Der Weihnachtsbaum war eine buschig breit ausladende Jungtanne, in den Proportionen so perfekt wie ein Bilderbuchbaum. Die Nadeln, soweit sie noch dran waren, gelb und an den Spitzen leicht eingerollt. Schorschi, Dagmar und Nicole hatten den Baum von einem Infostand der Grünen mitgenommen und ihr geschenkt. Die Spende ging an Robin Wood. Charlotte hatte die kahlen Stellen mit Goldlametta umringelt und üppig die ganze Kiste Weihnachtsschmuck aus dem Speicher darüber dekoriert. Es waren schöne Sachen darunter, zum Teil noch aus ihrer oder aus Walters Familie. Ketten aus Silberkugeln, kleine handgeschnitzte Figürchen aus dem Erzgebirge, Engel aus glitterbestäubten Federn, versteinerte Modeln und bunte Holztierchen und glitzernde Glaskugeln in tiefem Tannengrün, nächtlichem Saphirblau und sattem Rubinrot. Kerzen aus echtem Bienenwachs, deren flackernde Lichter sich in all dem Krimskrams tausendfach spiegelten.
Der Duft von Kletzenbrot, Ente à l'orange und Bratäpfeln. Im Hintergrund spielte Alfred Brendel ein Klavierkonzert von Mozart, 12 A-Dur KV 414. Charlotte trug ein taubenblaues Ensemble aus Seidenjersey und einen neuen Kastanienfarbton im hochgeföhnten Haar. Sie liebte Weihnachten, und ihre einzige Befürchtung war gewesen, daß Manfred alles spießig und beschissen finden würde. Sie hatte sich geirrt. Das einzige, was ihn störte, war der zerfledderte Ökobaum. Er hatte eingekauft und das Menü zusammengestellt, er hatte sich begeistert über den Karton mit dem alten Weihnachtsschmuck gestürzt, und dann hatten sie beschlossen, ein richtiges Kinderweihnachten zu feiern.
Er war anders seit dem Überfall. Lieber, freundlicher, zärtlicher. Er hatte die Nachtschicht aufgegeben und fuhr nur noch tagsüber. Die Narbe am Hals sah man kaum noch, die Prellung am Knie spürte er nur bei bestimmten Bewegungen. Der Junge, der ihn überfallen hatte, war ein Fixer mit reichen Eltern, er hatte nichts mit den anderen Überfällen zu tun. Manfred interessierte sich nicht weiter für die Ursachen und den Hintergrund, und Charlotte verstand, daß er nicht darüber sprechen wollte.
Er kam aus der Küche und brachte einen Teller mit frischen Bratäpfeln und gerösteten Mandeln. Der Duft von Zimt und Ingwer. Er hatte einen dunklen Anzug angezogen, rote Weste, weißes Hemd mit Seidentuch. Sie küßten sich. Dann machten sie die buntverpackten Pakete unter dem Baum auf. Er bekam einen alten Globus, auf dem noch die einstigen Kolonien eingetragen waren, im Holzgestell, ein Hemd, eine Springmaus zum Aufziehen, einen altmodischen, aber modernen Füller, Chinalack und Gold, eine idiotische Lampe in Form einer Filmkamera und einen lässig weiten Lederblouson aus schwarzem Nappa. Sie bekam eine verrückte Elektronikuhr mit verschiedenen Armbändern in allen Farben, einen Bärenkalender, eine Minieisenbahn mit Geleisen und Häuschen und allem, ein violettes Westchen mit eingestickten Spiegelchen und eine alte LP von Marylin Monroe. ›River of no return‹. Sie schmolzen gemeinsam zu den gehauchten Erinnerungen dahin, probierten ihre Sachen an, zelebrierten ihr Festessen und krochen danach auf dem Teppichboden herum, um die Eisenbahn aufzubauen und einzuweihen.
Kurz nach Mitternacht läutete das Telefon. Schrill und anklagend. Charlotte sprang auf. Melanie und Vanessa piepsten ›Oh du Fröhliche‹ in den Hörer und bedankten sich dann artig für die Geschenke. Dann kam Thomas. »Ein frohes Fest, Mutter.« Pause. »Wir hatten eigentlich erwartet, daß du uns anrufst.«
»Tut mir leid«, log sie, »ich hab's stundenlang versucht, aber die Leitungen sind völlig überlastet.«
»Wir sind gleich beim erstenmal durchgekommen.«
»Wie schön.« Sie wußte nicht, was sie sonst noch sagen sollte, Gewisper im Hintergrund, dann Brigitte.
»Wir hatten so gehofft, dich über die Feiertage bei uns zu haben. Die Kinder haben sich ein richtiges Familienfest gewünscht.«
»Ihr seid doch auch ohne mich eine richtige Familie. Außerdem werde ich im Laden gebraucht. Inventur und so.«
»Ja, ich verstehe.« Brigitte verstand nichts, sie hatte noch nie in ihrem Leben gearbeitet. »Hoffentlich bist du nicht allzu einsam.«
»Danke der Nachfrage. Aber ich hab's ganz gemütlich.
Brigitte ging nicht weiter darauf ein, sie hatten also beschlossen, Manfreds Existenz zu ignorieren und weiter an dem Bild der einsamen Oma festzuhalten. Es kamen noch ein paar Floskeln von Thomas und Bussis von den Kindern. Charlotte hängte erleichtert auf. Manfred probierte gerade eine neue komplizierte Weichenstellung aus. »Vielleicht willst du deine Mutter anrufen.«
»Wär' wohl etwas teuer, wenn ich das richtig verstanden hab', dann ist sie jetzt in der Karibik.«
Sie lachten, tranken Champagner und ließen die Züge sausen, aber es war nicht mehr dasselbe. Die Außenwelt war in ihre Höhle eingedrungen und ließ sich nicht mehr vertreiben.
Die nächsten Tage verliefen hektisch. Charlotte war von früh bis spät in der Buchhandlung. Es war ihre erste Inventur in Eigenverantwortung, und sie kam kaum durch. Die Liste der gestohlenen oder beschädigten Bücher war immens, und noch immer zeigten sich Spuren von Ruths Überbelastung oder Schlamperei. Dagmar und Nicole maulten, ihre Freunde waren alle beim Skifahren in den Bergen, und im Januar, wenn sie frei hatten, mußten die alle wieder arbeiten oder in die Schule zurück. Nur Schorschi schien unbegrenzt geduldig und belastbar.
Er war es auch gewesen, der auf die Idee kam, Elmar Hooge einzuladen. Die Lesungen mit den Krimiautoren waren ein Erfolg gewesen, aber die Zahl der Krimifans ließ sich kaum erweitern. Elmar Hooge hatte für sein erstes Buch einen Literaturpreis bekommen. Er war erst sechsundzwanzig, sein Buch hieß ›Ohne mich, allemal!‹ und war eine Sammlung von witzigen und bösen Skizzen zur Situation der heutigen Jugend. Kein Jammern und Lamentieren, ein fröhlicher Rundumschlag gegen alle und jeden, seine eigene Generation nicht ausgenommen.
Er sagte sofort zu, war mit dem Honorar einverstanden und entpuppte sich als äußerst origineller Vogel. Über einen Meter neunzig lag, dürr wie ein Fragezeichen, mit einem über die Größe grotesk winzigen Erbsenkopf auf den Schultern. Brandrote Stoppelhaare standen in Wirbeln nach allen Seiten ab, ein langer schwarzer Schlottermantel umwehte ihn wie Dracula. Der Andrang war so groß, daß sie einen Großteil der Leute abweisen und eine zweite Lesung dranhängen mußten.
Charlotte erzählte daheim begeistert von der Resonanz und von der Vitalität der Texte. Manfred hörte zu. Er war immer schon vor ihr da und hatte das Essen vorbereitet. Meistens wartete auch eine kleine Überraschung auf sie, Blumen, eine komische Karte oder eine Platte. Charlotte versuchte ihn dazu zu überreden, zu Elmar Hooges zweiter Lesung zu kommen. »Es wird dir Spaß machen. Das ist ein irrer Typ!«
Manfred hatte keine Lust. »Ich hasse Lesungen. Kulturscheiß. Diese Selbstbeweihräucherung! Ohne mich!«
Zur zweiten Lesung kam ein Team von der Abendschau. In den Zeitungen war Hooge und sein Auftreten besprochen worden, um die Jahreszeit war man dankbar für alles. Die Fernsehleute kamen schon früher, an einen normalen Buchhandlungsbetrieb war nicht mehr zu denken. Kabel ringelten sich unter den Füßen, Sicherungen krachten raus, ein Regal, an dem sie einen Spot befestigen wollten, fiel beinah um. Die Scheinwerfer ließen den kleinen Raum in Kürze zu tropischer Hitze erglühen. Die jungen Leute saßen über- und untereinander. Hooge flatterte wie Batman auf die Bühne und beschimpfte als erstes alle Medien und das Fernsehen im besonderen. Kameras sprangen hoch. Blitzlichter blitzten, Jubel brandete auf wie bei einem Popstar. Hooge kam kaum dazu, zu lesen, seine Witze und Anspielungen genügten, das Publikum sprang vor Begeisterung auf die Stühle, ein guter Teil der Einrichtung ging zu Bruch.
Es wurde spät. Man konnte sich nicht trennen. Hooge wollte Schwabing sehen, Dagmar, Nicole, Schorschi, der Fernsehredakteur, der Kameramann, alle erklärten sich bereit, es ihm zu zeigen. Noch war er damit beschäftigt, Bücher zu signieren oder Autogramme auf Armen und T-Shirts zu schreiben. Charlotte wollte zurückbleiben, um aufzuräumen. Er wickelte ihr den Schal um den Hals. »Du kommst mit, verdammt. Aufräumen kann man auch morgen. So ein Blödsinn. Du bist doch der einzige Mensch unter all diesem Plastikpack. Glaubst du im Ernst, ich geh' ohne dich?!«
Sie fuhren in drei Autos, und es gelang ihnen, den Fanpulk abzuschütteln. Landeten in einer der letzten alten bayerischen Bierkneipen, in denen noch Rentner beim Schafkopf saßen und Kinder eine Halbe oder ein Packerl Zigaretten für ihre Väter holten. Frisch gezapft schäumte es über den blinkenden Kupfertresen, sie saßen an weißgescheuerten Tischen und aßen Bratwürscht und Leberkäs unter von Fliegenschiß vergilbten Lampen. »Das ist noch eine der letzten Oasen in München«, dröhnte der Redakteur und bestellte eine Runde Korn. Sie wurden immer lauter und besoffener, nur Elmar Hooge wurde still. Er hatte seinen Mantel ausgezogen und trug darunter nur ein kleinkariertes Flanellhemd über eingefallenem Brustkorb.
»Das ist genau das, was ich nie wollte«, sagte er leise.
»Du meinst den Rummel?« fragte Charlotte ebenso leise zurück.
»Alles. Schau sie dir doch an. Wie sie sich an dieser öden Pinte aufgeilen. Die Wandverkleidung ist aus Resopal, und die Schießscheiben an der Wand sind gerahmte Drucke. Alles Talmi.« Er spießte angewidert seine Gabel in den Leberkäs, ließ ihn dadurch aussehen wie ein rosaroter Scherzartikel aus Schaumstoff.
»Und die Menschen?«
»Menschen? Wo siehst du hier Menschen?« Er hatte laut gesprochen, sah sich provokativ um. Hinter dem Tresen kroch ein buckliger alter Mann zum Zapfhahn. »Der vielleicht, aber sicher bin ich mir auch nicht.« Ein kleines Mädchen hüpfte herein und zog stolz eine Packung Zigaretten aus dem Automaten neben der Tür. »Oder die. Kleine Unschuld. Draußen verhökert sie die Dinger gegen einen Joint. Leck mich doch am Arsch!«
»Ich denk' gar nicht dran.«
Er lachte bekümmert. »Ich hab' doch nur Angst, daß ich auch so werde. Verstehst du, vorhin, wie sie alle gejubelt und getrampelt haben, wie sie mich angestrahlt haben, die ganzen Kinder da, das fand ich schön. Ist das nicht ekelhaft?!«
Dagmar schob ihm ein frisches Bier hin, er lächelte sie an. »Und die bums ich heute nacht. Oder die andere.« Er sah sich nach Nicole um. »Findest du das gut?«
»Bumsen? Nichts dagegen.«
Er starrte sie an, lachte plötzlich. »Du bist super. Du bist ein Weib!« Gegröle stimmte ihm zu. Seine Stimme wurde wieder sehr leise. »Ich wünschte mir nur, ich wäre ein Schriftsteller.«
Sie war todmüde.
Sie waren noch in den Kneipe mit dem besten Irish Coffee gelandet, dann in einer anderen, in der es auch nachts noch frische Kartoffelpuffer gab, und zuletzt in einem Schuppen mit Be-Bob live. Elmar Hooge war irgendwann mit Dagmar aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden, der Kameramann brachte sie heim, er hatte den gleichen Weg.
Sehstörungen. Immer wieder stieß sie mit dem Schlüssel auf das Schlüsselloch zu, aber es war einfach viel zu klein. Sie war dankbar, als Manfred von innen die Tür öffnete.
Wollte ihm um den Hals fallen, er wich aus. Sie stolperte in den Flur und krachte gegen den Spiegel. »Das war nicht sehr nett«, artikulierte sie sorgsam, »ein ganz ganz dummer Trick.«
Er brüllte. Schrie. Packte sie und schleuderte sie herum. Wo sie gewesen war. Mit wem. Und warum. Und wieso. Und er hatte extra gekocht. Rebhühner. Alles verbrannt! Kannte sie denn keinen Anstand. Als er zuschlug, fühlte sie keinen Schmerz. Nur Verwunderung. Und eine gewisse Erleichterung, endlich auf dem Boden sitzen zu können. Sitzen. Liegen. Schlafen. Sie blinzelte zu ihm hoch und sah sein Gesicht verschwommen über sich. Fremd. Eine Faust. Sie wollte nicht ausweichen, legte sich nur flach hin. Wenn er doch nicht so schreien würde. Sie wurde hochgezerrt. Sein Gesicht plötzlich ganz dicht vor ihrem. Überscharf. Verzerrt. Speicheltropfen in den Barthaaren. Der offene schreiende Mund. Weit hinten das rosa hopsenden Zäpfchen. Sie lachte. Der neue Schlag riß ihr fast den Kopf vom Hals.
Übelkeit und der Geruch von Tapetenkleister und Teppichboden. Übergroß, jedes einzelne Haar.
Irgendwo ganz in der Nähe weinte jemand.