar Knast. Er mußte sich an dem Auto festhalten, weil ihm die frische Luft und der Schreck das Mark aus den Knien gezogen hatten. Standen da. Sagte nichts, weil er nichts rausbrachte, bewegte sich nicht, weil er fürchtete, umzufallen. Angst. Panik. Resignation.
Der Ami hatte endlich die Tür auf und schoß wie eine Bulldogge auf den VW-Fahrer los. Machte ihn auf feinste Ostküstenart fertig, drückte ihm einen Geldschein in die Hand und winkte ihn dann weg wie ein lästiges Insekt. Manfred starrte nur, verstand kaum die Hälfte. Etwas klang wie CIA oder FBI, aber das konnte ja kaum sein, die würden kaum mit Geldscheinen um sich werfen. Vielleicht war natürlich auch der Variantfahrer besoffen, dann war es das schiere Glück.
Manfred fuhr die beiden erst nach Großhadern, dann den Ami zurück ins Sheraton. Überhörte eine halbe Stunde lang Petting und Kußgeflüster und den Rest der Strecke einen Vortrag über betrunkene europäische Autofahrer. Aber auf den Hammer vor der Hotelauffahrt war er trotz allem nicht gefaßt. Der Ami zahlte die volle Rechnung nebst saftigem Trinkgeld in D-Mark, kramte dazu einen Packen Dollarnoten heraus und stopfte sie Manfred wie Altpapier in die Jackentasche, überreichte ihm dann eine Visitenkarte und bat ihn höflich, falls er ihn als Zeuge für den Unfall benötigen sollte, die Anwesenheit der jungen Dame zu vergessen. »Come to the States. See us. You are our guest.« Manfred konnte nur noch tumb nicken.
Kröll war noch da.
Er hockte mit stierem Blick vor einer fast leeren Obstlerflasche und sah zu, wie Manfred seine Einnahmen auf den Tisch blätterte. Die Tasche mit dem Kleingeld umkippte, die verknautschten Dollarnoten aus der Tasche fieselte, glattstrich und zählte Knapp zweitausend Mark umgerechnet. Schob ihm nur ein volles Glas hin und zuckte die Schultern, als Manfred von dem Kotflügel und dem Scheinwerfer anfangen wollte. »Meine Alte«, sabberte er, »verstehst du, diese alte Vettel«, er trank aus der Flasche, »seit einem Jahr, verstehst du, seit einem ganzen Jahr treibt sie's! Und ausgerechnet mit dem Büttner Hans, dem verhungerten Sack. Von dem hätt's ja nun wirklich keiner gedacht. Die Sau, die dreckerte. Ein Stoffgeschäft hat der, verstehst. Und die Frau ist ihm weggestorben. Vor Jahren schon. Ausschauen tut er wie eine Zaunlattn. Und jetzt fängt auch noch sie an. Die Alte. Redt von Eman … Emazip … Emampizazin … ja, du weißt schon.« Plötzlich ein hundeweicher Blick in den Augen. Schluck aus der Flasche, der letzte. »Weil du der einzige bist, dem wo ich sowas sagen kann. Weil du auch einer bist. Zaunlattig. Die anderen, die täten den Respekt verlieren. Aber du. Du wirst das Maul halten. Sonst fliegst.« Strahlendes Lächeln unter schwammigen Augen. »Du bist mein bester Fahrer!« Er packte den verkrumpelten Dollarhaufen und schob ihn über den Tisch zu Manfred zurück. »Das kannst behalten. Das ausländische Glump.«
»Ja, aber die Reparatur …« Manfred hätte gern ein Glas Wasser getrunken oder wenigstens ein Bier. Kröll schob sich hoch.
»Das macht der Max.« Das Telefon läutete, der Funk quäkte, die ersten von der Tagesschicht fuhren auf den Hof. Kröll fiel Manfred um den Hals, und mit zwei anderen brachten sie ihn nach hinten auf die Liege im Büro. Inzwischen hatte schon die Rosl das Geld eingeräumt und das Telefon übernommen. Rosl war über fünfzig und die einzige Fahrerin, die Kröll in seinem Laden duldete. Sie sah auch genauso aus. Aber sie hatte das berühmte Herz aus Gold. »Das gehört doch dir«, meinte sie, als sie Manfred die Dollarlappen in die Hand drückte. »Er mag ja nichts Ausländisches.« Er zögerte. Sie knallte ihm ihre Boxerpranke auf die Schulter. »Mach dir nix draus. Was der sagt, das meint er. Auch noch am nächsten Tag. Und, wenn einer soviel Geld ranschafft wie du, dann hast du eh einen Affen frei, für drei Tage mindestens.«
Manfred schlurfte heim. Merkte erst viel später, daß er automatisch nach Norden raufgelaufen war, kehrte um und wandte sich nach Osten. Morgenleere Straßen. Herbstklamme Feuchtigkeit. Papierfetzen im Wind. Falls von den Bäumen noch jemals Blätter fielen, sie wurden schneller beseitigt als Zigarettenschachteln und Plastiktüten. Er ging schneller. Kies unter den Schuhen. Auf dieser Bank hatte er einmal eine Italienerin geküßt. Oder war es die andere Bank gewesen. Oder die Journalistin. Eine fette Amsel glotzte ihn vergiftet an. Manfred war jetzt die dicke Nummer bei Kröll. Weil er einen ganzen Berg Kohle abgeliefert hatte. Und weil keiner auf die Idee kam, daß er nicht mindestens die Hälfte in die eigene Hosentasche gestrichen hatte.
Manfred war der Größte. Freie Fahrt für Big Manni.
Auf der letzten Parkbank lag ein Penner. Er konnte nur dicke Schafwollsocken sehen und oben am Ende der filzigen Armydecke ein paar Schichten Zeitungspapier und einen grauen Haarschopf. Es war eine Frau. Blaunase. Der Typ, mit dem zusammen sie herumzog, lag unter der Bank. Rotnase. Ungelenk in einen zerfledderten Schlafsack gerollt. Wellpappe unter dem Kopf. Die kostbaren Tengelmanntüten prallvoll mit Geheimnissen gegen die Knie geklemmt. In der knochig gichtigen Hand noch den Hals einer leeren Zweiliterflasche Rotwein aus Algerien.
Die beiden gehörten zusammen. Sie waren alt. Irgendwo zwischen fünfzig und achtzig. Überlebten gemeinsam. Niemand kannte ihre Namen. Aber im Stadtteilanzeiger hatte einmal jemand eine Reportage über sie geschrieben. Ein Interview war ihnen nicht zu entlocken. Manchmal sah man sie sogar in kaum getragenen Lammfellmänteln oder mit Fahrrädern. Die sie nie fuhren, nur schoben. Voll behängt mit Plastiktüten. Ganz selten einmal trat er allein auf. Dann schrie und krakeelte er herum, bis seine Nase blutrot anlief. Dann dachten alle, daß Blaunase gestorben war. Bis sie wieder auftauchte. Ruhe und Frieden.
Manfred kramte in den Taschen. Suchte nach Münzen, fand nur Dollarscheine. Stopfte ein paar davon unter die Zeitungen von Blaunase. Lächelte dem blutunterlaufenen Auge zu, das ihn für einen Räuber hielt. Lief ein Stück. Happy zum Zerspringen.
Dachte an Charlotte. Jetzt erst.