Kapitel 6

Gina fühlte sich ein bißchen betrunken. Sie vertrug nicht viel, und die erste Hälfte ihrer Radlermaß hatte sie zu schnell runtergekippt. Als sie ankam, fühlte sie sich frisch und unabhängig und unternehmungslustig, aber jetzt wurde das alles ein bißchen schlaff. Sie hockte mit ihren vormals schneeweißen Jeans auf der fleckigen Holzbank (ein Taschentuch unterzulegen wäre ja nun wirklich zu spießig gewesen), schwitzte, und der trottelige Alkoholiker neben ihr hatte ihr bei einem plumpen Anbandelversuch mit seiner Zigarette ein Loch in ihre bulgarische Bluse gebrannt. Das sah jetzt voll beknackt aus. Entweder gleich Gammellook und Flickenjeans oder Super-Suwa. Aber Gina fand es fad, rumzulaufen wie alle. Sie hatte sich schon mit vierzehn ihre Blue jeans mit Chlor ausgebleicht und selber Blümchen und Herzchen draufgenäht, als die anderen noch gar nicht an so was dachten. Aus drei alten Jeans hatte sie sich eine neue genäht, die nur aus Flicken bestand, und sich das Anti-Atom-Zeichen auf den Hintern gemalt. Und genau an der Stelle platzte die Hose natürlich auch. Sie war eben nicht so wie alle anderen. Und es machte Spaß, aufzufallen. Hier im gebügelten Jungfrauenweiß zwischen all den unrasierten und ungewaschenen Pennern zu sitzen. Der Typ gegenüber sabberte in sein leeres Glas und fiel mit dem Kopf auf den Tisch. Schnarchte. Die Studenten links neben ihr quatschten schon seit Stunden über Politik: Spanien, Portugal und Griechenland. Sie hätte locker mitreden können, natürlich war auch sie gegen faschistische Diktaturen. Aber verdammt noch mal, sie hätte sonstwas drum gegeben, jetzt im Pinienhain auf einer griechischen Insel zu sitzen, Retsina zu trinken, Salat mit schwarzen Oliven und Schafskäse zu essen und hinterher mit einem glutäugigen Naturburschen in die Dünen zu springen. Heiße Sonne auf brauner Haut. Vollmond und das Rauschen der Brandung. Statt Bier und schlappen Bubis, die nur über Scheiß reden konnten. Brabbel, brabbel, brabbel. Die zwei auf der anderen Seite mußten sich noch nicht mal rasieren und planten schon ihre Altersversorgung.

Nein, dafür hatte sie nicht alles hingeschmissen. Ein Jahr vor dem Abitur. So würde sie nicht werden. Sie schlug den zwei Knaben vor, sich schon jetzt mal für alle Fälle im Seniorenheim anzumelden. Mit Alpenblick und Vollpension. Die hörten nicht mal her, der Penner schnarchte.

Gina holte ihren Skizzenblock heraus und fing ein Gedicht an.

LEBEN
Stein sein
unter deinen Füßen
spüren
wie der Regen fällt
und die Hagelkörner
den Zement
von Jahrhunderten
bersten lassen.

Gina las es noch einmal durch und fand es wunderschön. Echt gelungen. Das drückte es aus. Bloß der Anfang. Der war irgendwie pubertär und unemanzipiert. Sie zerriß das Blatt und stopfte die Schnipsel in ihre Tasche.

Was ihr fehlte, war Erfahrung. Leben. Sie war fast achtzehn und hatte noch nie einen richtigen Orgasmus mit einem Mann erlebt. Gefummel unter der Schulbank und so eine kleine provokative Clinchnummer im Pausenhof. Und dann die Sache mit Ferdi, der keinen hochbrachte und ihr dauernd in die Titten biß. Oder Sabberkuß-Oskar. Richtig gebumst hatte sie nur einmal. Mit Axel aus der Dreizehnten. Der hatte eine eigene Bude und rammelte sich ab, als müßte er für die olympischen Spiele trainieren. Spannte nicht mal, daß sie noch Jungfrau war; als er das winzige Blutströpfchen auf seinem angeschmutzten Laken bemerkte, meinte sie, das seien wohl die Tage, und fuhr mit der Straßenbahn heim. Beim nächstenmal wollte sie Axel zu sich mit heimnehmen, um die Eltern zu schocken. Das wäre ein Spaß geworden. Paul und Erika, die Psychagogen. Die ja für alles Verständnis hatten. Die ihr schon mit zwölf die Pille einreden wollten.

DIE Gesichter! Sie war so dumm, das Axel auszumalen, und natürlich kniff er.

Sie würde ihr Leben der Dichtung widmen.

So wie die Schwestern Bronté.

Unberührt und dem Irdischen fern.

Schade, daß sie keine Schwester hatte. Nur diesen bescheuerten Bruder. Olaf, der nichts Besseres zu tun hatte, als Automaten zu knacken und Mopeds zu klauen. Das Geld allein, das Paul, ihr schwachsinniger Vater, in diesen debilen Bruder gesteckt hatte, würde ausreichen, um nach Acapulco zu fliegen und sich dort mit den Ölmillionären an den Swimmingpool zu legen.

Gina beschloß, nach Indien zu gehen.

Allein, in einer gelben Kutte, sich der Mystik des Fernen Ostens hingeben.

Sie bemerkte Robert.

Groß und breitschultrig mit schwarzem Zottelhaar und wildem Schnauzbart. Löchriges T-Shirt und abgewetzte Jeans. Ein morscher Riß am Knie, braun behaarte Haut. Eckige Hände mit geraden Fingernägeln. Er sah aus wie ein Zigeuner. Oder wie ein Grieche. Funkelaugen unter buschigen Augenbrauen. Er stellte sich in der Schlange vor dem Zapfhahn an und ließ alle anderen klein und mickrig neben sich aussehen. Kam zurück und suchte an den Tischen nach einem freien Platz. Die Maß in seiner Hand. Der glatte Bizeps unter seinem kurzen T-Shirt-Ärmel. Muskeln am Hals. Schmale Hüften. Schenkel, die kaum in die Jeans reinpaßten. Nackte Füße in Jesussandalen.

Gina starrte ihn an, aber er reagierte nicht. Suchte nach einem freien Platz. Die Studenten mit der Sorge um die Altersversorgung standen auf und gingen. Gina hatte das Gefühl, sie verhext zu haben. Es gab so was.

Robert setzte sich ihr schräg gegenüber an den Tisch.

Er sah sich kurz um, ohne etwas wahrzunehmen, hob seinen Seidel und trank. Seine Augen hinter Preßglas. Setzte den Bierkrug ab.

Sah sie an.

Er zog den schnarchenden Penner von der Bank, rollte ihn ein Stück in die Wiese und ließ ihn weiterschlafen. Saß jetzt direkt ihr gegenüber.

Sagte nichts. Trank sein Bier und sah sie an.

Als er aufstand, dachte sie, er wolle sich ein neues Bier holen. Aber er kam um den Tisch herum auf ihre Seite, packte sie am Ellbogen und zog sie hoch.

Nebeneinander schoben sie ihre Fahrräder durch den Englischen Garten, seins uralt und verrostet, ihrs neu und aluschimmernd. Sie berührten sich noch immer nicht, sprachen nicht. An der Leopoldstraße stieg er auf und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen. Er flitschte zwischen den Autos und Bussen hindurch, als wäre er unsichtbar. Und unverletzlich. Gina folgte ihm. Kein Auto, keine Ampel konnte sie aufhalten. Es war, als würde sie fliegen.

Eine vergammelte Einfahrt zu einem vergammelten Hinterhof. Kreischende Kinder und glotzende Weiber. Er stieg ab und wartete auf sie. »Ich heiße Robert.«

Er war ein Maler, ein echter Maler. Überall waren seine Bilder und Zeichnungen, und sie drückten genau das aus, was sie in ihren Gedichten sagen wollte. Melancholie und Erotik. Leben und Tod in einem: There's nothing left to lose. Freiheit. Sie ging auf ihn zu, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. Holte die Schnipsel aus der Tasche und gab sie ihm. Er strich sie glatt und legte sie auf dem Fußboden zusammen. Lächelte nicht, grinste nicht. Las, stand auf und küßte sie. Hob sie auf und trug sie auf seine Matratze.

Sie blieb liegen, und er sah sie an. Dann knöpfte er langsam ihre Bluse auf und zog die Hosen herunter. In den Fenstern vom Haus gegenüber spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne. Gold und Purpur.

Er berührte sie an Stellen, von denen sie gar nicht gewußt hatte, daß sie auf ihrem Körper vorhanden waren, küßte sie, liebte sie, schob sich in sie hinein und blieb bei ihr. Spreizte sie, öffnete sie, ließ sie schreien. Hielt sie fest und war da.

Stunden.

Es wurde dunkel, und er machte ein paar Kerzen an. Brachte eine Flasche Wein und Zigaretten und Erdnüsse. Sie waren ranzig. Lachen. Küsse. Augen.

Wieder und wieder.

Kein Gedanke an die Zeit, an die Eltern oder an sonstwas. Es donnerte, blitzte, Regen peitschte in den Hinterhof wie die Brandung gegen die Felsen am Mittelmeer. Sie hätte alles für ihn getan.

Irgendwann schliefen sie ein. Dicht aneinandergeschmiegt. Bewegten sich im Rhythmus wie siamesische Zwillinge, berührten sich, sahen sich an. Schliefen. Wachten auf, als die Sonne Strahlen von Staubpartikeln im Raum tanzen ließ. Lächelten. Waren allein auf der Welt. Liebten sich.

Robert machte Kaffee und ein Omelette mit Kräutern, Knoblauch und Käse. Sie aßen im Bett, kicherten, quatschten, liebten sich. Er erzählte ihr seine Geschichte und die vom Haus und vom Atelier. Sie erzählte von Paul und Erika, und er wußte nicht mal, was Psychagogen sind.

»So eine Mischung aus Psychologen und Pädagogen?« fragte er, sie lachte.

»So was ähnliches«, und dann berichtete sie. Wie sie noch klein waren, Olaf lind sie, und die Eltern auf dem Selbstfindungstrip. Dann mußten sie immer raus. Wurden ausgesperrt. Paul und Erika meditieren. Die Erinnerung. Die Wohnzimmertür. Das Klacken vom Türschloß. Flüsterstimmen innen. Außen nur die Garderobe und der Flurspiegel. Gina versuchte an der Tür zu lauschen, Olaf ging in die Küche und fraß sich voll. Trank Bier. War besoffen. Schmiß ein Fenster ein. Infantile Aggressionen, diagnostizierte Erika und sperrte ihn in sein Zimmer, weil er auf ihre Erklärungen nur mit Gebrüll reagierte. An dem Abend zertrümmerte er alle Möbel und legte ein Feuer. Das wurde rechtzeitig entdeckt, und Olaf bekam eine neue Zimmereinrichtung. Sie verstanden eben alles. Das Sorgenkind war eher Gina, weil sie sich nicht artikulierte.

Robert lachte, küßte sie, und alles fing wieder an. Er gab ihr ein schwarzes T-Shirt, das ihr bis zu den Knien reichte, und schickte sie heim.

Gina wußte, daß sie jetzt wußte, was Liebe ist.