Kapitel 21

Es passierte Wochen später, als kaum noch jemand dran dachte, und die ganze Geschichte nur noch am Stammtisch oder in der Boulevardpresse erwähnt wurde.

Franze durfte noch immer nicht fahren, er hatte den Funk- und Telefondienst übernommen. Seine im Krankenhaus abrasierten Haare wuchsen in spärlichen Stoppeln nach, er trug ein buntes Wollkäppi gegen die Kälte. Er hatte den Mann, der ihn überfallen hatte, der Polizei beschrieben. Sie hatten ein Phantombild angefertigt, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Franze selber aufwies. Rothaarig, sommersprossig, unrasiert und mit leichtem Bierbauch. Das gab Stoff für jede Menge alberner Witze, gesehen wurde der Mann nie wieder.

Manfred gehörte jetzt dazu. Sie akzeptierten ihn, sie hatten ihn in ihre Runde aufgenommen. An dem Morgen, an dem Charlotte ihn rausgeworfen hatte, so jedenfalls hatte er ihren Abschied interpretiert, war er, nachdem er aufgeräumt und eingekauft hatte, in die nächste Stehpinte gegangen und hatte sich vollaufen lassen. Otto und Mario fingen ihn ab, als er sich taumelnd zur Nachtschicht melden wollte, erfanden eine Ausrede für Kröll, verteilten seine Schicht untereinander und schrieben ihm von ihren Einnahmen ein Mindestsoll gut. Schleppten ihn trotz seiner Proteste heim und lieferten ihn bei Charlotte ab. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was dann geschehen war, wußte nur, daß er irgendwann in der Nacht halbwegs nüchtern aufwachte und Charlotte neben sich fand. Sie war schön und rund und warm und lächelte ihn an. Sie liebten sich mit einer Leidenschaft und Intensität, die er nie für möglich gehalten hatte, die alle Worte überflüssig machte. Liebe. Sein Herz schmerzte physisch, wenn er nur an sie dachte. Er hatte nie geglaubt, zu solchen Gefühlen überhaupt fähig zu sein. Oder, was einfacher war, er hatte diese Art von Überschwang in den Bereich der Erfindung und der Regenbogenpresse geschoben.

Er lebte. Und, wenn ihn sein ökologisches Bewußtsein nicht daran gehindert hätte, er hätte die Bäume in der Allee vor ihrem Haus ausgerissen. Am Sonntag lieh er sich das Taxi aus, bereitete einen Picknickkorb vor und fuhr sie unter geheimnisvollen Andeutungen hinaus an den Stadtrand. Die kümmerliche kleine Wiese zwischen Feldern und Autostraße hatte er schon vorher ausgesucht. Er hatte mit zuständigen Referenten der Stadt gesprochen, alles war klar und genehmigt. Im Kofferraum lagen sieben kleine Bäumchen, ein Spaten und drei Säcke mit Humus. Charlotte umarmte ihn, dann pflanzten sie die Bäumchen in Form eines etwas schiefen Herzens. Es begann zu regnen. Sie saßen im Taxi, tranken Lafitte Rothschild zu Gänseleberpastete und Hühnerkeulen, Weißbrot, Camembert und dunklen Trauben und sahen ihren Bäumen beim Wachsen zu.

Die Welt verschwand hinter glitzernden Regenschleiern.

Die Oper war aus. Sie fuhren in Schlangen vor dem Theater vor, die Nerze, Persianer und Bisamratten prügelten sich fast um jeden Wagen. Hinter der drängelnden, schubsenden und keifenden Weibermenge entdeckte er ein älteres Pärchen. Klein, faltig und schüchtern. Eine Leopardenmatrone hatte schon ihren Hintern auf seinem Rücksitz. »Tut mir leid, ich bin bestellt.« Er winkte dem Pärchen zu. Die reagierten nicht gleich. Wagten kaum an ihr Glück zu glauben. Die Matrone klammerte sich fest. Schimpfte wie ein Fischweib. Manfred mußte grob werden. Kaum zu glauben, daß sie sich noch vor wenigen Minuten mit feuchten Augen an Verdi delektiert hatte. Das Pärchen näherte sich zögernd.

»Wir haben aber keinen Wagen bestellt. Und wir sind auch noch gar nicht dran.«

»Sie sind schon seit zehn Minuten dran.« Er riß ihnen den Schlag auf, der Fahrer hinter ihm tippte sich an die Stirn. Manfred schloß die Tür leise und setzte sich hinter das Steuer.

»Obermenzing.« Nach dieser Auskunft vertieften sich die beiden in eine Opernnachlese, die aus Manfred, dem Opernhasser, fast einen Fan gemacht hätte. Sie kannten sich aus, und sie liebten die Oper. Soviel war klar. Aber sie hatten viele Aufführungen gesehen und vergeblich die einzelnen Passagen mit dem Witz und der Bosheit von Leuten, die sich sehr lange kennen, die sich verstehen und die die gleichen Interessen haben. Anspielungen genügten. Sie kugelten sich vor Lachen und umarmten sich für besonders gelungene Gemeinheiten. Er hatte einen viel zu weiten schwarzen oder dunkelblauen Tuchmantel an, darüber ein verwegen geschlungener weißer Wollschal, sie ein etwas abgewetztes Fohlen mit langem Glitzerrock drunter. Auf dem silberweißen Haar saß ein vom vielen Lachen und Umarmen verrutschtes Kapotthütchen. Die beiden mußten weit über achtzig sein. Sie wohnten auch nicht im ›feinen‹ Obermenzing, sondern gleich beim Bahnhof in einem winzigen Reihenhäuschen aus den fünfziger Jahren. Manfred weigerte sich, das Trinkgeld anzunehmen, gab ihnen statt dessen eine Karte.

»Wenn Sie ein Taxi brauchen. Ihr Diener. Jederzeit.« Er verbeugte sich neben dem offenen Schlag und sah ihnen nach, wie sie kichernd zum Haus gingen und nach den Schlüsseln suchten.

So alt werden. Zusammen. Er fuhr verträumt in die Stadt zurück und berechnete bei zwei anderen Fahrgästen den Preis zu niedrig. Es war egal, um die Jahreszeit rollte der Rubel von allein. Ein paarmal Bars und Disco in der Innenstadt, dann noch einmal nach Ismaning, leer zurück. Er sah auf die Uhr. Kurz nach vier. Zu früh zum Aufhören, andererseits war die Kasse voll, und er hatte Sehnsucht nach Charlotte. Sehnsucht. Er ließ das Wort in einzelnen Buchstaben im Mund zerfließen. Lachte laut auf. Die ältere Dame hinter ihm tastete nach dem Türgriff. Er setzte sie brav in Berg am Laim ab und wartete, bis sie in ihrem Haus verschwunden war. Was um Göttes willen hatte die jetzt noch draußen zu suchen? Kam vermutlich von einem heißen Canastaabend mit Gleichaltrigen. Er lachte wieder. Sollte vielleicht wieder mit den Uppern aufhören. Vertrugen sich nicht mit dem Saufen.

Der junge Mann an der Ecke kurz vor der Wasserburger Landstraße wollte nach Haar. Manfred lachte. Sah in den Rückspiegel. Der junge Mann starrte verkrampft zurück. Meine Güte, man würde doch wohl noch mal einen Witz über Haar machen dürfen. Aus der Anstalt konnte er ja schlecht kommen. Dafür war sein kuscheliger Kamelhaarmantel zu teuer. Im Ausschnitt ein locker geschlungener Cashmereschal und über dem Ganzen ein rundes Pausbackengesicht mit sorgsam gefönter Popperwelle.

Die Straße wurde dunkler. Der Italiener hatte längst geschlossen. An den niedrigen Industriebauten auf der linken Seite leuchteten höchstens die Firmeninitialen, die Mietshäuser rechts waren ausnahmslos dunkel, kein einziges Fenster zeugte von Schlaflosigkeit, Krankheit oder nächtlicher Feier. Am letzten Standplatz fuhr gerade das einzige Taxi weg.

»Da vorne nach rechts«, sagte die Stimme hinter ihm, er konnte das Gesicht dazu nicht mehr erkennen. Da vorne rechts gab es nur Kräne und eine riesige Baustelle. Manfred zögerte, nahm an, der junge Mann müsse sich geirrt haben. »Rechts!« Der Ton wurde schärfer. Oder hysterisch? Manfred blinkte rechts ab und bog in eine aufgewühlte Schotterstraße ein. Weit und breit nur Baustelle, Zementmischer und Wellblechbaracken, in lehmigen Kuhlen blitzte Wasser auf. Vorsichtig suchte er sich einen Weg nach vorn, in der Annahme, dort auf eine Querstraße zu stoßen. Dachte nur an das alte Opernpärchen, an Charlotte und daran, daß er nach dieser Fahrt für heute Schluß machen würde. Es gab keine andere Straße, Stapel von Hohlblocksteinen und Verschlagungsbrettern türmten sich vor ihm auf. Manfred bremste, um zu wenden.

Der junge Mann beugte sich nach vorn. Ein Duft von Lavendel-Herb. Ein kühler Duft auf seinem Adamsapfel und eine Hand neben seinem Kopf. »Keine Bewegung. Kapiert?!«

Selbst jetzt weigerte sich Manfreds Verstand, die Situation zu begreifen. »Hey, was ist los. Nimm die Pfote weg!«

Seltsamerweise schmerzte es nicht gleich. Manfred spürte nur etwas Warmes an seinem Hals herunterlaufen, drehte den Kopf, ein scharfer Schnitt, Blut über seinem Hemd und Pullover. Panik. Dicht vor sich das aufgerissene Pausbackengesicht.

»Los, mach schon! Sonst stech' ich echt zu!«

Das Gefühl zu verbluten. Ende. Ahmed. Er gab dem Kerl alles, was er verlangte. Die Ledertasche mit den ganzen Einnahmen, seine Uhr, seine Brieftasche, den Autoschlüssel. Riß mit dem Knie die Zündkabel los, bevor der andere ihn aus dem Wagen stieß. Rollte sich weg, duckte sich, schützte sein brennendes Knie, auf das er gefallen war, wollte nur eins: sein Leben retten.

Er lag in der schmierigen Nässe hinter einem Sandhaufen und hörte Fluchen. Merkte, daß er noch lebte. Wut. Nur Wut und Haß. Er tastete nach irgend etwas, das sich als Waffe verwenden ließ. Aber alle Steinbrocken lösten sich in seinen Fingern zu Lehm und Sand auf. Das Schlagen der Autotür. Rennende Schritte: Der andere hatte aufgegeben.

Manfred robbte sich zu dem Taxi zurück, sah im Licht der Scheinwerfer Blut aus sich heraustropfen. War müde und überwach zugleich. Hangelte sich ins Auto hinein und rief die Zentrale. »SOS. Alle kommen, Überfall. Polizei! Bin verletzt. Der Kerl versteckt sich hier. Ich geh' los.« Er gab die genaue Position von seinem Taxi durch, nahm die Stablampe in die eine und die Gaspistole in die andere Hand.

Rollte sich wieder aus dem Auto und schlich in die Richtung, in der die Schritte verschwunden waren. Stille.

Auf der Durchgangsstraße ein Bus, dann ein Auto. Irgendwo summte ein Motor. Plätschern. Das Rieseln von Sand. Manfred war jetzt aus dem Licht der Scheinwerfer und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es war nie vollkommen dunkel in einer Stadt. Ein Stein. Hastige Schritte, dann wieder Ruhe. Manfred schlich hinter den Geräuschen her. Die schwere Stablampe in seiner Hand. Draufschlagen. Das Knacken der Hirnschale. Fertigmachen. Dieses widerliche Schwein. Der würde keinen mehr abstechen. Kaputt! Alles kaputtschlagen. Nacht und Nässe, und er verblutete. Verreckte wie ein räudiger Hund hinter Zementsäcken. Tränen der Erleichterung, als er die ersten Motoren heranröhren hörte.

Scheinwerfer blendeten auf. Kamen von allen Seiten Halogenlampen durchstachen die Dunkelheit. Schritte, Rufe, Schreie.

Der Kreis zog sich immer enger. Sie hatten den Bauplatz von allen Seiten her umringt, Hunderte, Tausende von Kollegen, so schien ihm, waren gekommen, um ihn zu retten und zu rächen. »Hier«, krächzte er, »hier bin ich«, niemand hörte ihn in dem Lärm.

Dann hatten sie ihn.

Helle schrille Schreie. Er stemmte sich hoch und schaltete seine Lampe ein. Taumelte, fiel, rappelte sich wieder auf. Sie standen um den Kamelhaarmantel herum, traten und schlugen drauflos, entluden sich auf einer sich krümmenden und nur noch wimmernden Lehmpfütze.

Ihm wurde schlecht. Er warf sich dazwischen, brüllte heiser und schlug und trat gegen Kniescheiben. »Aufhören! Hört auf damit! Laßt ihn! Nein! Neiiin!« Er beugte sich über den Jungen, fiel, ein Schlag traf ihn in den Rücken.

Es dauerte Jahrhunderte, bis die ersten Polizeisirenen aufheulten. Taghelle Suchscheinwerfer. Er lag immer noch über dem Kamelhaarmantel, hatte ihn tief in den nassen Lehm gepreßt. Tod durch Ersticken. Er sprang auf und riß den schlaffen Mann mit nach oben. Ein weit offener Mund zitterte nach Luft.

Die anderen Fahrer standen im Kreis um sie herum und starrten finster. Die meisten Gesichter kannte Manfred nur vom Sehen. Mario, Kofi, Sigi, Otto und Max waren unter ihnen. Kein Lächeln, kein Zeichen des Erkennens. Als die ersten Polizisten mit gezogenen Pistolen herbeigestürmt kamen, wandten sie sich ab.