Kapitel 20

Sie hielt ihn fest, bis er eingeschlafen war. Auf der Straße unten klappten schon die ersten Autotüren, starteten die ersten Motoren. Sie hatte ihn noch nie so erlebt. Bleich, hohläugig und nach Bier und Schnaps stinkend. Betrunken kannte sie ihn, aber das war anders. Drogen und Tabletten machten ihr Angst, sie zog es vor, alles auf den Schock zu schieben. Zuerst hatte er nur geheult und sich bei ihr entschuldigt, dann kam eine Woge von Liebeserklärungen und erst nach und nach die wirren Versatzstücke vom Überfall auf Franze und dem toten Ahmed. Aus unerfindlichen Gründen hatte ihn die Polizei besonders in die Mangel genommen, es konnte aber auch gut sein, daß er schon auf eine simple Zeugenbefragung paranoid reagierte. Daß er seine Kollegen wirklich im Verdacht hatte, den ›Türken‹ ermordet zu haben, konnte sie sich nicht vorstellen. Er kannte sie schließlich länger als sie. Und sie würde keinem von ihnen so eine Tat zutrauen. Sie blökten und belferten, aber im Grunde waren sie doch nichts weiter als etwas zu groß geratene kleine Buben. Die ganze Situation war ihr unangenehm und bedrückte sie. Sie stellte den Wecker vorzeitig ab.

Als sie sich vorsichtig aus dem Bett schleichen wollte, wurde er wach und klammerte sich an sie. Sie war müde, hatte kaum geschlafen, sein Gestank widerte sie an. Sie löste seine Arme fast gewaltsam von ihrem Hals und lief ins Bad. Hoffte, daß er wieder einschlafen würde.

Er saß schon in der Küche. Hatte für sie Kaffee und Toast vorbereitet, für sich selbst ein Bier aus dem Kühlschrank geholt. Glotzte sie vorwurfsvoll aus blutunterlaufenen Rehaugen an und rülpste. Sie ging ins Schlafzimmer und zog hastig die Sachen von gestern an. Er stand in der Tür und versperrte ihr den Weg.

»Bleib. Ich muß mit dir reden. Ich brauch' dich!«

Charlotte nahm ihre Tasche und ging auf ihn zu. Fühlte sich kalt und ohne alle Empfindung. Er schwankte, hielt sich am Türrahmen fest. Starrte. »Ich brauche dich doch!« Tränen in den Augen. Sie schlüpfte unter seinem Arm hindurch. Er hatte Mühe, sich umzudrehen, wollte ihr folgen. Sie blieb stehen. »Nicht so. Bitte! Das kann ich nicht. Verstehst du. Ich kann das nicht. Nicht so. Wir verdienen jetzt genug. Du mußt nicht mehr Nachtschicht fahren.«

»Hast du Angst um mich?« Seine Stimme lächelte verschwommen. Sie ging nicht darauf ein.

»Entweder wir leben zusammen …«, sie zögerte, brachte es nicht fertig, ihn vor die Alternative zu stellen, er lächelte breiter.

»Oder?«

»Oder nicht, verdammt nochmal! Ich will einfach mehr von dir haben. Du kannst doch auch die Tagschicht machen!« Oder du ziehst aus, hatte sie sagen wollen. Zieh aus, dachte sie, zieh bitte aus und verschwinde aus meinem Leben. Er stieß sich von dem Türrahmen ab und taumelte auf sie zu.

»Ich will nicht dein Hausmann sein, ich will mein eigenes Geld verdienen. Ich muß das, verstehst du nicht? Und in der Nacht verdien' ich mehr. Wegen dem Risiko, verstehst du?« Er tastete nach ihr, sie wich aus, er stützte sich an der Wand ab. »Aber wenn du willst, daß ich gehen soll, dann gehe ich. Du mußt es nur sagen! Dann gehe ich. Ich gehe sofort! Soll ich?« Sie öffnete die Tür und hetzte ins Treppenhaus hinaus. Der Bus war halbleer, sie setzte sich nach hinten und sah blind aus den beschlagenen Scheiben. Das kleine Cafe neben der Buchhandlung hatte noch nicht auf, Charlotte kaufte sich zwei Hörnchen beim Bäcker und ein Tütchen Nescafé. Ließ das Eisengitter vor der Tür unten und machte nur hinten Licht. Der Kaffee schmeckte widerlich mit dem lauwarmen Leitungswasser. Sie versuchte nachzudenken. Mampfte stumpf die Hörnchen in sich hinein und arbeitete dann Papierkram auf, bis die anderen kamen.

Es wurde ein richtig guter Tag.

Nicole hatte den zweiten Schaufensterwettbewerb gewonnen und überlegte halb ernsthaft, ob sie nicht umschulen sollte. Schorschis Plattenabteilung wurde in der Zeitung erwähnt, Jazzfans kamen vorbei, kramten herum, bestellten Platten und kauften Bücher. Dagmar druckste eine halbe Stunde herum, bevor sie mit ihrem Plan herausrückte. Zufällig war sie mit dem bekanntesten deutschen Krimiautor bekannt, sie hatte ihn bei seiner letzten Lesung in der Stadtbücherei kennengelernt, und der war wirklich echt nett. Man könnte doch mal eine Lesung organisieren wie die anderen Buchhandlungen auch, vielleicht mit zwei oder drei Krimiautoren zusammen.

Schorschi, der Krimikenner, nahm sofort alles in die Hand. Wenn man neben der Kasse einen Tisch aufstellte, den Hauptraum und einen Teil vom anderen Raum ausräumte und dort Stühle aus der Sprachenschule von nebenan aufstellte, ein bißchen Gruseldekoration aufhängte und dann noch die Musik vom ›Dritten Mann‹ … er war nicht mehr zu halten. Seine Begeisterung und Energie waren so ansteckend, daß Charlotte alles andere vergaß. Sie suchte die Adressen aller Krimiautoren heraus und entwarf einen Einladungsbrief. Erkundigte sich bei der Volkshochschule nach den üblichen Honoraren und den sonstigen Ansprüchen der Autoren, stellte fest, daß einige von ihnen in München wohnten, rief bei den Zeitungen und bei der Abendschau an, ob dort eventuell Interesse bestünde. Am Abend stand alles fest. Der Termin würde gleich nach der Buchmesse, direkt vor die Münchner Bücherschau gelegt. Das sparte Reisespesen. Dann könnte man noch bei ein paar Schulen anfragen. In der Mittelstufe nahmen sie jetzt manchmal Krimis als Lektüre dran, und einige der Autoren schrieben auch Kinderbücher. So teuer konnte das alles gar nicht werden, und wenn sie nur genug Bücher von den lesenden Autoren vorrätig hatten, kam das Geld locker wieder herein. Vielleicht gelang es ihr einmal, die Buchhandlung Herbst wieder zu so etwas wie einem Intellektuellentreffpunkt zu machen. Sie war fast enttäuscht, als sie sah, daß Nicole und Dagmar sich anzogen. Es war schon kurz vor sieben.

Auf der Straße vor ihrem Haus fiel ihr alles wieder ein. Sie sah hoch zu den Fenstern ihrer Wohnung. Alles dunkel. Erleichterung. Sie schloß die Tür auf und lief die Treppen hinauf. Im zweiten Stock war die Birne kaputt. Auf dem Absatz zum vierten hockte Walter. Mit allem hatte sie gerechnet, selbst ein brennendes Dach hätte sie nicht sonderlich überrascht, nach allem, was sie sich auf der Heimfahrt ausgemalt hatte. An Walter hatte sie nicht gedacht. Nicht mehr seit Monaten. Er trug hellblaue Jeans, darüber einen in vier verschiedenen Blautönen raffiniert verstrickten Pullover mit einer offenen Klappe für den blütenweißen Hemdkragen und das rot-silberne Seidentuch. Er hatte abgenommen und irgend etwas mit seinem Haar gemacht. Braun war er auch. Es war widerlich, wie gut er aussah.

»Ich dachte schon, du kommst nie!« Er stand auf und lächelte sie an, als wäre sie seine langvermißte Geliebte. Der Schlüssel fiel ihr aus der Hand. Er hob ihn auf und steckte ihn ins Schloß. Schweißperlen brachen hervor und durchnäßten ihre Bluse. Sie konnte es schon riechen. Innen stank es nach Tabak und Bier, und Manfred schnarchte irgendwo auf dem vollgekotzten Teppichboden.

Walter ging vor und knipste das Licht an.

Nichts.

Alles war sauber und aufgeräumt, und nur ein leichter Duft von Orangenblüten und der reinigenden Kraft der Zitrone hingen über der blankgeputzten Wohnung. Charlotte schob sich hastig nach vorn und schaltete ein paar Lampen an. Keine Spur von Manfred. Sie drehte sich erleichtert um. »Was kann ich dir anbieten?«

Walter hatte sich nicht gerührt.

Stand nur da und bekam den Mund nicht mehr zu. Sah alt aus, bleich und faltig.

»Das … das ist …«, er stotterte richtig, »ungeheuerlich! Widerlich! Abgeschmackt!« Im ersten Moment verstand sie überhaupt nicht, was ihn so erregte. Die neue Wohnung war für sie schon zur Alltäglichkeit geworden. Er wagte sich nicht ins Zimmer hinein. Schaute nur, als wäre er in einem Schaufenster voller Obszönitäten. Sie versuchte etwas zu sagen, verlor die Lust, als sie sein Gesicht sah, ging ins andere Zimmer, zog die Schuhe aus, ging ins Bad und dann in die Küche. Brachte eine Flasche Wein und zwei Gläser mit. Er stand immer noch an der gleichen Stelle, sie hätte schwören können, daß er während ihrer Abwesenheit hastig herumgehuscht war. Sie setzte sich an den Tisch und machte die Flasche auf. Walter nützte sofort den Höhenunterschied, baute sich dicht vor ihr auf und begann auf sie herunterzugiften. »Wo sind meine Möbel?! Was fällt dir überhaupt ein! Wo ist der Kerl! Den mach' ich fertig. Und dafür soll ich wohl auch noch zahlen. Haha! Was hast du mit meinen Platten gemacht! Und das Bild von Mutter! Wo ist das? Die Heidelandschaft!«

»Auf dem Klo. Und setz dich endlich hin, ich hab' schon Genickstarre. Hier, trink was.«

»Auf dem …«, er ließ sich in einen Sessel fallen, griff nach dem Glas, das sie ihm hinschob, und leerte es. Verschluckte sich und bekam einen Erstickungsanfall. Sie sprang automatisch auf, klopfte ihm den Rücken und ebenso automatisch begannen ihre Hände, seinen Nacken zu massieren. Erschrocken ließ sie los und setzte sich wieder hin. »Bitte, mach weiter«, keuchte er.

»Nein«, sie schenkte ihm nach und steckte sich eine Zigarette an. Neuer Hustenanfall. »Die Zeit der Serviceleistungen ist vorbei. Und, weil wir gerade dabei sind, du warst es, der, ich zitiere, die Schnauze voll hatte von dem Spießermief der alten Möbel, und von den Platten hast du sowieso das meiste mitgenommen. Den Ölschinken deiner Mutter kannst du gerne haben. Ansonsten geht dich mein Leben kaum noch was an.«

»Die Kinder«, er tupfte sich mit theatralischer Geste die Augen, »Melanie und Vanessa waren entsetzt!«

»Du lügst. Die Kinder waren begeistert. Entsetzt war deine Schwiegertochter. Das ist sie auch über dein Leben.«

»Thomas hat mich angerufen. Er sagte, dein – wie nennst du ihn, Untermieter? – ist ein heruntergekommener Gammler. Halb so alt wie du.« Charlotte hielt einen Moment die Luft an, trank ihr Glas leer, schenkte nach, steckte sich eine neue Zigarette an der alten an.

»Wie geht's Nora?«

»Du gibst es also zu?!« Seine Stimme drohte überzukippen. Charlotte erinnerte sich, daß sie seine Stimme noch nie gemocht hatte, nicht mal ganz am Anfang, als sie sich noch die wahre Liebe eingebildet hatte.

»Was soll ich denn zugeben? Daß Manfred jünger ist als ich? Meine Güte, das ist doch normal, oder? Alt sind wir schließlich selber.« Sie kicherte zufrieden, als sie sein Gesicht sah, stand auf. »Ich hab' Hunger. Du auch? Komm mit in die Küche, sehen wir mal nach, was da ist.« Er trottete sprachlos hinter ihr her. Blieb erstarrt in der Tür stehen, während sie den Tisch deckte. Es gab frisches Brot, Laugenbrezen, französischen Käse, irischen Lachs und niederbayerische Räuchersalami, Meerrettichquark und Radisalat mit Schnittlauch. »Greif zu, ist noch mehr da. Oder magst du lieber Bier?«

»Ihr …«, er kam näher, setzte sich, stellte sein Glas ab, roch an der Salami, seufzte auf. »Du lebst nicht schlecht.« Er begann zu essen, und das Wohlbehagen überdeckte fürs erste seinen Unmut. Ein paar Minuten lang aßen sie beide schweigend, reichten sich Butter oder Salz, und es war friedlich. Dann war offenbar sein größter Hunger gestillt. »Nora kann nicht kochen!« Charlotte konzentrierte sich darauf, einen Streifen Lachs auf eine aufgeschnittene Brezel zu legen. »Und was noch viel schlimmer ist, sie macht sich überhaupt nichts aus Essen. Verstehst du, sie ernährt mich mit Leinsamen und Obstsäften und quatscht mir die Ohren voll mit diesem Kalorien- und Gesundheitsscheiß!«

»Ja, du hast abgenommen. Steht dir gut.«

»Ich kann's nicht mehr hören! Mittags in der Kantine freß ich mit schlechtem Gewissen Schweinebraten, und dann wir mir schlecht!«

»Schweinefleisch ist ja auch nicht sehr gesund. Lammfleisch ist viel besser.«

»Knoblauch benützt sie auch nie. Nie im Essen, nur als Kapseln morgens mit geriebenem Apfel. Ekelerregend!«

»Lad sie doch mal zum Essen ein.«

»Dann bestellt sie Rohkostplatte!«

»Koch selber. Irgendwas ganz ohne Vitamine und voller Kalorien …« Sie konnte nicht weitersprechen, er hockte plötzlich vor ihr, hockte nicht, kniete. Und jetzt kamen die Tränen in seinen Augen nicht vorn Wein in der falschen Kehle. Jaulte, bat und bettelte.

Er bewunderte sie. Er liebte sie nach wie vor. Sie war die tollste Frau, die er je getroffen hatte. Die Wohnung gefiel ihm, nicht einmal er selber hätte sie besser einrichten können. Schwung und Geschmack. Nora war eine kleine verklemmte Jungfrau, die nur ihre Linie und die Berge im Kopf hatte. Überall standen Zimmerpflanzen herum. Es stank nach Blattlausspray. Den Wein kaufte sie, wenn überhaupt, im Reformhaus, den mit dem Trockensiegel … Charlotte legte ihm die Hand auf den Mund, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen. Er hatte noch Brotkrümel an der Lippe, sie wischte die Finger am Rock ab.

»Hör auf damit. Ich will diese Geschichten nicht hören. Das ist allein eure Sache.« Ihr grauste es, wenn sie daran dachte, daß er vor nur wenigen Monaten mit Nora so über sie geredet hatte.

»Charlotte«, plötzlich ganz feierlich, »bitte, willst du mich heiraten?«

Sie wußte nicht, ob sie richtig gehört hatte. Walter, knapp fünfzig, gut aussehend und wohlbekannt, kniete vor ihr auf dem blanken Küchenboden und machte ihr einen Heiratsantrag.

»Hör mal«, begann sie vorsichtig, »weißt du noch, mit wem du sprichst? Ich bin's, Charlotte, deine geschiedene Ex-Ehefrau.«

»Ja, ich habe einen Fehler gemacht, es ist alles meine Schuld. Es tut mir leid. Verzeih mir, laß uns von vorn anfangen!« Sie konnte das Lachen nicht mehr länger zurückhalten. Drehte sich weg, er merkte es trotzdem. Stemmte sich hoch. Seine Bandscheibe knackte. »Ich meine es ernst.«

»Das kann ich mir denken. Wenn du knapp bei Kasse bist, ich verdiene jetzt selber gut …«

»Es geht doch nicht um Geld! Es geht um dich!«

Da stand er, der Pullover vom Knien verrutscht, das Tuch im Hemdkragen gelöst, ein Hosenbein hatte sich über dem modischen Stiefel verhakt, die sorgsam gefönten Haare standen vom Kopf ab und gaben die schütteren Stellen frei.

Sie ging langsam auf ihn zu und zupfte ihn zurecht, wie man eine Schaufensterpuppe drapiert. »Es geht nicht um mich. Es geht wie in all den vergangenen Jahren nur um dich. Vermutlich will die gute Nora endlich heiraten und mit Recht und Anstand in Rente segeln, und dir fällt keiner außer mir ein, der dich retten könnte. Tut mir leid, daß ich dir nicht helfen kann.«

»Aber, ich halte es nicht mehr aus!« Aufschrei. Sie schob ihn sanft zur Wohnungstür.

»Dann trennt ihr euch eben. Such dir eine Wohnung und mach's dir gemütlich, ganz so, wie du das willst. Deine Möbel, dein Essen, dein Fernsehprogramm. Und ruf mich an, wenn's soweit ist.« Sie schob ihn hinaus und schloß die Tür hinter ihm ab, als könnte er versuchen, gewaltsam zu ihr zurückzukommen.

Sie wusch ab, duschte und zog sich den bequemen Indienschlabber an. Legte Sarah Vaughan auf und nahm sich einen Simenon mit zum bequemsten Sessel. Es funktionierte nicht.

Er war gegangen. Und sie hatte ihn gehen lassen. Walter. Den Vater ihres Kindes. Dreißig Jahre fast. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie zum letzten Mal so allein und ruhig miteinander gegessen und geredet hatten. Ewigkeiten. Und, was hatte sie daraus gemacht? Ein albernes Gewitzel. Er war zu ihr gekommen, weil er Hilfe brauchte. Und sie hatte ihn rausgeschmissen wie einen Wildfremden. Im Gegenteil, jedem Fremden hätte sie mehr Zeit gewidmet. Jetzt, wo er weg war und sie ihn auch nicht mehr zurückrufen konnte, schien er ihr so vertraut und rührend nah. Wie er dastand mit seinem verrutschten Pullover und dem hochgestülpten Hosenbein. Seine Augen. Er hatte geweint, als er sie nach der Entbindung im Krankenhaus besuchte.

Mit Manfred hatte sie nichts, an das sie sich erinnern konnte.