Kapitel 5

Es war einer von diesen völlig irren Zufällen.

Robert suchte eine alternative Fahrradwerkstatt, von der er gehört hatte, kam in den falschen Hinterhof und fand statt dessen einen alten Drucker, der noch mit richtigen Steinplatten arbeitete.

Eine Idylle wie im 19. Jahrhundert. Verrußte Hausmauern mit blumenberstenden Schmiedeeisenbalkons, übervolle Mülltonnen, zwei alte Rentnerinnen beim Ratschen und italienische und türkische und deutsche Kinder. Ein Autowrack aus den fünfziger Jahren, ein MZ-Motorrad mit Beiwagen, knallrot gestrichen und ein Berg von alten Lattenkisten. Eine Werkstatt mit zugeschmutzten Kassettenfenstern und dahinter drei Druckmaschinen. Echte Pressen mit Rad und Hebel. Der Geruch von Farbe und Lösungsmitteln. Ein weißhaariger Schnauzbart mit gebeugtem Rücken und blauem Kittel. Rahmen gab es auch und blinde Spiegel. Kunstdruckerei Joh. Baptist jun. stand in kaum noch leserlicher Schreibschrift über dem Eingang.

Johann Baptist der Urenkel arbeitete weiter, grunzte ab und zu und bedankte sich nicht einmal für das Bier, das Robert ihm brachte. Trank es aber, und die halbe Schlacht war gewonnen. Nach vier Stunden und sechs weiteren Bier war er bereit, Robert das Drucken beizubringen, echt so, wie man's vormals konnte, und ihm die Hinterkammer der Werkstatt zu vermieten. Billig war es nicht, aber Robert zog mit einer Euphorie um, als hätte er ein Penthouse in der Lotterie gewonnen. Kurt half ihm. Sie legten einen neuen Fußboden, isolierten die Wände, reparierten die Wasserleitung und putzten die Fenster. Kalkten die Wände weiß und schlossen Kühlbox und Plattenspieler an. Zur Einweihungsfeier kam Johann Baptist herüber, trank Bier und betrachtete lange und ausgiebig die Bilder von Robert. Grunzte, nickte und ging wieder. Er wußte und konnte alles. Siebdruck, Kupferdruck, Radierung, Kaltnadel und Lithographie. Er behandelte Robert wie einen Lehrbuben, scheuchte ihn und ließ ihn fegen. Zeigte ihm alles und wurde fuchsteufelswild, wenn Robert es nicht auf Anhieb richtig machte. Er war gnomenhaft klein und mindestens Mitte siebzig. Seine Hände waren verkrümmt, und sein Atem keuchte beim Drucken wie eine Dampfmaschine. Als er Robert das erstemal selbst drucken ließ und er zuviel Farbe nahm, schlug er ihm die verhunzte Radierung um den Kopf, bis das teure Papier riß. Trotz all dem schien er Robert aber zu mögen, denn schon nach wenigen Wochen gab er ihm eine Steinplatte und forderte ihn auf, ein Litho selbst zu machen. Robert begann mit den ersten Entwürfen, verzichtete auf Abstraktion und Dadaismus und gab sich völlig diesem Relikt aus dem letzten Jahrhundert hin. Der Hinterhof, die Blumenkästen, die Werkstatt. Zerbrochene Fensterscheiben und eine dicke fette Tigerkatze. Er atmete die Farbdämpfe ein wie Weihrauch und verbrannte sich die Fingerkuppen an der Säure. Gab nicht auf, ließ den Alten nicht über die Schulter schauen. Wandte alles an, was er gelernt hatte. Legte das Blatt auf die Farbplatte, drückte es fest, zog den Hebel herunter und hatte das Gefühl, zum erstenmal mit einer Frau zu schlafen. Das satte Schmatzen, mit dem sich der fertige Druck ölig glänzend von der Platte löste. Robert wagte kaum, ihn mit seinen farbschwarzen Fingern zu berühren. Hörte Johann Baptists Keuchen hinter sich und machte einen Schritt zur Seite.

Robert wartete auf den Urteilsspruch und wußte doch schon, daß er positiv ausfallen mußte. »So lang's noch junge Leute gibt wie dich«, grunzte es hinter ihm, »so lang war doch nicht alles umsonst.«

Dann lud er Robert zu einem Bier ein und erließ ihm ab nächstem Ersten hundert Mark von der Miete.

Robert war so glücklich wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Kurt beschimpfte ihn wegen seinem Egotrip und barst vor Energie. Neu-neu-neu. Wenn die Revolution nicht in der Kunst begann, wo denn sonst?! Er hatte eine Gruppe von jungen Leuten aufgetan, die kreativ raus wollten aus der Scheiße. Ein Drogerielehrling, ein Bauarbeiter, ein Anstreichergeselle, ein Schreiner, zwei Akademiekollegen, eine Friseuse und das Soziologiemodell. Jeder ist ein Künstler. Kunst ist Aktion. Aktion ist Leben. Leben ist Kunst. Die erste Aktion sollte EIN HAUS heißen. Nach gemeinsamen Wanderungen wurde mit knapper Mehrheit ein supermodernes Apartmenthaus in der Unigegend als Modell ausgewählt. Die Leinwand vier mal sieben Meter gemeinsam grundiert' und aufgespannt. Farben und Werkzeuge in der Akademie geklaut. Jeder sollte sich und sein Haus malen. Das Ganze erst ergab eine Einheit. ZUSAMMEN.

Robert war gerade an seinem ersten Farblitho und hatte keine Zeit für Aktionen. Kurt war sauer und sprach drei Wochen nicht mit ihm. Er gestand Robert auch nie, daß die ganze Aktion ein Flop wurde.

Nur die beiden Kollegen von der Akademie, der Schreiner und die Friseuse akzeptierten ihren Quader. Pinselten eifrig vor sich hin. Auch der Anstreicher begnügte sich mit seiner Ecke und malte eine kleine Dürerwiese an den unteren Rand. Der Drogerielehrling versuchte die ganze Leinwand mit himmelblauen Röschen zu überziehen, und die Soziologiestudentin klebte BILD-Schlagzeilen über jede Andeutung von Harmonie. Kurt griff ein, solange seine Geduld ausreichte, aber die anderen waren längst nicht mehr ansprechbar, tobten Kreativitätsfreiheit und Selbstdarstellung auf der gestohlenen Leinwand aus und hielten das Maul, als Kurt alles an sich riß und ein Gemälde aus dem Bild machte. Überdeckte, verband, ausglich. Alle fanden es schön und wollten es im Haus der Kunst und in der Presse sehen und hatten das Gefühl, es sei IHR Werk. Der Bauarbeiter übergoß es eines Nachts mit Petroleum und zündete es an.

Kurt war ihm aus tiefstem Herzen dankbar dafür.

Aber durch die ganze Aktion war einer der Professoren auf Kurt aufmerksam geworden und vermittelte ihm ein Atelier in Schwabing-Mitte. Sechster Stock ohne Lift, Nordlicht, Holzboden, Ölheizung, Kochnische. Neunzig Quadratmeter. Keine Ablösung und weniger Miete, als Robert für sein feuchtes Kabuff zahlen mußte.

Robert freute sich für ihn, half ihm beim Umzug und erklärte Kurts Eltern, weshalb ein guter Maler Nordlicht braucht. Schaffte Leberkäs, algerischen Rotwein und Brot für die Party ran und drehte den ersten Joint. Fand sich in dem Gewimmel nicht mehr zurecht und suchte Kurt. Entdeckte ihn in der Garderobe mit einem nackten Mädchen auf den Mänteln und Jacken herumbolzend.

Am nächsten Tag blieb die Werkstatt leer, und Johann Baptist jun. kam die ganze Woche nicht. Nach zehn Tagen kam eine Mittfünfzigerin, schloß auf und kramte überall herum, listete auf kariertem Papier und begutachtete. Robert beobachtete sie. Als sie sein Litho in die Hand nahm, ging er hinüber.

Der alte Drucker war tot. Sie war seine Nichte und erbte alles. Robert riß ihr das Litho aus der Hand und schrie sie an. Er hätte sie am liebsten geschlagen, um seiner Trauer um den alten Mann Luft zu machen, aber es war noch früh am Morgen; er war verkatert, aber nüchtern, er zwang sich zu Charme und Höflichkeit. Er hatte nicht geahnt, daß der Alte überhaupt eine Familie hatte, und er hatte ihn immer für arm gehalten. Das ganze Haus hatte ihm gehört, und er hatte es all die Jahre durchsetzen können, daß nichts modernisiert wurde, daß die alten Mieter zu den alten Mieten wohnen bleiben konnten. Die Nichte stand bereits in Verhandlung mit einer großen Versicherung. Weg mit dem Ramsch, her mit Glas und Beton. Bis zum Abriß konnte Robert wohnen bleiben, und er beschloß sofort, eine Bürgerinitiative anzustacheln. Die Werkstatt, die Pressen. Er redete ununterbrochen und glühte sie an, als wäre sie Marilyn Monroe, um wenigstens einen Aufschub zu erpressen. Sie blieb zäh wie Schuhsohle, schickte am nächsten Tag einen Kastenwagen vorbei, der alles abräumte, was sich wegschleppen ließ. Die Druckerpressen waren zu unhandlich, sie bot ihm höhnisch das Erstkaufsrecht an.

Robert radelte nach Schwabing zu Kurt. Traf ihn mit einem Krawattentyp bei Tee und Gebäck über die Situation der Malerei im allgemeinen und eine Ausstellung im besonderen plaudernd. Krakeelte rum und holte sich eine angebrochene Flasche DDR-Wodka aus dem Besenschrank. Der Typ verabschiedete sich etwas übereilt, und Kurt war sauer. »Weißt du überhaupt, wer das war?!«

Robert drückte ihm ein Wasserglas Wodka in die Hand und erzählte. Vom alten Mann, von der Nichte und von den Druckerpressen. Eine einzige wenigstens, wozu hatten Kurts Eltern das Eingemachte. Dreitausend, das war doch ein Klacks für die. Und die Werkstatt, bis das Haus abgerissen wurde, das konnte noch Jahre dauern.

Kurt quasselte von Privateigentum und Ödipus. Robert wurde deutlicher. Malte Kurt aus, was es gerade heute hieß, nicht Unikate für kleine elitäre Gruppen zu machen, sondern Drucke mit hoher Auflage. Kaufhäuser, Möbelgeschäfte, Kalender und Versandhäuser. Die preiswerte Kunst für jedermann.

Nach dem dritten Wodka griff Kurt zum Telefon und rief seine Mutter an. »Hallo, Mama, wie geht's euch, ja, mir geht's gut, was macht Papa, alles gesund, ach du Ärmste, ja gern, klar doch …«

Robert konnte sich das Geschmeiß nicht länger anhören. Fuhr zum Chinaturm und holte sich ein Bier. Setzte sich an einen langen Tisch mit Studenten und Rentnern und trank gierig den ersten langen Schluck durch den Schaum.

Da sah er Gina zum erstenmal.