Kapitel 24

Es dauerte drei Tage, bis das Zimmermädchen es endlich aufgab, die Betten jeden Morgen wieder durch das Nachttischchen zu trennen. Vielleicht lag es an dem Geldschein unter dem Aschenbecher, vielleicht war es ihr auch einfach zu mühsam, die Betten jeden Tag wieder herumzurücken. Dabei ging es ihnen nicht einmal um unkeusche Betätigungen, sondern nur um ein bißchen gegenseitige Wärme in den klammen Laken und fadenscheinigen Wolldecken. Das heiße Wasser tröpfelte nur lauwarm, und einmal, als sie gerade ihre Haare einschampooniert hatte, blieb es ganz weg. Manfred konnte sich über solche Kleinigkeiten bis zum Wutanfall aufregen, faselte von Regenversicherung und Rechtsweg und brauchte immer eine halbe Flasche Veterano, um sich zu beruhigen.

Der Speisesaal war eine geflieste Einöde in Kalkweiß und Wasserblau, Farben, die im Hochsommer vermutlich Kühle vorgaukeln sollten. Die mit himmelblauem Wachstuch gedeckten Vierecktische waren allesamt gutbürgerlich besetzt Ältere Ehepaare aus Dortmund und Düsseldorf, einsame Damen und verhärmte Jungpaare mit kreischenden Kleinkindern. Das Frühstück war ärmlich, das Abendessen ungenießbar. Nur Wein und Coñac waren gut und billig. Als sie die Hotelanlage mit Supermarkt, Disco und schlammigem Sandweg zum algenverschmutzten Strand erkundet hatten, erlahmten Manfreds Energiereserven, er pendelte sich zwischen einem kleinen Strandcafé und der Hotelbar ein und war spätestens zur Siestazeit voll wie ein Haus. Die zerfledderten Krimis und Illustrierten kannten sie schon auswendig, der flackernde Farbfernseher in der Halle wurde nur interessant, wenn ein alter Hollywoodfilm lief, den sie schon kannten, und so über die spanische Synchronisation hinweghören konnten. Bei Sportsendungen drängelten sich die lärmigen Fettouristen, wie er sie nannte, und selbst die geduldigen und höflichen Kellner zogen sich zurück.

Er wurde ihr fremd, am liebsten hätte sie den ganzen Urlaub rückgängig gemacht. Dann fand sie heraus, daß es einen kleinen Bus gab, der täglich viermal vom Hotel nach Ibiza-Stadt und zurück fuhr. Er kam maulend mit, schimpfte laut auf die anderen Touristen im Bus und kratzte sich mit schwarzen Fingernägeln den Dreitagebart. Am Hafen setzte er sich sofort ins nächste Café. Sie war enttäuscht. Brachte es aber fertig, ihn sitzenzulassen und allein loszuziehen. Kletterte in die Altstadt hinauf, sah sich die Festung, die Kirche und das phönizische Museum an, trank auf dem Rückweg einen Sherry in einer kleinen Bar unter lauter Männern und erfuhr durch die bewundernden Blicke, daß die Spanier dicke Frauen lieben. Kaufte Leinenschuhe, eine kleine lederne Tasche mit Brandverzierungen, einem bemalten Tonteller und einem Trägerkorb, wie ihn der junge Mann im Flugzeug gehabt hatte. Ging einem intensiven Duft von Thymian und Rosmarin nach und entdeckte einen kleinen Kräuterladen, den sie mit Hilfe einer fünfsprachigen Karte halbleer kaufte.

Als sie angeregt und voller Neuigkeiten zu dem Hafencafé zurückkam, saß er nicht mehr dort. Sie fand ihn zwei Ecken weiter in einer anderen Bar. Breitbeinig vor einem leeren Coñacglas im Stuhl hängen, glotzte er trüg und besoffen einem knackbraunen Mädchen in Minishorts nach und rülpste Aggressives an die anderen Tische hin. Machte die Flanierenden an, brüllte auf französisch nach dem Kellner, grölte God shave the Queen hinter einem englischen Paar her.

Ekel. Scham. Sie hatte sich so auf ein gemeinsames Essen in einer Fischerkneipe gefreut. Wenn sie sich beeilte, konnte sie den nächsten Bus zum Hotel noch erwischen. Oder einfach ein Taxi nehmen, egal, was es kostete. Sollte er doch sehen, wo er blieb! Sie hatte sich schon abgewandt.

Hörte den Lärm und das Klirren von Gläsern und drehte sich noch einmal um. Fünf, sechs junge Kerle. Kahlrasiert, einer hatte sich ein Hakenkreuz in die Haare geschnitten. Lederjacken mit Silbernieten, Tätowierungen. Die ersten Stühle flogen durch die Gegend, die Gäste sprangen auf. Die Kellner warteten ab. Engländer.

Charlotte stand plötzlich mit all ihren Tüten zwischen Manfred und den Jungen. Kramte Schulenglisch mit amerikanischem Kaugummislang heraus. »Benehmt euch, Kids. Laßt doch den armen Mann in Ruhe. Darf der nicht auch mal besoffen sein?!«

Sie waren zu verdutzt, um gleich zu reagieren. Sie packte Manfred am Arm und zog ihn mit ins nächste Taxi. Schleppte ihn im Hotel aufs Zimmer hinauf und warf ihn aufs Bett. Ließ ihn seinen Rausch ausschlafen und stellte ihn dann vor die Wahl. »Entweder – oder ich flieg' morgen mit der ersten Linienmaschine heim.«

Am nächsten Tag schien die Sonne.

Kobaltblauer Himmel und der Geruch von Sommer. Alles war verwandelt, alles war anders. Sie ließen sich ein Lunchpaket einpacken, nahmen eine Flasche Wasser und zwei Flaschen Wein mit, Decken, Handtücher, Badezeug, fanden nach einer halben Stunde eine kleine Bucht in den Dünen, in der sie allein waren. Er wollte sich dauernd für gestern entschuldigen, aber sie ging nicht darauf ein. Wollte nur die Sonne auf der Haut spüren und das perlend durchsichtige Wasser.

Ein Stück weiter lagen die Leute nackt am Strand. Jung, straff und dunkelbraun die einen, wabbelig breit mit rot verbrannten Hintern die anderen. Der Einteilige war dunkelblau mit schmalen roten Bisen an den Nähten und kaschierte ihre Figur. Manfred hatte ein lächerlich kleines Tigerhöschen an, über dem sich sein käsig grauer Bauch hohl bis unter die dunkle Brustwolle wölbte. Sie waren verlegen, lachten, ölten sich gegenseitig ein. Schwammen, turnten herum, aßen das zähe Hühnchen aus dem Hotelbeutel und tranken den lauwarmen Wein dazu. Fütterten die Eidechsen mit den harten Eiern und dem käsezerlaufenen Brot. Glühten, als sie heimgingen, und hatten zum ersten Mal das Gefühl von Ferien.

In dieser Nacht liebten sie sich, und das grobe Leintuch kratzte am frischen Sonnenbrand. Ein verrücktes, losgelöstes Gefühl von Freiheit. Es war wieder wie ganz zu Anfang. Neu und unersättlich im Kennenlernen. Und doch schon gemeinsame Erfahrungen und Zeit.

Das Wetter hielt sich frühsommerlich heiß. Ungewöhnlich für die Zeit, sagten die Kellner, aber das hatten sie auch bei dem schlechten Wetter gesagt. Sie wurde nicht braun. Rötete sich, schälte sich, rötete sich aufs neue. Glitschte von Öl und brannte von Salz und Sand. Er hingegen wurde langsam dunkelbraun. Hatte nur am ersten Tag so einen kupfernen Indianerton, brauchte von da an keinen Sonnenschutzfaktor mehr. Die feine Haarlinie über dem Nabel bleichte zu glitzerndem Gold aus. Er hatte seinen Bart gestutzt und sah aus wie ein Seeräuber. Daß er sie liebte und immer wieder liebte, war wie ein Wunder für sie.

Er trank auch nicht mehr soviel, oder er vertrug den Wein besser. Abends fuhren sie in die Stadt, entdeckten kleine neue Kneipen. Oder machten sich fein und gingen in die Hotel-Disco. Die Leute im Hotel waren eigentlich ganz nett. Willi und Lisa aus Köln, Harald und Greti aus Würzburg, Mamma Meier aus Bremen und der lange, dünne Kurt aus Gelsenkirchen. Wenn der seine Witze im Dialekt machte, dann kringelte sich der ganze Speisesaal. Ihr Lieblingskellner hieß Pedro. Und Pedro war der kleine Bruder von Juan. Und Juan war verliebt in Susie. Und Susie war die Tochter von Ernst und Brigitte aus Frankfurt.

Ernst und Brigitte saßen am Nebentisch und waren so Mitte, Ende fünfzig. Sie hatten einen kleinen Kurzwarenladen in einer guten Gegend, und Ernst machte nebenbei noch Versicherungsvertretungen. Susie war ein spätes Glück und langweilte sich zu Tode. Mitte zwanzig, Stupsnase unter braunem Pony, schmal und schlank und wie von einer anderen Welt. Sie sagte wenig, nur ab und zu einen lakonischen Satz, der dann aber immer so genau traf, daß außer Manfred und Charlotte alle mit betretenem Schweigen reagierten. Zweimal nahmen sie Susie mit in die Stadt, und es war schön zu sehen, wie sie aufblühte, sobald sie ohne ihre Eltern war.

Die erste Woche war vorbei, und jetzt schien sie kurz wie ein Tag. Manfred hatte doch Recht gehabt. Sie waren sich nähergekommen, es war notwendig gewesen, sich einmal so kennenzulernen, frei von allem, allein. Und die Blicke von den anderen Tischen begann sie allmählich auch zu genießen. Wenn er ihr noch einen Extra-Orangensaft holte, und durch den Raum ging. Groß und schmal und braungebrannt in weißem T-Shirt und Bermudashorts. Schöne Beine, Oberschenkel. Zwischen all den traurigen Verbogenheiten. Die Kellner mochten ihn, die Weiber sahen ihm nach, die Männer versuchten es auf ihre unbeholfene Weise bei ihr. Es war zum Totlachen.

Sie waren immer zusammen. Sie nannten es Siesta, auch, wenn es mitten in der Nacht war. Es gab einen Animator und ein Programm für Leute, die sich langweilten. Darüber konnte man nur Witze machen. Seilziehen über dem Swimmingpool. Spaghetti-Wettessen. Männerstrip. Kußwettbewerb. Kräuterwanderung. Piratenfahrt mit Paella an Bord. Dauertanzen und Angeln, Rudern und Segeln, Tennis und Surfen.

Sie hatten es inzwischen durchgesetzt, daß die weichen Eier zum Frühstück weich und nicht hart waren und daß der Orangensaft frisch gepreßt wurde und nicht Fanta hieß. Der Kaffee war gut und stark, das Brot frisch, den Aufschnitt besorgten sie sich selbst. Plötzlich stand Susie an ihrem Tisch. Ernst hatte Durchfall, Brigitte mußte sich um ihn kümmern. Susie verkündete dieses Drama, als würde es um eine festliche Einladung zur Silberhochzeit handeln. Strahlte. Zog sich einen Stuhl an den Tisch und trank aus Charlottes Tasse. Manfred gab ihr ein Salamibrot. Sie biß hungrig hinein. Redete mit vollem Mund weiter. »Wegen dem Surfen. Weil ich das doch nicht kann. Und da dachte ich, Sie können's mir beibringen.«

Sie lachten. Manfred schmierte ihr noch ein Brot und goß Kaffee nach. »Aber ich kann doch selber nichts. Bin noch nie auf so einem Ding rumgehampelt.«

»Die haben doch Surflehrer«, warf Charlotte ein. Susie wandte sich ihr zu, legte ihr die Hand auf den geröteten Ellbogen.

»Aber, ich trau' mich nicht. Ich hab' Schiß. Und dann diese Spanier. Ach, bitte, macht doch mit. Mit euch zusammen tät' ich mich trauen!«

Sie lag auf ihrer Bastmatte und versuchte sich auf den Márquez zu konzentrieren. Chronik eines angekündigten Todes. Deckte wechselweise ihre Beine und die Schultern mit einem Handtuch ab. Cremte die vorspringende Nase mit Schutzfaktor sieben ein. Blinzelte durch die Brille.

Der Surflehrer war ein untersetztes Muskelpaket mit viel zu kurzen Beinen und Haaren auf den Schultern. Schnauzbart. Schwäbelte. Ließ seine fünf Schüler erst mal im Sand üben, bevor er mit ihnen ins Wasser ging. Windverzerrte Kommandos. Lachen. Das Glitzern der kaum gekräuselten Meeresoberfläche. Wie ein See, ein Teich. Eine Pferdebremse setzte sich auf ihren Arm und hinterließ eine violette Schwellung.

Manfred half Susie, ihr Brett ins Wasser zu ziehen und den Mast zu befestigen. Aufzurichten. Hielt es für sie fest, weil sie ihre Surfschuhe im Sand vergessen hatte. Zurrte ihre Schwimmweste fest. Sie sahen schön aus im tiefen Licht der Morgensonne. Schlank und jung und beweglich. Standen bis zu den schmalen Hüften im Wasser bei ihren Brettern und warteten auf den Lehrer. Konzentriert. Interessiert. Aufmerksam. Charlotte drehte sich wieder auf den Bauch und vergrub sich in ihrem Buch. In Wirklichkeit war meine Schwester Margot eine der wenigen Personen, die noch immer nicht wußten, daß sie ihn töten würden. Sie wußte nicht mehr, wie oft sie den Satz schon gelesen hatte. Nein. Nicht umdrehen. Lieber einen neuen Sonnenbrand. In den Kniekehlen und auf den Fußsohlen. Und an den Schultern und im Nacken.

Es tat weh.

Sie hätte es nicht für möglich gehalten. Es tat wirklich und physisch weh. Links oben in der Brust. Dort, wo das Herz war. Sie versuchte zu lachen. Und heulte statt dessen. Wollte ins Wasser, hätte aber dazu an den Surfern vorbei gemußt. Um keinen Preis! Jubelschreie wie von tobenden Kindern im Stadtbad. Sie wälzte sich schwerfällig auf den Rücken und stützte sich auf die Ellbogen. Drei Segel lagen flach im Wasser, zwei glitten elegant durch die Wellen, orangengelb gegen die Sonne. Zwei dunkle Schatten am Mast. Sie ließ sich wieder auf die sandige Matte fallen. Alt und dick und rot. Überflüssig. Voyeur. Sie packte ihre Strandsachen zusammen und ging zum Hotel zurück.

Auf dem Zimmer war noch ein wenig Käse, Brot und Wein. Sie duschte und ging in die Halle hinunter. Auf dem schwarzen Brett stand, daß der Surfkurs zwei Stunden dauerte. Im Speisesaal wurden schon die Tische für das Abendessen gedeckt. Vor dem Fernseher grölten betrunkene Stimmen bei einer Kindersendung. Sie ging wieder auf das Zimmer hinauf. Nahm eine Flasche Veterano mit.

Das war es also.

Kein Punkt und kein Komma.

Nur der ganz normale Verlauf der Dinge.

Manfred war kaum älter als Thomas, ihr Sohn.

Susie und er waren ein schönes Paar.

Jung und schön und schlank und braungebrannt.

Sie hatte es doch immer schon gewußt. Heute ist heute. Kümmer dich nicht um morgen. Es war nicht für Dauer und auf Rente. Nie geplant, nie gewesen.

Alles klar.

Kurz vor Mitternacht klopften Susies Eltern aufgeregt an ihre Zimmertür. Susie war noch immer nicht daheim. Daheim! Charlotte war inzwischen zu besoffen, um den Schmerz noch deutlich zu empfinden.