Kapitel 10

Der Winter war kalt, naß und grau. Er fing im Oktober an und schien nicht vorzuhaben, jemals wieder aufzuhören. Wenn es einmal schneite, schmolz das bißchen Weiß sofort wieder zu schmutzigem Eisschlamm, und die Feuchtigkeit fraß sich durch die alten Mauern. Alles schniefte, hustete und fieberte, und Robert schnitt sich die Fingerkuppen von einem alten Paar Handschuhe ab, um wenigstens etwas arbeiten zu können.

Im April sollte das Haus abgerissen werden. Endgültig, die Genehmigung war erteilt. Die Werkstatt stand leer. Gina war jetzt fast dauernd bei Kurt, wegen ihrer Grippe, wie sie sagte. Auch Robert fuhr, so oft es ging, hinüber, um mal wieder gut zu essen oder einfach nur, um sich aufzuwärmen.

Kurt ging es bestens. Eine Bank und eine Strumpffabrik hatten ihm Verkaufsausstellungen eingerichtet, eine Ausstellung in Düsseldorf und eine in Würzburg. Er hatte seinen Stil etwas geändert, nicht mehr die explosiven Farbkonzentrationen, Details aus der Alltagswelt zu Poprastern vergrößert.

»Du liegst voll im Trend«, bemerkte Robert, »von Vasarely über Andy Warhol nahtlos zu Rauschenberg und Hundertwasser. Erstaunlich, wie du das schaffst.« Kurt überhörte die Ironie, nickte nur, lächelte in sich hinein und malte weiter. Es gab Lammkeule, französischen Wein, Salat und eine Käseplatte. Gina hatte sich die Haare kürzer schneiden lassen und trug einen weiten Folklorerock mit einer Rüschenbluse und einem bestickten Westchen. Sie hatte etwas zugenommen, wirkte weicher, fraulicher, erwachsener. Sie lachte, als Robert seinen dritten Pullover auszog und noch einen vierten darunter anhatte. Gab ihm ein homöopathisches Grippemittel, das phantastisch sein sollte, und sich, wie sich später rausstellte, nicht mit Alkohol vertrug.

Nach der dritten Flasche Wein überredete Kurt Robert, bei ihm zu übernachten. Oder hatte er bei uns gesagt? Er fragte ihn nach dem Haus und dem Abrißtermin, machte einen Witz über Ginas alten Plan, aus der Werkstatt eine Galerie zu machen, schien vergessen zu haben, daß er es gewesen war, der die Sache einschlafen ließ, angeblich wegen der mangelnden Qualität der anderen Bilder. Schade eigentlich, jetzt könnte man das gut in den Zeitungen ausschlachten. Er meinte es gar nicht so witzig, aber Robert war zu betrunken, um richtig antworten zu können.

Am nächsten Morgen konnte sich Robert nicht mehr an die Einzelheiten erinnern. Sie frühstückten zusammen, legten Don McLean auf und unterhielten sich friedlich und freundlich wie immer. Daß die Stimmung trotzdem angespannt war, fiel Robert nicht auf; seine Erkältung hatte sich tatsächlich merklich gebessert, sogar die Zigaretten schmeckten wieder. Plötzlich sah Kurt auf die Uhr, sprang auf, murmelte etwas von einer dringenden Verabredung und stürzte hinaus. »Sehr taktvoll«, grinste Robert und wollte Gina umarmen. Sie wich ihm aus, drehte den Plattenspieler leise.

»Wir werden heiraten«, sagte sie.

»Na ja«, Robert grinste immer noch, »danke für die Information, aber bist du nicht noch ein bißchen jung?«

»Ich werde zwanzig.«

»Das wird fast jeder mal. Und ich hab' ja auch nichts dagegen, aber wovon sollen wir leben? Und vor allem, wo ?«

Gina kam zu ihm, legte ihm von hinten die Arme um den Hals und schmiegte sich an ihn. »Robert, ich werde Kurt heiraten.«

Robert lief zu Fuß nach Hause. Schneewasser drang durch seine Schuhsohlen und tropfte durch den Parka. Er war wie narkotisiert. Legte sich daheim ins Bett, ohne sich umzuziehen oder den Ofen anzuheizen. Er bekam einen Gripperückfall und lag fiebernd und von Schüttelfrost gebeutelt tagelang in einer wirren Welt aus alles verschlingenden Phantasieungeheuern.

Als Kurt kam, mußte er das Türschloß aufsprengen. Er erschrak. Es stank, Robert war abgemagert und unrasiert, lag hohläugig in einem verdreckten Bett und lallte vor sich hin. Kurt wusch ihn, rasierte ihn, bezog das Bett frisch, schleppte warme Kleidung, Daunendecken, zwei Elektroheizer und eine Tüte voller Medikamente an. Kochte Fleischbrühe und flößte sie Robert ein wie einem kleinen Kind. Weinte.

Rief Gina an, verbot ihr, auch zu kommen, und blieb bei Robert. Zehn Tage, zehn Nächte. Sie sprachen wenig in der Zeit, es war nicht nötig. Als Robert wieder aufstehen und rumlaufen konnte, bat er Kurt zu gehen.

»Was wirst du jetzt tun?« fragte Kurt.

»Ich weiß es nicht«, log Robert.

Sie umarmten sich.

Robert war allein. Er teilte das Zimmer in zwei Hälften. In die eine Hälfte kam alles, was er brauchte. Die Bilder und Graphiken, die Mappen und Farben, die Werkzeuge und Unterlagen. Die wichtigsten Bücher und Platten, die notwendigsten Kleidungsstücke, ein paar Fotos und Andenken. In die andere Hälfte der ganze Kram, der sich in den letzten drei Jahren angesammelt hatte. Er verkaufte alles, was auch nur irgendeinen Wert hatte, und verschenkte den Rest an die letzten Jungfreaks, die es noch in dem alten Haus ausgehalten hatten. Es war einfach, fast lustvoll. Nur die Modelleisenbahnsammlung von seinem Vater kostete eine Flasche Wodka, bis er sich auch von ihr trennen konnte. Sie brachte fast fünftausend Mark.

Robert war reich.

Er kaufte einen alten 2 CV, kündigte die Wohnung, hinterließ eine Nachricht für Kurt und fuhr los.

Im Allgäu war noch alles weiß verschneit, und ein eisiger Wind pfiff durch das Flatterdach des 2 CV. Am Bodensee waren die Wiesen schon grün, und in Como blühten die Bäume. Er aß Spaghetti und trank Rotwein und Espresso, fuhr weiter, die Nacht durch. Frankreich, La Douce France, das Mittelmeer. Er saß übernächtigt und überwach in einem Bistro am Straßenrand und stippte Croissants in den bauchigen Topf mit café au lait. Bestellte einen Pastis hinterher und fragte, ob man auch Zimmer vermiete. Ein überbreites Plüschbett, ein Bidet und schmale Jalousien auf die Autoroute. Hinter dem Haus gab es einen Parkplatz und ein Flüßchen. Platanen und Boule spielende Männer mit Baskenmützen.

Er legte sich ins Bett, stützte den Kopf auf die ungewohnte Rolle, strampelte die festgezurrte Decke frei und schlief ein.

Nizza, Cannes, Vallauris. Provence, das Land Picassos. Robert lief durch denselben Sand, durch den auch Picasso gelaufen war, es gab Fotos als Beweis dafür, er sah das Haus, in dem Picasso gewohnt hatte, und er kaufte einen Keramikteller mit der Taube darauf. Auf dem Weg nach Marseille verlor er den Auspuff und wartete in einer weinüberwucherten Werkstatt bei Muscat auf den neuen. Marseille. Hafen, Bouillabaisse, Fischmarkt und braune Mädchen, Zuhälter und Dealer. Sonne. München war sehr weit weg.

Er fand eine kleine Dachbude in der Nähe vom alten Hafen, richtete sich ein und genoß den tosenden Lärm in den Straßen. Kaufte morgens seinen Nice Matin und seine Baguette wie jeder Franzose, kochte sich Milchkaffee und stöberte auf dem Markt nach frischen Tomaten, Knoblauch und Fisch. Saß pünktlich zur Apéritifzeit in den Straßencafes herum und freute sich, wenn die Kellner ihn wiedererkannten.

Außer ein paar Skizzen malte er nichts.

April, Mai. Die Luft wurde heiß und stickig, die Sonne drang kaum noch durch die Wolken von Abgasen hindurch. Das Wasser wurde knapp, man schwitzte schon, wenn man nur atmete, und alles stank nach verfaultem Fisch. Das ist sehr ungewöhnlich für die Jahreszeit, sagten alle und stöhnten, wenn sie nur an den Sommer dachten. Roberts Geld schmolz, und er beschloß, mit dem Arbeiten anzufangen. Spannte ein Blatt auf. Schweiß tropfte vom Ellbogen auf die Tusche. Er gab auf.

In der Nacht lernte er Claire kennen.

Sie war jung, mager, hatte blondes Haar und erinnerte ihn an Gina. Auch sonst. Nicht schüchtern oder was. Sprach ihn an und lachte und kam mit auf sein Zimmer. Trinken wollte sie nichts, sie hörte auch nicht auf seine in Schulfranzösisch gebrabbelten Erklärungen. Zog sich aus und legte sich flach.

Er bekam keinen hoch, und sie zog sich wieder an. Quatschte unverständlich schrill auf ihn ein, bis er sie rausschmiß. Sie hieß Claire und war siebzehn Jahre alt.

Am nächsten Tag wischte er den Schweißflecken vom Papier und skizzierte eine Hafenszene. Legte Kleenex unter und hielt den Ellbogen hoch. Château d'If und die Festungsmauern. Bleigrau das Meer und der quirlende Markt im Vordergrund. Die Gesichter der Marktfrauen, die Glotzaugen der Fische. Er malte ohne zu essen und zu trinken durch und hörte erst auf, als es zu dunkel wurde. Ging auf eine Fischsuppe in die Kneipe nebenan und angelte das berühmte schwarze Haar mit der Lässigkeit eines Südfranzosen aus der Suppe. Fühlte sich high und schlenderte noch auf einen Drink in die Cannebière.

Claire kam an seinen Tisch. Sie war nicht allein. Hinter ihr stand ein Zwei-Meter-Neger mit gestreiften Hosen und knappem T-Shirt. Sie war auch nicht blond und auch nicht siebzehn. Sie war eine algerische Kinderhure mit gefärbtem Haar. Robert zahlte dem Neger die verlangten fünfzig Franc, trank sein Glas hastig aus und ging. Wurde drei Ecken weiter überfallen.

Die Straße war hell erleuchtet, auf den Trottoirs flanierten Playboys, Nutten und Touristen. Platanen und Bars, Straßenhändler und Kioske. Sie waren plötzlich um ihn herum. Mindestens sechs oder sieben. Junge Kerle, mit dunkler Haut und Schnappmessern. Robert schaffte zwei. Er trat, boxte und schlug. Er hatte nicht genug getrunken. Er sah auch keinen rechten Anlaß, sein Leben für Papiergeld zu opfern. Sie nahmen alles, was er dabei hatte, und ließen ihn liegen.

Prellungen, ein zuschwellendes Auge, ein verstauchtes Handgelenk und ein wackelnder Schneidezahn. Er schleppte sich heim. Die Zimmertür war aufgebrochen, alles durchwühlt und übereinandergeworfen. Die Matratze aufgeschlitzt und seine Zeichnung zerfetzt. Alles war weg. Die Travellerschecks, das Bargeld, der Wecker, der Kofferradio, der Fotoapparat, zwei Jeans und eine 80-Gramm-Tafel grüner Afghan in unschuldiger Silberfolie.

Die Farben und den Paß hatten sie ihm freundlicherweise zurückgelassen.