Kapitel 4

Robert hatte auf der Akademie nichts zu suchen. Er hatte weder Abitur, noch war er eingeschrieben oder zahlte Gebühren. er hatte seine Arbeiten auch nie dem Prüfungsausschuß vorgelegt. Er ging einfach hin, weil er ein paar Leute kannte und glaubte, dort Handwerk zu lernen. Und Mädchen aufzureißen natürlich. Weder noch. In den Ateliers wurden Spruchbänder geschrieben, Diskussionsgruppen, Agitationsgruppen und feste Kader legten die Strategie für die nächste Demo fest. Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren. Ein mickriges Kerlchen, dessen Vater eine Keramikfabrik in Friesland hatte, setzte einen großen Scheißhaufen vor die Tür des Direktors. Bisher war er nur durch seine feinen Federzeichnungen von Rehen, Bisons und Auerhähnen aufgefallen. Die Akademie gehört jedem. Kunst ist Gesellschaft, und jeder ist ein Künstler.

Die Mädchen liefen mit blanken Hängetitten durch die herbstkühlen Gänge und waren so erotisch wie Tempotaschentücher.

Es war eine gute Zeit.

Das Gefühl, eins zu sein mit der Masse, dazuzugehören. Lange Abende in verräucherten Arbeiterkneipen und ab und zu Schlägereien. Robert war einsneunzig, und wenn er zuschlug, dann akzeptierten sie auch, was er vorher gesagt hatte. Er war kein Intellektueller, er war ein Mann.

In den Sälen tat er, als würde er hingehören, er benützte das Material und machte das Maul auf. Erst, als sie ihn zum Sprecher wählen wollten, merkten sie, daß er nicht mal eingeschrieben war.

Aktzeichnen. Das Modell war eine Soziologiestudentin mit Birnenarsch und Blaubeerbrüsten. Gänsehaut. Sie hockte wie eine zusammengerollte Menükarte auf dem abgewetzten Podest und hielt die Hände vor die Möse. Winter. Eisiger Nordwind pfiff durch die klapprigen Atelierfenster, und Robert fror sogar in seinem Norwegerpullover. Der Professor trug Schafwolle unter einem blauen Künstlerkittel und hatte die schütter weißen Haare bis auf die Schultern hängen. »Entspann dich endlich«, dröhnte er, »nimm die Hände da weg, spreiz dich, gib dich den Blicken hin!«

Robert stand auf, zog den Pullover aus und legte ihn dem Mädchen über die Schultern. Nannte den Professor einen verklemmten Schleimscheißer und hatte alle auf seiner Seite. Der Kurs wurde abgebrochen. Jemand hatte eine Zweiliterflasche algerischen Rotwein dabei. Auch ein Modell ist ein Mensch.

Robert bekam Akademieverbot.

Da lernte er Kurt kennen.

Er hatte ihn schon oft gesehen, er fiel jedem auf, weil er die Haare kurz trug und graue Gabardinehosen statt Jeans. Er mischte sich nie ein, hielt sich aus allem raus und war zu jedermann höflich. Pinselte vor sich hin und machte nicht mal die Weiber an.

Robert saß an dem Tag mit seiner Mappe und einem Kasten mit allen Farben und Werkzeugen, die er hatte mitgehen lassen können, in einem Cafe an der Leopoldstraße, trank Bier und fühlte sich als Ausgestoßener, Underdog, Proletarier und Robin Hood. Der Rächer der Enterbten.

Da kam Kurt herein, schaute sich kurz um, sah ihn und kam an den Tisch. »Entschuldige, ich hab dich gesucht, kann ich mich kurz setzen?«

»Wieso? Hast du Hämorrhoiden?«

Kurt glotzte verständnislos. Robert gab dem nächsten Stuhl einen Tritt. »Weil du nur kurz sitzen willst.« Kurt grinste dünn und klemmte eine halbe Arschbacke auf die Stuhlkante. Bestellte sich einen Kaffee und schaute Robert nicht an.

»Ich wollte dir nur sagen, daß ich das unheimlich gut fand. Und daß ich genau dasselbe gedacht hab, aber ich hab mich nicht getraut, was zu tun. Oder was zu sagen.« Er sah plötzlich auf. »Ich schäm mich richtig, verstehst du. Und das wollte ich dir sagen.«

Robert sah ihn an.

Blonde Kringellocken und ein glattes unschuldiges Gesicht mit zwei blauen Augen drin. Er grinste. »Trinkst du ein Bier mit mir?« Kurt nickte eifrig, und Robert konnte ihm ansehen, daß er Bier nicht mochte.

Von da an waren sie unzertrennlich.

Sie hatten beide kein Geld und jobbten nebenher in Kneipen und bei der Zeitung. Austragen war Streß, aber die Pakete für die Post zusammenschnüren, das war Akkord und gut bezahlt. Sie standen die halbe Nacht nebeneinander am Band und hockten sich dann in eine der Kneipen. Und Kurt trank Tee und Saft und schaffte Robert heim, wenn der besoffen war. Sie rollten die Weltgeschichte auf und erfanden den Dadaismus. Sie waren sich einig, und Robert war stark genug, um das auch den anderen klarzumachen, wenn sie Kurts Beredsamkeit zu widerstehen wagten. Kurt hatte Marx und Engels gelesen, zitierte Adorno, Marcuse und Horkheimer und konnte jeden in Grund und Boden quatschen, der so vermessen war, sich mit ihm auf eine Diskussion einzulassen. Einmal machte Robert eine Bemerkung, Kurt sah ihn an und meinte anerkennend: »Du denkst wie ein Marxist.« Robert hatte längst vergessen, was er da gesagt hatte, aber diesen Satz von Kurt trug er wie eine Auszeichnung über der Brust.

Roberts Vater war Beamter bei der Bundesbahn. Er stilisierte ihn zum Eisenbahner hoch, die Vierzimmerwohnung in Perlach zur Wohnküche und das Wochenendhäuschen zur Arbeiterklitsche. Nicht Begonien, Astern und Rosen zog seine Mutter, sondern Salat, Kartoffeln und Blumenkohl. Kurt imponierte das. Er hatte das Pech, in einem Akademikerhaushalt mit Büchern und den üblichen Verklemmungen aufgewachsen zu sein, und hatte eine abgebrochene Psychoanalyse hinter sich. Er konnte Klavier und Geige spielen und schämte sich dessen; Mozart und Beethoven verschwanden im Schuhschrank. Aber wenn Robert heiser und falsch zur geliehenen Gitarre Songs von Woody Guthrie oder Pete Seeger grölte, dann kannte seine Bewunderung keine Grenzen.

Aber ein Problem hatten sie beide gemeinsam. Sie waren aufgewachsen mit den Expressionisten, Kubisten, Surrealisten. Bei Kurt waren es sonntägliche Pflichtbesuche im Museum gewesen, bei Robert die fanatische Sammelleidenschaft seiner Mutter nach allem, was bunt war und glänzte. Kunstdruckbände, einen jedes Weihnachten, und Kunstkalender in Superformat. Als er das erstemal in die Pinakothek kam, war er enttäuscht. Nur die Faszination blieb und die wachsende Verachtung für seine Eltern. Der Vater sah ihn schon als ›mein Sohn, der Herr Doktor‹, als Robert ein halbes Jahr vor dem Abitur den Krempel hinschmiß und zu Hause auszog, um Maler zu werden. Der Vater bekam einen Tobsuchtsanfall, geiferte von Hippies, Gammlern und Gosse und verweigerte von Stunde an jede finanzielle Zuwendung. Die Mutter war viel schlimmer, sie war glücklich. Ihr Sohn würde ein berühmter Künstler werden.

Robert fand ein Zimmer in einer WG und zwei Jobs. Vormittags bei Tengelmann Dosen und Gläser auspacken, etikettieren und einordnen, nachmittags und abends Bademeister im Hallenbad. Das war perfekt, Gesundheit und Ernährung waren gesichert, und ab und zu fiel ihm noch eine pummelige Bademütze auf die Matratze. Malen konnte er nachts. Er brauchte das Tageslicht nicht; seine düsteren Tusche- und Kohlezeichnungen, seine monströsen Szenerien und seine frimeligen Schattierungen wucherten nur so im kahlen Licht der Hundertwattbirne. Bis sie ihn rausschmissen. Vielmehr rausdiskutierten. Sie arbeiteten alle tagsüber und konnten nachts keine Rockmusik vertragen, weil sie ihren wohlverdienten Proletarierschlaf brauchten. Elli studierte Sinologie, Chris Soziologie, Mike Psychologie, und ihre gemeinsamen Schecks von daheim beliefen sich auf fast zwei Mille. Und Robert nahm nicht an den abendlichen Gesprächen teil und wusch das Geschirr nie ab und kochte immer nur dann, wenn er Lust dazu hatte; und nicht, wenn er an der Reihe war. Die Säcke mit Würsten, Käsen, Gemüsedosen und Seifenpaketen, die er aus dem Mehrwert abzweigte und mit heimbrachte, wurden nicht angerechnet. Robert zog aus und zu einer WG, die einen weniger reglementierten Tagesablauf hatte. Aber das Zimmer war so winzig, daß er seine Klamotten kaum unterbringen konnte, es kostete Mühe, den zwei knochigen WG-Mädchen klarzumachen, daß man freie Liebe auch außerhalb der Wohnung erproben kann, und den drei Typen, daß er, selbst, wenn er unbewußt schwul und mutterfixiert war, es halt im Moment verdammt noch mal lieber mit vollbusigen Weibern trieb. Das Schlimmste aber war, daß er seinen Tengelmannjob verlor, weil die Wohnung am anderen Ende der Stadt lag.

Kurt wohnte immer noch zu Hause. Er hatte einen ausgebauten Dachboden für sich allein. Glasziegel und eigener Eingang. Die Eltern waren verständnisvoll und taten alles für ihn, in der Hoffnung, daß er immer noch Kunsterzieher werden konnte. Viel Geld hatten sie nicht übrig, Kurt hatte Geschwister. Aber es war angenehm, unter den dunkel gebeizten Dachbalken auf Fellkissen zu liegen und über die Veränderung der Welt und insbesondere der Malerei zu reden.

Franz Marc, Picasso und selbst Salvatore Dali waren out. Der Dadaismus, wenn man unter sich war, auch. Happenings und die Mülltüten von Franz Beckenbauer hatte auch schon ein anderer erfunden, Margarine auf Stühlen und Heftpflaster in Badewannen brachte nur einem was ein, und Hundertwasser trat sogar schon im Fernsehen auf.

Es mußte etwas völlig Neues sein.

Publikum stört, da waren Kurt und Robert sich einig. Kurt sprach von der Reinheit einer Idee, Robert dachte an seine Mutter, wenn man ihr nur die Gelegenheit geben würde, in Bildern rumzukritzeln. Video. Kurt brachte seine Eltern dazu, eine Anlage zu kaufen, und sie filmten die Entstehung eines Kunstwerkes in allen Phasen. Fanden heraus, daß sie by far nicht die ersten mit dem Einfall gewesen waren, und überließen das Gerät Kurts Vater zum Aufzeichnen von Krimis und Fußballspielen. Straßenzirkus. Die Idee stammte von Robert, und er kotzte literweise Petroleum, bis er endlich Feuer spucken konnte. Weiter kamen sie nicht, die Polizei schritt ein. Robert überlegte, ob er sich nackt, in Plastiktüten verpackt, dem Haus der Kunst anbieten sollte, scheiterte aber an seinem kleinbürgerlichen Schamgefühl, noch bevor er eine Ablehnung riskierte.

Reagierte sich an Kurt ab, indem er seine breitflächigen Farbexplosionen niedermachte. Bourgeoise Emotionskleckserei. Falsches Jahrhundert, fehlendes Bewußtsein. Er selber begann einer Art von psychedelischem Realismus zu verfallen, wozu seine zarten Schwarz-Grau-Pastell-Zeichnungen nicht passen wollen. Kurt machte eine Serie von Pop-beeinflußten Erotikärschen mit Eistüten und Colaflaschen. Sie nannten es einen Rückfall und versuchten es mit LSD. Robert wurde rechtzeitig schlecht, er schaffte es eben noch, Kurt daran zu hindern, aus der Dachluke zu klettern, und schaufelte ihm Valium 10 aus Mamas Badezimmerschränkchen ein.

Sie hatten es erlebt. Bewußt, intensiv. Sie gehörten dazu. Sie konnten es sich jetzt leisten, bei Hasch, Bier und Wein zu bleiben.

Es wurde Sommer, die Akademie schloß, die Studenten fuhren heim. Kurt und Robert hockten in den Cafés an der Leopoldstraße, tranken Apfelschorle und Rotwein und machten die Mädchen an. Ließen die anderen demonstrieren, Unterschriften sammeln und agitieren. Rettet den Leopoldpark, rettet den Nikolaiplatz, raus mit den Banken und Büros aus unserem Schwabing. Sie machten bei einem Bürgerfest mit. Freibier und Pamphlete, Dixieland und Blasmusik, Flohmarkt und Kinderspiele. Studenten, Rentner, Türken und Künstler. Wir sind alle eine große Familie, wir lieben uns, auch wenn es regnet. Robert spuckte Feuer, tanzte Tango mit einer Apfelbäckchenoma und soff mit einem türkischen Gastarbeiter, der sich hinterher als spanischer Grandensohn entpuppte, der in München Wirtschaftswissenschaften studierte.

Kurt kleckste mit kleinen Kindern Fingerfarbenclowns auf die Wände und soff Bier, weil es nichts anderes gab. Zu welchem Zweck das Bürgerfest initiiert worden war, erfuhren sie erst viel später, als sie die Flugblätter lasen. Alte Häuser sollten abgerissen werden. Das war aber nicht neu. Eine Architektengruppe hatte ein originelles Passagenprojekt eingereicht und gewonnen. Wohnungen, Apartments und Ateliers für Künstler, Cafés, Läden und Boutiquen. Springbrunnen und Bäume. Kein Platz für kinderreiche Arbeiterfamilien. Dagegen protestieren wir.

»Und ich sag dir eins«, lallte Robert, als sie mit den letzten Pennern auf den regennassen Holzbänken hockten, »eines Tages machen die das doch, nur viel, viel teurer.«

»Und Kinder gehören eh aufs Land«, brabbelte Kurt und schloß einen unverständlichen Monolog über das Glück und Heil der Familie an. Kinderferien auf Sylt, Sandburgen und eine Mami, die ständig Zitronenlimonade und Schinkenbrote aus der Tasche holt.

Robert war in seiner Kindheit nie weiter als zu einem Zeltlager am Waginger See gekommen. »Scheißrolle für eine Frau«, meinte er, »dauernd nur Mama sein.«

Sie gingen Arm in Arm zur Akademie rüber und pißten einträchtig an die Mauer. Dann kotzten sie Bratwürste, Fischsemmeln und Bier in die Büsche und fühlten sich wieder fit. Standen schwankend zwischen den Anlagebäumen und fielen schließlich auf eine Bank.

»Das Meer«, murmelte Robert, »ich hab's nur einmal gesehen, mit fünfzehn, da bin ich abgehauen. Bis Genua. Mittelmeer und Sonne und Süden, verstehst du, das ist das Glück.«

»Dolce far niente«, artikulierte Kurt übergenau und war nah dran, einzuschlafen. Robert rüttelte ihn hoch. Zerrte ihn mit in die nächste Studentenkneipe. Fing mit dem Erstbesten Rabatz an; Kurt war wieder wach. Drohte mit Anwalt und Ministerpräsident, wenn jemand sich wehren wollte. Bestellte irgendwann großkotzig ein Taxi und schleppte Robert mit.

Sie stritten um den Fahrpreis und laberten sich in Schlaf.

Wochen- und monatelang brachten sie keinen Strich auf die Leinwand.