Kapitel 26

Das war die große Chance ihres Lebens. So kitschig das klang, so herrlich empfand sie das auch. Ein Fortsetzungsroman in der Fernsehzeitung war nichts dagegen. Charlotte hätte vor Wonne und Begeisterung auf alle Laternenpfosten gleichzeitig klettern können.

Old Maggie hatte sie angerufen und zu sich beordert. Eingeladen konnte man das bei dem Befehlston kaum noch nennen. Abends. Sie bat Manfred, sie hinzufahren, aber er hatte schon andere Bestellungen, so nahm sie einen von seinen Kollegen. Ein muffiger Typ, Türke oder Nordafrikaner, der nicht einmal durch den langen ›Stich‹ aufzuheitern war.

Es war ein schmächtiges Einfamilienhaus aus der Jahrhundertwende im alten Dorfkern, heute eingebaut und erstickt von buchenumsäumten Villen und betonquellenden Apartmenthäusern für gehobene Ansprüche. Gärtnergepflegte Rasen und gestutzte Hecken.

Old Maggie wartete vor dem Haus auf sie, winkte sie mit einer Kopfbewegung hinein in eine düstere Gruft. Bis unter die hohen Decken stapelten sich Bücher, die keiner las, warteten mottenzerfressene Ohrensessel, in denen keiner saß, hingen nachgedunkelte Aquarelle und Ölbilder aus der Brücke-Zeit, die keiner sah. Charlotte wurde nichts angeboten, nicht einmal ein Stuhl. Da sie es nicht wagte, sich womöglich auf eine Reliquie zu setzen, blieb sie unbeholfen stehen, Old Maggie lief klein und dünn vor ihr auf und ab. »Ich bin eine alte Frau. Ich werde bald sterben. Das ist normal, sparen Sie sich also alle Lügen. Kinder habe ich keine, nur einen Haufen gieriger Nichten und Neffen. Das Haus mit all dem Kram können sie meinetwegen haben. Nicht aber die Buchhandlung. Ich wünsche, daß sie im alten Sinn weitergeführt wird.«

Das war der Punkt, an dem Charlotte begann, an Schneewittchen und die sieben Zwerge zu glauben. Ich schenke Ihnen die Buchhandlung zu treuen Händen, oder zumindest ganz ähnlich. So ähnlich nun auch wieder nicht.

Die Summe, die Old Maggie nannte, war jenseits aller Wolken und die Bedingungen knochenhart. Inklusive Inventar drei Millionen – ein Spottpreis in der Gegend –, zahlbar auf ein Sperrkonto. Eine Viertelmillion cash, der Rest in Raten. Charlotte hatte, wenn sie das richtig im Kopf hatte, etwa siebentausend auf ihrem Sparkonto und dreihundert Miese auf dem Laufenden. »Einverstanden«, sie besiegelten den Handel mit »Einverstanden«, sie besiegelten den Handel mit Handschlag, Old Maggie gab einen dunkelgelben Kräuterlikör aus und erklärte ihr, statt ein Taxi zu rufen, wie sie auch um diese Zeit gefahrlos zur nächsten S-Bahn-Station laufen könnte.

Die frische Luft war ein Fehler. Das alles war Wahnsinn, aber vermutlich war ein Handschlag vor Gericht nicht bindend. Bei der ersten Haltestelle in der Innenstadt stieg Charlotte aus und rief Schorschi an. Entgegen ihrer Vermutung, daß junge Leute nachts immer unterwegs sind, war Schorschi daheim, und eine halbe Stunde später saß er bei ihr am Tisch in der Weinkneipe gegenüber.

Schorschis Vater war Rechtsanwalt und Steuerberater. Villen, Grundstücke und Latifundien in aller Welt. Sie haßten sich. Der Vater den Sohn, weil er lieber in einer Buchhandlung vergammelte, als in der Wall Street aufzusteigen, der Sohn den Vater vermutlich, weil er ihm so ähnlich war. Darauf baute Charlotte. Sie spielte die kleine Dumme, log aber nicht, erzählte genau, wie es gewesen war und wie die Summen und die Bedingungen lauteten. Schorschi schaute sie nur an mit seinem friedlichen Schafsgesicht. Machte sich nichtmal Notizen.

»Du meinst, den Laden kaufen.«

»Ja. Anders geht's nicht.«

»Drei Millionen. Halbe runtergehandelt. Bleibt immer noch ein Haufen Holz.«

»Ja, aber die Gegend.«

»Wenn wir das machen, dann nicht als Boutique, nicht als Kneipe. Als Buchladen. Okay?«

»Und Platten.« Sie lachte, Schorschi hatte angebissen, wie auch immer, seine kleinen grauen Zellen würden das schon schaffen.

Er begann nun doch auf den Servietten herumzurechnen. War bereit, seinen Alten anzugehen. Geld zu pumpen, wo auch immer. Es ging schließlich um einen guten Zweck. Sie erinnerte sich noch an einen Bausparvertrag und eine Lebensversicherung. Man konnte Partner mit reinnehmen. Sie lachte, Schorschi rechnete. Sein Vater würde ihnen helfen, er war ein alter Fuchs. Man mußte ihn nur überzeugen.

Als sie das Lokal verließen, hatten sie drei Servietten und den Servierblock der Kellnerin verbraucht und trotzdem nur hunderttausend zusammengebracht. »Das ist mehr als genug«, versicherte ihr Schorschi, bevor sie sich trennten. »Viel mehr!« Er grinste ihr zu und rannte in hohen Känguruhsprüngen hinter dem letzten Bus her.

Schorschi war noch so lächerlich jung und sah sogar noch viel jünger aus. Aber unter dem glatten Spitzkopf verbargen sich ein blitzgescheiter Verstand und eine überraschende Energie, er würde es schaffen. Dagmar machte sich über ihn lustig, aber Nicole war unübersehbar in ihn verliebt, und mit ihr noch eine ganze Reihe von Schülerinnen der Sprachenschule oder Studentinnen im ersten Semester. Schorschi war lieb und nett zu ihnen allen, er genoß ihre Aufmerksamkeit, manchmal knutschte er sich sogar mit ihnen herum, aber in Wirklichkeit interessierte ihn etwas ganz anderes. Was das war, hatte sie bisher nicht herausfinden können. Jetzt glaubte sie, nahe dran zu sein.

Schorschi würde das schaffen. Alles.

Sie lief die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Sie hatte Licht gesehen, Manfred war also da. Sie hatte in der letzten Zeit selten mit ihm über ihren Beruf geredet, sie merkte, daß es ihn irritierte. Er las nur noch Krimis oder Unterhaltungsromane, sie hatte das unter Streß und Überlastung abgebucht, aber der eigentliche Grund war Eifersucht, das war ihr schon klar. Über Büchern und intellektuellen Gesprächen hatten sie sich kennengelernt, sie wußte, das war ein Teil von ihm, der brachlag. Und natürlich war er kein Macho, es war nur schwierig für ihn, daß dieser ganze Part auf ihrem Gebiet lag. Er hatte Minderwertigkeitsgefühle, weil er nur Taxi fuhr, und um sie zu überspielen, übertrieb er sie. Er las eben nur die Zeitung, kaum noch Bücher, ein bißchen Fernsehen. Scheißbücher. Beschissene Literaturschickeria. Sie kannte das und ließ ihn. Es würde sich auch wieder geben.

Heute aber mußte sie ihm einfach berichten, was da so Tolles am Horizont auftauchte, und vielleicht ergab sich dann doch auch eine Berufsmöglichkeit für ihn. Er war Lehrer gewesen, er hatte was im Kopf, er konnte es gut mit Kindern. Sie konnten ihn doch anlernen und ihm dann die Kinderbuchabteilung geben. Vielleicht konnten sie sogar so eine kleine gemütliche Schmöker- und Stöberecke einrichten. Manfred konnte das.

Sie platzte voller Vorfreude in die Wohnung.

Überall brannte Licht, aber niemand war da.

Charlotte aß alten Nudelsalat und begann aufs neue zu rechnen. Die Bausparkasse, die Lebensversicherung, das Sparbuch und vielleicht noch der Schmuck. In dem Anhänger ihrer Mutter war ein echter Rubin, am Verlobungsring von Walter ein kleiner Diamant und dann noch das Collier von Uroma. Thomas würde zwar durchdrehen und Brigitte einen Herzanfall bekommen, aber da steckten doch einige Karat dran.

Charlotte stand auf und ging durch die Wohnung. Mit dem gierigen Blick eines Schätzers. Die Bilder waren wertlos, das Familiensilber ohne Stil. Materialwert nahe null. Das Kuvert unter den Strumpfhosen war leer.

Leer.

Sie verstand nicht. Suchte überall, überlegte, wann sie das Geld dort denn wohl genommen haben könnte. Der Urlaub war lang vorbei, seitdem mußten sich über achthundert Mark angesammelt haben. Nichts. Der kleine Ring mit dem Diamanten fehlte auch.

Sie setzte sich in die Küche und trank einen Kaffee. Es mußte eine Erklärung geben. Eine völlig harmlose. Vermutlich hatte sie den Ring irgendwo verlegt. Sie sah auf die Uhr. Halb elf. Warum war er noch nicht zu Hause? Sie hatte vergessen, ihn anzurufen, bevor sie sich mit Schorschi traf. Vielleicht war er ja hier gewesen. Aber, es war nichts zum Essen vorbereitet. Es lag auch kein Zettel für sie da. Aber, falls er das Geld genommen hatte, dann doch nur, um irgend etwas Verrücktes für sie zu besorgen. Eine Überraschung.

Er kam kurz vor zwölf, und sie merkte sofort, daß er wieder Pillen geschluckt hatte. Betrunken war er auch. Sie wunderte sich schon lange, wie er in diesem Zustand immer noch Taxi fahren konnte. Sie lächelte nur, bot ihm Kaffee an und begann von dem neuen Plan zu erzählen. Als sie das Wort Geld erwähnte, sah sie, daß alles nicht stimmte.

Er warf die Tasse vom Tisch, nahm sich ein Bier, schaute sie nicht an, faselte. Man hatte ihm die Einnahmen geklaut, er hatte sich das Geld aus der Schublade nur kurz ausgeliehen, das würde er alles zurückbringen, doppelt und dreifach, sie würde sich wundern.

»Und der Ring?« Sie hatte ihn nicht erwähnen wollen, es war ihr so rausgerutscht. Wieder sah er an ihr vorbei.

»Es sollte eine Überraschung sein, ich wollte ihn für dich umarbeiten lassen, weil du ihn so ja nie trägst.«

»Meinen Verlobungsring?!«

Er sprang auf, lief ins Bad, blieb dort ziemlich lang, wollte, als er endlich wieder herauskam, zur Wohnung hinaus. Sie schnitt ihm den Weg ab.

»Warte. Nicht so. Laß uns drüber reden. Was ist los?« Es klang schärfer, als es gemeint war.

»Da ist mir eine reingefahren. Ihre Schuld, aber der Kröll hat mir die Reparatur vom Lohn abgezogen …«

»Das ist doch lächerlich! Sowas kann er doch nicht machen.«

»Der kann viel.«

»Und du läßt dir das gefallen? Das wär ja noch schöner! Ich ruf' ihn an.« Sie wandte sich zum Wohnzimmer um.

»Nein!« Er war mit einem Satz bei ihr und packte sie am Arm. Riß sie herum. »Das wirst du nicht tun! Das geht dich einen Scheiß an, verdammt! Hör endlich auf, deine Nase in meinen Kram zu stecken!«

»Das ist ja auch sehr wohl mein Kram.«

Sie sahen sich an. Seine Hand umklammerte schmerzhaft ihren Arm. Er schleuderte sie plötzlich weg und rannte zur Tür. Sie fing sich, war vor ihm da, stellte sich mit ausgebreiteten Armen in den Türrahmen. »So kommst du mir nicht davon, Freundchen. Man kann eine Menge mit mir machen, aber nicht mich für dumm verkaufen. Also, was ist los? Er hat dich gefeuert, wie?«

Er schlug ohne Vorwarnung zu. Gegen ihr Ohr, dann wich sie aus, und er traf ihren Hals. Sie war wach und nüchtern und wütend. Sie wehrte sich. Aber der lange Rock behinderte sie, und er war sowieso stärker und völlig außer sich. Trieb sie durch das Zimmer, schlug auf sie ein, wo immer er sie traf, zog ihr ein Bein weg, sie stürzte. Das Krachen schien lauter als der Schmerz. Irgend etwas war gebrochen. Sie wollte wieder hoch, weg, nur weg. Er war über ihr. Sein Gesicht verzerrt und reglos wie eine Maske, Irre Augen. Seine Faust.

Sie schlug wieder hin, unter ihrem Kopf splitterte der Teewagen mit der Stereoanlage. Ein schriller Pfeifton, dann vollkommene Ruhe.

Dunkelheit.