Kapitel 8

Robert zeigte Kurt alles, was der alte Drucker ihm beigebracht hatte, und Kurt begriff schnell. Er nahm Kontakte mit Kalenderverlagen, einer Zigarettenfirma und einem Kunstmagazin auf. Obwohl seine Arbeiten technisch noch ziemlich unvollkommen waren, begann er zu verkaufen. Sammelmappen, Möbelhäuser, Versandgeschäfte und kleine Galerien.

Die Zeitungsmeldungen hatten Ströme von jungen Malern und Möchtegerns in die Werkstatt gelockt. Robert wunderte sich über seine eigene Geduld, mit der er über den geballten Dilettantismus hinwegsah. Sauer wurde er nur, wenn sie vergaßen, die Presse zu putzen, und Dreck hinterließen. Es wurden sowieso immer weniger, der Rest war lustig, und die Tage waren wie eine Art Dauerparty. Wein, Brot, Musik und Diskussionen. Und Gina.

Gina hatte sich mit den anderen Mietern zusammengetan, machte, organisierte, koordinierte. Ließ sich vom Mieterschutzbund beraten und stärkte oder bequatschte die anderen. Die Versicherung, die den Block gekauft hatte, wollte abreißen und einen neuen Verwaltungsbau hinstellen. Zuerst fing es ganz harmlos an, sie bot Prämien für schnellen Auszug. Die ersten resignierten. Gastarbeiterfamilien mit vierzehn Kindern zogen ein. Die Wasserleitung brach, wurde nicht repariert, einmal fiel der Strom aus, in die Mansardenwohnungen regnete es rein. Weitere Mieter zogen aus, ein paar kurzlebige WGs nisteten sich ein. Das Haus verfiel, am Schluß waren von den alten Parteien nur noch sieben übrig. Die hatten Angst, inzwischen auch vor Gina, grüßten nicht mehr und zuckten schon bei dem Wort Prozeß oder Zeitung zusammen.

Gina gab auf. Sie hatte sich verändert, war selbständiger geworden, machte bei einer Frauengruppe mit und arbeitete halbtags in einem Kinderladen. Robert liebte sie wie nie zuvor, und die Intensität dieses Gefühls irritierte ihn. Wenn sie nicht da war, vermißte er sie, und wenn sie da war, konnte er auch nicht arbeiten. Er sah sie immer wieder an, berührte sie und dachte an sie. Fühlte sie. Versuchte, sie zu malen. Als das Bild fertig war, war es ein Porträt von Kurt. Kurt, Kurt, Kurt; in der Mitte der nackte Rücken von Gina, kein Gesicht. Pflanzen und Tiere, die alle aussahen wie Kurt. Robert verbrannte das Bild.

Von den Maleleven waren nur noch drei übriggeblieben, ein Junge und zwei Mädchen. Sie waren begabt und besessen, Robert mochte sie. Als er eines Tages mit einer Tüte Spaghetti, Tomaten, Knoblauch und Wein vom Einkaufen heimkam, waren sie verschwunden. Kurt stand an der Presse und wich seinen Fragen aus.

Robert fand sie in der nächsten Kneipe. Kurt hatte sie rausgeekelt. Er würde die Miete für die Werkstatt zahlen, und er müsse auch jederzeit über seine Presse verfügen können. Außerdem warf er ihnen hundert Jahre alte Rostflecken und Abnutzungserscheinungen an der Maschine vor. Damit fiel auch die Möglichkeit, im Herbst auf der Buchmesse einen kleinen Stand mit eigener Druckgraphik zu mieten, ins Wasser. Robert hatte noch achtundvierzig Mark in der Tasche; sie soffen, bis das Geld weg war.

Als Robert heimtaumelte, war es dunkel. Licht in der Werkstatt und in seinem Atelier. Knoblauchduft. Kurt arbeitete noch. Sah nicht auf, als Robert reinkam. Zog ein fertiges Blatt ab. Robert wartete, bis er es aus der Hand gelegt hatte, dann schlug er zu. Ließ Kurt am Boden liegen und ging in seine Bude hinüber. Gina stand an der Herdplatte und kochte die Spaghetti. Lächelte nicht, umarmte ihn nicht, küßte ihn nicht. Fauchte ihn an, daß sie es satt habe, dauernd und immer und ewig nur zu kochen, bloß weil sie die Frau sei.

Robert knallte sich ins Bett und pennte.

Er wachte auf und war allein.

Sonnenlicht und glitzernde Staubkörnchen. Reißwolle im Maul und Sodbrennen. Keine Gina. Das erste Mal, seit sie sich kannten.

Robert verstand nicht. Die erste Reaktion war Angst. Er stand auf, ging aufs Klo und wusch sich. Bruchstücke von Erinnerungen. Er ging in die Werkstatt. Leer.

Nach zwei Tagen kamen sie beide wieder. Sie versöhnten sich, aßen, tranken, lachten. Robert und Kurt arbeiteten wieder zusammen, Robert und Gina schliefen wieder zusammen.

Nichts war mehr wie vorher.

Sie wollten es alle drei nicht wahrhaben. Kurt druckte wie besessen seine Auflagen, ab und zu half ihm Gina. Meistens war sie unterwegs, hatte einen Spanischkurs belegt und traf sich regelmäßig mit einer Gruppe von chilenischen Studenten.

Robert schloß sich in seinem Atelier ein und malte. Kohle und Aquarell, Tempera und Öl. Finstere Visionen von Weltuntergang und Apokalypse, Krieg, Hunger und Impotenz. Intellektuelle Aussagen, die sich verselbständigten, wenn der Bauch sie zu malen begann. Noch vor ein paar Monaten hätte Kurt ihn deshalb übel beschimpft. Rückzug ins Ego, Flucht in die Resignation, bourgeoise Dekadenz. Sie sprachen nicht mehr miteinander. Sie redeten, aber sie sagten nicht viel. Wetter, Kino, SPD, Leben, Liebe, Marcel Proust. Und Kochrezepte, stundenlang. Haus der Kunst, große Herbstausstellung, documenta und Biennale. Sie reichten ein und halfen sich beim Verpacken der Bilder und Ausfüllen der Formulare.

Robert lag mit Gina im Bett. Liebte sie, sagte ihr, wie schön sie sei, und daß er sie bewundere. Daß er sie brauche, daß er ohne sie nicht leben könne. Konnte erst kommen, wenn auch sie schrie. Konnte sich nicht satt sehen an dem weichen Ausdruck in ihren Augen. Dicht. Intensiv. Allein auf einer einsamen Insel.

Er war der einzige, der sie kannte, der wußte, wer sie wirklich war. Ein kleines Mädchen. Lieb und mager und hilflos. Weiblein, wissend, kennend. Und weil er es wußte, liebte er auch die knochige Emanze der Tagesstunden. Die diskussionssüchtige Aktivistin, die bebrillte Intellektuelle, die die Bilder auseinandernahm, als wären es mißglückte Analysen und Dokumente.

Kunst.

Robert hörte auf zu denken. Weigerte sich. Malte. Machte bei zwei Demos nicht mit, weil er keine Zeit zu haben glaubte.

Kurt würde auf die Buchmesse gehen. Frankfurter Hof. Der größte Kunstverlag hatte ihn eingeladen, Kurt zeigte die Einladungen zu verschiedenen Partys vor und überlegte, was er anziehen sollte. Bekam den Auftrag, ein Kinderbuch zu illustrieren, einen Fortsetzungsroman in einer großen Illustrierten, und das Porträt vom ältesten Sohn eines Politikers. Lehnte ab. Schob Weltanschauung vor. Bot die Jobs großzügig Robert an.

»Du kannst das«, sagte er, »ich hab die Zeit nicht.«

Kurt verdiente gut. Graphik ging. Und noch vor einem Jahr hätte er zugegeben, daß es Sachen gab, die er nicht konnte. Heute war er sich schon zu gut dafür. Robert versuchte, mit ihm darüber zu reden, aber Kurt blockte ab.

Er sah sich als anerkannter Künstler, er machte Geld, er würde berühmt werden, in die Geschichte eingehen. Arbeitete rund um die Uhr. Wurde zu Partys eingeladen und nahm manchmal Gina mit. Kaufte ihr ein Kleid und fragte Robert, ob er etwas dagegen habe.

Natürlich nicht.

Gina kam spät nachts heim, aufgekratzt und voller bissiger Beobachtungen und Berichte. Schlief mit Robert, liebte ihn leidenschaftlich und ging das nächste Mal wieder mit Kurt.

Die beiden Luftpostbriefe aus Venedig kamen gleichzeitig.

Absagen.

Das hatten sie nicht anders erwartet. Die Biennale wurde von den Etablierten gemacht und geführt und gesteuert. Kurt machte ein Riesenfest in seinem Atelier, Champagner, Salate und ein Haufen Münchner Journalisten. Mädchen für jedermann. Joints free. Robert spielte Gitarre und sang Bob Dylan. Ein richtiges Künstlerfest, hieß es am nächsten Tag in der Zeitung, wie in den alten Tagen von Schwabing.

Robert zerhackte seine Gitarre und bereute es im gleichen Moment schon wieder. Saß vor den Trümmern und heulte. Kurt bot ihm an, eine neue zu kaufen, eine schönere, eine bessere. Gina küßte ihn tröstend auf den Hals. Robert schlug zu, brüllte und rannte aus dem Haus.

Traf im Hof den Briefträger.

Vier Briefe, zwei für ihn, zwei für Kurt. München und Kassel. Er brachte sie zurück, und sie machten sie auf.

Kurt war abgelehnt, Robert angenommen.