Schorschi erwies sich als Volltreffer. Es schien, als hätte er die frühere Rolle von Charlotte übernommen. Die Mädchen machten sich zwar über ihn lustig, aber sie liebten ihn und machten alles, was er vorschlug – sogar Überstunden. Auf seine zurückhaltende, fast schüchterne Art hatte er ein paar Vorschläge gemacht, den Laden umzuordnen. Er hatte die Kinderbücher und Bildbände aus der Versenkung nach vorn geholt, die Fach- und Sachbücher nach hinten verbannt. Mit Erfolg, denn die Kunden wußten sowieso, was sie suchten. Charlotte hatte das Sortiment erweitert, wobei sie sich inzwischen auf seinen Rat verließ. Sie hatten auf diese Weise einen völlig neuen Käuferkreis bekommen, zusätzlich zu den Studenten und Unileuten. Jugendliche und Mütter mit Kindern. Dagmar und Nicole wetteiferten bei der Schaufenstergestaltung und hatten schon einige Preise von Verlagen gewonnen. Die vorher vollkommen vernachlässigte Krimiabteilung war ausgemistet worden und hatte jetzt ein eigenes Regal. Die Globen und Atlanten waren verschwunden, diese Sachen kaufte man sowieso billiger im Kaufhaus. Die Buchhandlung hatte ein neues Gesicht bekommen, persönlich und subjektiv. Der Erfolg gab ihnen recht.
Dann kam die Sache mit den Platten. Schorschi war ein Jazzfan und verfügte nicht nur über immense Kenntnisse, sondern auch über Beziehungen zu einem Zwischenhändler, der seltene Platten aus den Staaten bekam oder auch aus Japan, wo viele Klassiker nachgepreßt wurden. Eine Schallplattenabteilung, wenn auch nur winzig, das war sein Traum. Charlotte hielt die Idee auch für gut, wagte es aber nicht, das ohne vorherige Absprache mit Old Maggie auf ihre Kappe zu nehmen. Fühlte sich vor dem Telefongespräch wie ein Schüler, der zum Direx gerufen wird. Das Gespräch war nur kurz. »Frau Gerlach, ich habe Ihnen die Verantwortung übertragen, damit Sie mich nicht mehr mit jedem Mist behelligen. Der Umsatz gibt mir recht. Schade, daß ich nicht schon früher so klug war. Herbst wäre stolz auf Sie.« Klick, aufgehängt. Charlotte stand neben dem Telefon, den Hörer in der Hand. Konnte sich nicht erinnern, je im Leben so ein Glücksgefühl empfunden zu haben. Kaufte drei Flaschen Sekt und lud danach die drei zum Abendessen beim Griechen ein. Als der schloß, zogen sie in die nächste Kneipe um. Kurz vor drei hatten sie die Pläne fertig. Man mußte etwas umbauen, man mußte einiges anders ordnen, dann konnte man den nötigen Platz gewinnen. Jeder hatte seine Vorschläge eingebracht und sie von den anderen zerfetzen lassen. Schorschi sprach nur noch von Braintrust und versprach, Plattenspieler und Kopfhörer zu besorgen. Charlotte stellte ihn fest an.
Ruth starb an einem Sonntag.
Charlotte hatte sie ein paarmal in der Klinik besucht, aber die rheinische Tante war immer dabei und thronte wie ein Wachhund im einzigen Stuhl neben dem Bett. Sie hatten Ruth kurz nach der Operation in ein anderes Stockwerk gelegt, und Charlotte hätte den tragisch wissenden Blick der Tante nicht gebraucht, um die Wahrheit zu erkennen. Drückende Stille und ernste Gesichter. Blumenberge vor den Zimmertüren und um Fassung bemühte Angehörige. Und der Geruch. Tod und Fäulnis über Seife und Sagrotan.
Ruth bestand nur noch aus Augen.
Schmerzen hatte sie keine. Flach und voller Morphium lag sie da, lächelte unter kalkweißen Laken und lallte wirres Zeug über ihre angeblich so glückliche Kindheit. Selten sprach sie klar. Lächelte dann verzerrt. »Ich habe gelebt. Das kann ich schon sagen, das war intensives Leben!« Charlotte sah weg, während die Tante Ruth den wundgelegenen Rücken einölte und massierte. »Er schickt mir täglich Blumen. Wenn ich rauskomme, wollen wir verreisen. In die Südsee.« Sie dämmerte weg, und Charlotte verdrückte sich, bevor die Tante sie mit detaillierten Zustandsberichten überfallen konnte.
Floh zu Manfred. Rief ihn an und verabredete sich auf einen Drink zwischen zwei Stichen. Genoß seine strotzende Jugend und Gesundheit, lachte und schmuste offen über dem Tisch mit ihm. War von hysterischer Glückseligkeit erfüllt.
Sie saßen bei seinem Italiener. Gemischte Vorspeisen vom Wagen, Riesenscampi in Weißweinsoße und ein trockener Wein aus Sizilien. Sie hatten Geld wie Heu. Der kleine Erich Kröll hatte die neuen Regale für die Buchhandlung geschreinert, sein Vater akzeptierte Manfred plötzlich. Und die Kollegen liebten Charlotte. Rufo behandelte sie wie eine Diva, Mario zog vor ihr die vollendete Oper ab, aber auch Sigi, Max, Otto und Franze schmalzten sie an. Sie konnte einen Stiefel vertragen, sie lachte nicht nur über ihre schweinischen Witze, sie erzählte selber die besten, und sie hatte die größten Titten südlich des Nordpols. Manfred war ein Glückspilz.
Komischerweise war Manfred nicht eifersüchtig, sondern stolz wie ein Hahn. Je mehr sie um Charlotte herumgeierten und um ein Küßchen buhlten, umso mehr spielte er sich auf, als wäre er es, den alle so liebten. Kofi, der Afrikaner, war zurückhaltender als die anderen. Er schmachtete sie nur an, aus blauschwarzen Augen, kraushaarig und dicklippig. »Ich nehme dich mit nach Accra. Dann werde ich Häuptling sein, und du bist meine einzige Frau.«
»Ich dachte, dein Vater hat einen Gemüsestand«, warf Sigi ein. Kofi verbesserte ihn ungerührt.
»Er hatte ein Bekleidungsgeschäft.«
Charlotte stand auf, beugte sich über den Tisch und küßte Kofi auf seine bläulichen Lippen. »Ich liebe dich«, sagte er, »verlaß das Bleichgesicht und zieh zu mir!« Sie lachten, grölten, Charlotte setzte sich wieder zurück. Sah Anette und Karl-Heinz Löffler am Nebentisch. Starren, Glotzen, verkrampftes Nicken.
Manfred drehte sich nicht einmal um. Sah nur ihr Gesicht, zahlte und nahm sie mit hinaus. Sagte nichts, fragte nichts, umarmte sie nur und packte sie in sein Taxi.
Fuhr sie zu einer Studentenkneipe. Sie wußte, daß er eigentlich Schicht hatte und das Geld zusammenbekommen mußte, aber sie war froh, daß er sie jetzt nicht allein ließ. Er holte zwei offene Weine von der Theke und stellte sie einer Susa, einer Petra, einem Horst und einem Uli vor.
Sie waren so verdammt jung.
Schmal und glatt und höflich. Musterten sie nur aus den Augenwinkeln und bezogen auch Manfred nicht in ihre Unterhaltung über irgendeine geplante Aktion mit ein. Erwähnten eine Elke, von der Charlotte annahm, daß es sich um Manfreds frühere Freundin handeln mußte. Sprachen von dieser Elke, als wäre sie Doris Lessing und Rosa Luxemburg in einem. Die Superfrau schlechthin. Charlotte stand auf, ohne ausgetrunken zu haben. Ging zur Tür und wartete dort auf Manfred, ohne sich von den anderen zu verabschieden.
Im Taxi entschuldigte er sich. Das machte alles nur noch schlimmer. zuerst hatte sie sich wenigstens noch einbilden können, daß er eben automatisch mit ihr in die nächste Kneipe, die er kannte, gegangen war. Jetzt sah es eher so aus, als hätte er mit ihr angeben oder, noch schlimmer, vor ihr mit seinen früheren Freunden protzen wollen. Hatte er Angst, von ihr als Nur-Taxifahrer nicht akzeptiert zu werden? Spielte diese Elke in seinem Leben eine viel größere Rolle, als es den Anschein hatte? Fragen wollte sie nicht. Schweigen. Die Lichtreflexe der vorbeihuschenden Straßenlaternen auf seinem angespannten Gesicht. Der Taxameter lief. Absichtlich oder nur mechanisch eingeschaltet.
Vor ihrer Haustür bestand sie darauf, den Fahrpreis zu zahlen. Er reagierte verletzt. »Nein, bitte. Das war ein Versehen! Ich will von dir doch kein Geld!«
»Dann hör du auch auf, Hunderter unter meine Strümpfe zu stecken.«
»Das ist mein Anteil an der Miete, verdammt nochmal. Willst du mich zum Gigolo machen?!«
»Wenn du dich an der Miete beteiligen willst, dann tu's gefälligst offen und steck mir das Geld nicht in die Wäsche, als wär' ich eine Hure!«
Sie rannte zum Haus hinüber und hatte Mühe, den richtigen Schlüssel aus dem Bund herauszufummeln. Hinter ihr kreischten seine Reifen, als er losraste.