Kapitel 9

Der Anruf kam um drei Uhr morgens.

Robert lag mit Gina im Bett (sie hatten jetzt ein richtiges Bett, verschnörkelter Messing vom Sperrmüll) und wußte zuerst nicht, woher das Läuten kam. Es wollte und wollte nicht aufhören. Die Hausklingel war kaputt, und Telefon hatte er keins. Die Werkstatt. Also für Kurt.

Oder doch für ihn?

Gina wurde wach und lief automatisch hinüber. Nackt, wie sie war. Kam zurück. »Für dich.« Er wollte sie an sich ziehen. »Deine Mutter.« Er ließ sie los und zog Hosen an.

Die Stimme klang so verheult, daß er nichts verstehen konnte, dann kam eine andere. Schwabinger Krankenhaus. Sein Vater, Unfall. Sehr ernst.

Im Taxi dachte er immer noch an Gina und die Nachtwärme ihres Körpers. Er fror. Wußte nicht, was ihn erwartete und was man von ihm erwartete. Was für ein Unfall. Auto? Seiner Mutter schien nichts zu fehlen. Grausige Bilder und Vorstellungen von blutzerfetzten Körpern, zerquetschten Hirnschalen und Krüppeln in Rollstühlen. Die Nachtschwester schien auf ihn gewartet zu haben. Die unpersönliche Hohlheit von nächtlichen Fluren. Stöhnen hinter einer Tür. Rote Blinklichter.

Das Schmatzen seiner Tennisschuhe auf dem grünlichen Linoleum.

Die Intensivstation.

Schläuche und Sauerstoffzelt.

Flimmernde Skalen und blinkende Apparate.

Paravents aus pflegeleichtem Plastik.

Glas.

Sie ließen ihn ohne Vorsichtsmaßregeln hinein, und Robert wußte, was das bedeutete. Die Mutter saß heulend neben dem Stahlrohrbett. Bekam einen hysterischen Anfall, als sie ihn sah, stammelte von einem losen Eisenträger und Versicherung und »von uns gehen«. Es gelang ihm nicht, sie zu beruhigen, die Schwester gab ihr eine Beruhigungsspritze und brachte sie in ein Zimmer nebenan.

Robert saß am Bett seines Vaters.

Er war kahlgeschoren und hatte einen dicken Verband um den Kopf. Kein Blut, alles weiß. Auch das Gesicht. Schlafend, eingefallen, um Jahrzehnte gealtert. Milchig durchsichtige Röhrchen, die ihn festnagelten, tröpfelnde Blasen, die sich ihren Weg in seinen Körper erzwangen. Blutleere Hände wie tote Tiere auf dem farblosen Laken.

Dunkle Haarbüschel zwischen den Fingergelenken.

Zucken.

Robert nahm eine Hand und hielt sie so fest er konnte. Hatte Tränen in den Augen, weil das, was da lag, sein Vater war. Der Mann, der alles konnte. Alles wußte. Alles richtig machte. Der ihm die erste Lokomotive seines Lebens gezeigt hatte, die funkelnden Lichter der Signalanlagen, die Weichen und die Stellwerke. Der ihn als kleinen Jungen mit in die Lok genommen hatte und ihm mit einem ölstinkenden Taschentuch die Tränen weggeputzt hatte, als er vor Angst losheulte. Der ihm gezeigt hatte, wie man mit Kohle, Tusche und Zirkel umgeht, und der ihm nie verziehen hatte, daß er nicht Arzt oder Jurist geworden war. Daß er nicht mal das Abitur hatte.

Die Augen öffneten sich und zwangen Robert, den Blick zu erwidern. Starr. Grau. Durchsichtig.

Schwarze Pupillen.

Riesig.

Die Hand schien so etwas wie eine Botschaft übermitteln zu wollen, die Lippen bewegten sich. Robert beugte sich tief unter das Polyesterdach, bis ihre Gesichter sich ganz nah waren.

»Ist aus«, flüsterte die Stimme, die Robert noch nie gehört hatte, »sag nichts, ich weiß es besser. Meine Schuld. Hätte mich absichern müssen, hatte da nichts zu suchen, verdammte Neugier …« Keuchen, Blubbern. Und so etwas wie ein Lächeln. Händedruck. »Mein Junge.« Robert schluckte, ließ die Hand nicht los. »Muß dir das noch sagen. Bewundert. Dich. Nie selber das gemacht, was ich wirklich wollte. Nie. Träume. Du ja. Weiter. Egal, ob richtig oder falsch. Nur du. Du selber. Selber …« die Augen schlossen sich wieder. Rasselnd schwerer Atem.

Robert wollte aufspringen, die Hand hielt ihn fest. Blaue Lichtpunkte auf dem Schirm über dem Bett, Zirpen, Ticken. Die Schwester hinter der Glasscheibe las einen Krimi.

Es dauerte noch fast eine Woche.

Robert blieb in der Klinik. War kaum dazu zu bringen, das Bett wenigstens ab und zu zu verlassen, bekam von den Schwestern zu essen und zu trinken und vom Arzt einen Rasierapparat. Die Mutter schien sich durch seine Anwesenheit beruhigt zu haben, fuhr heim, holte Kleider zum Wechseln und sprach, wenn sie nicht gerade weinte, von Anzeigen, der Beerdigung und ihrer Rente, als wäre er schon tot.

Er sprach nicht mehr und machte die Augen nicht mehr auf. Nur seine Hände irrten über das Laken, bis Robert sie nahm und festhielt. Die Zickzackkurve auf dem grünen Schirm wurde langsamer, flacher. Und ausgerechnet, als sie zur geraden Linie einschlief, war Robert nicht im Zimmer. Als er aus dem Bad zurückkam, standen Arzt, zwei Schwestern und die Mutter am Bett. Drehten sich nicht nach ihm um. Stöpselten ihn ab und deckten ihn zu. Gaben der Mutter eine Viertelstunde und wunderten sich, daß Robert mit ihnen hinaus auf den Gang ging.

Den Rest merkte er erst viel später. Als die ganzen Formalitäten, das Begräbnis, die öligen Ansprachen und der Leichenschmaus vorbei waren, als die Kollegen, Cousinen, Vettern, Nichten, Neffen und die unverheiratete Schwester abgereist waren, da merkte er, daß seine Mutter als völlig gesichert annahm, daß er jetzt wieder heimkehren und den Platz seines Vaters einnehmen würde.

Zuerst fing es ganz harmlos an. Es gab immer noch einen Haufen Papierkram, und natürlich half er ihr dabei. Sein Vater hatte alles penibel geordnet, er hatte sogar ein Testament hinterlassen. Die Mutter bekam alles. Das Sparguthaben und die Wohnungseinrichtung, den Fernseher und den VW. Das Wochenendhaus und die Werkzeuge. Alles. Bis auf die Modellbahnsammlung, die sollte Robert bekommen. Das Vermögen belief sich auf DM 8779,– , Robert verzichtete auf Pflichtteil und Anwalt.

Die Mutter begann, das Geld auszugeben, und die Wohnung neu einzurichten. »Jetzt kommt schließlich ein junger Mann ins Haus.« Er sollte das Wohnzimmer bekommen, sie würde ins Schlafzimmer ziehen, alte Frauen brauchen nicht viel.

Sie war noch nicht mal fünfzig.

Robert packte die Kistchen und Kästen mit den Loks und Zügen, den Schienen und Weichen (Spur 0) zusammen und verschwand über Nacht. Er hatte es mit Bitten, Reden und Brüllen versucht, stieß immer nur gegen die weiche Mauer aus Mutterliebe und Witwenschaft. Brachte es nach einiger Zeit fertig, nicht einmal mehr ihre Briefe oder die der anderen Familie zu öffnen. Erfuhr durch Zufall, daß sie nach Dortmund zu ihrer Schwägerin gezogen war. Der Frau, mit der sie nie Kontakt gehabt, mit der sie sich nie verstanden hatte.

Die Wohnung aufgelöst, alles verkauft, versteigert oder mitgenommen. Auch seine ersten Zeichnungen, Schulalben und Sportabzeichen. Seine ganze Kindheit.

Robert war frei.