Kapitel 14

Es war kühl und sah nach Regen aus, aber noch konnte man gut unter dem weit vorgezogenen Terrassendach sitzen. Gina hatte einen Pullover an und legte ihrer Mutter eine dicke handgestrickte Jacke um die Schultern. Sie tranken Tee aus einer Thermoskanne, den Schokoladenkuchen hatte Gina selbst gebacken. Er troff von Rum, und Gina nahm sich das dritte Stück, obwohl sie sich nicht viel aus Süßem machte.

»Du hast zugenommen«, sagte ihre Mutter zwischen einem detaillierten Bericht über ein verhaltensgestörtes Kind, bei dem sich schon nach kurzer Therapie erstaunliche Fortschritte zeigten, einer Schilderung aller Beschwerden, die Vater Paul mit seinen Gallenkoliken hatte, und der Aufzählung aller homöopathischen Medikamente, die er nicht regelmäßig einnahm. Olaf hatte jetzt eine Lehrstelle bei einem Schmied in Niederbayern. Ganz alternativ. Vermutlich würde das auch nicht lange gutgehen. Schwere Arbeit und viel Bier. Der abwesend kritische Blick intensivierte sich plötzlich. »Oder erwartest du was Kleines?«

Gina schwieg.

Dieser grotesk altmodische Mutterausdruck stand im krassen Gegensatz zu Erikas sonstigem Gehabe. Französische Jeans, T-Shirt, Schal und Westchen. Oil of Olaz. Lidschatten. Sonst ganz Natur und erhaltene Jugend. Die Tennisschuhe sahen aus, als wären sie von Olaf ausgeborgt. Die Praxis wuchs, sie kamen kaum nach. Die höchste Erfolgsquote erzielten sie bei kleinen Kindern, vor allem, wenn die Eltern mitmachten. Aber jetzt, mit zunehmendem Schulstreß, öffneten sich völlig neue Möglichkeiten. Ein guter Freund, früherer Kollege von Paul – du erinnerst dich doch noch an Klaus, der Dicke mit der komischen Brille – hatte den Staatsdienst quittiert und eine eigene Privatschule aufgemacht. Er hat Geld geerbt, paar Häuser oder so, war eh frustriert im normalen Schulbetrieb. Weil man da eben so wenig machen kann. Er nahm jetzt gerade Problemkinder. Übergangsklassen. Haupt zu Real, Real zu Gymnasium, Kolleg zu Abitur. Die Bruchstellen, die Hauptstreßpunkte. Natürlich ein Jammer, daß sich das wieder nur die Eltern mit Geld leisten konnten. »Jetzt sag doch, wann kommt es? Ich hoffe, du gehst regelmäßig zum Arzt. Bei welchem bist du eigentlich?«

Kurt war nebenan in seinem Atelier. Er hatte seine erste große wichtige Einzelausstellung und arbeitete wie ein Idiot. Jammerte über schwarze Fingerkuppen, er hatte Acryl entdeckt. War im Moment gerade an einem übergroßen Triptychon mit Stadt, Land und Politik. Körper, Gesichter, Schlagzeilen. Das Jahr sollte es heißen. Gina war oft bei ihm, wenn er arbeitete, und las ihm vor. Zeitungen oder Krimis. Einmal einen ganz komischen Italo-Porno. Ein Teil in dem Bild wurde von drei reitenden Cowboys erobert. Die Hüte sahen aus wie verbeulte Pimmel, die Berge von Arizona oder Texas wie Schaumstoffvulvas. Gina konnte später nicht mehr erkennen, was ausgeschnitten und geklebt und was gepinselt war. Kurt hatte in verstaubten Büchern eine alte Lasurtechnik ausgegraben, die die Farben transparent leuchten ließ. Er war sehr zuversichtlich.

»Aber die Hauptsache ist, daß ihr es wirklich wollt. Die meisten Kinder sind ungewollt. Unfälle eben. Ein Kind spürt das. Die kleine Lily zum Beispiel zieht immer ihre Hosen im Kindergarten aus. Weil sie spürt, daß die Mutter eigentlich lieber einen Sohn gehabt hätte. Das ist richtig tragisch, weißt du, Lili wünscht sich nichts sehnlicher, als beim Krippenspiel einen Engel machen zu dürfen. Aber dafür braucht sie langes Haar. Blond, ist sie. Aber kurz wie ein Junge, so hat sie auch neulich die Bäckersfrau angeredet. Unverantwortlich, diese Erwachsenen. Dabei hat sie so strohschütteres Schnittlauchhaar, daß es grotesk aussehen würde. Die Mutter ist nicht verheiratet. Sie arbeitet aber besser mit als viele andere. Schuldgefühle. Zieht sie immer an wie für den Laufsteg.«

»Mama!«

Erika zuckte zusammen. Gina konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter jemals anders als Erika genannt zu haben. Und immer diese Scheiß-Jugendfummel. Konnte sie denn nicht zu ihren gottverdammten Vierzig stehen und auch nur wenigstens einmal einen Rock anziehen?!

»Ist ja schon gut, Ginakind, es geht mich ja auch nichts an. Nein, das meine ich ehrlich. Es ist euer Leben, und ihr müßt wissen, was ihr tut. Ich will mich nicht einmischen, und ich werde es nicht tun. Nur, du bist noch sehr jung, und Kurt hat viel Arbeit und wenig Zeit. Weißt du, ein Kind braucht …«

»Ich bin nicht schwanger!«

» … mehr als nur Essen und Trinken und Kleidung.« Pause. Mutterblick. Forschend: »Wieso? Klappt es nicht? Was nicht in Ordnung?« Gina lächelte und holte eine Flasche Wein. Erika zog den Korken und schenkte ein. „Wir haben eigentlich schon lange nicht mehr miteinander gesprochen. Wirklich. Ich bin doch deine beste Freundin. Das hoffe ich jedenfalls. Ich wollte nie eine landläufige Mutter sein. Ich habe viele Fehler gemacht. Das weiß ich. Aber es ist eben so, wie immer du es machst, du machst es falsch. Oma hat mir nicht einmal gesagt, was das ist, wenn man seine Tage bekommt. Sie war eben selber so erzogen.« Pause, dann der große Blick. »Sag mal, hast du das Gefühl, daß wir uns zu wenig um dich gekümmert haben. Körperkontakt? Streicheleinheiten? Bevorzugung von Olaf, weil er immer schon ein Problemkind war?« Pause. Blick. »Wieso hast du nicht die Pille genommen, wenn du kein Kind willst?!«

Gina zerkrümelte die Zigarette in ihren Fingern, um nicht die Teekanne nach der Mutter zu schmeißen. Hoffte auf ein Ungewitter oder auf Katzen, die vom Himmel hagelten. Der Himmel klarte sich auf, und einmal kam sogar die Sonne heraus. Kurt holte sich ein Glas Tee und lächelte geschmeichelt, als Erika ihn umarmte und ihm gratulierte. Erst am Spätnachmittag kam Paul, holte Erika ab und erlöste Gina. Gina war so erleichtert, daß sie die beiden noch ans Gartentor brachte. Sah sie turtelnd und kichernd zum Volvo gehen, miteinander flüsternd. Gina bekommt was Kleines. Paul sah noch einmal zu ihr zurück, bevor er den Motor anließ. Verständnisvoll. Wir helfen dir schon. Sie ging auf die Terrasse zurück und räumte auf. Kurt arbeitete noch. Gina setzte sich mit einem randvollen Weinglas wieder hin. Terracotta, dann Rabatten mit bunten Blumen, Wiese (nicht Rasen), ein paar Büsche und die Mauer. Zwei Meter zwanzig, weiß verputzt.

Als sie gerade eingezogen waren, hatte Kurt davon gesprochen, die Mauer zu bemalen, und als sie den ersten Brief von Robert bekamen, hatte er es tatsächlich gemacht. Eine Berglandschaft mit Seen, Hügeln und Wäldern. Am Anfang wirkte das fast natürlicher als die beiden Birken im Garten. Nach dem ersten Regen wurden die Fugen zwischen den Steinen wieder sichtbar. Die Mauer blieb eine Mauer.

Gina stand auf und ging ins Haus, um das Essen zu kochen. Griechischen Salat, Lammkoteletts mit grünen Böhnchen und Knoblauch, Salzkartoffeln, eine Flasche Demestica. Über ihnen wohnte ein Computerfachmann mit Frau und Baby. Sie hatten wenig Kontakt, grüßten sich höflich, einmal machte die Frau eine witzige Bemerkung über den Gastarbeitergeruch. Im letzten Urlaub, in Jugoslawien, da gab's auch dauernd Knoblauch, haha. Kurt kam herüber, klatschte Gina die verkleckste Hand auf den Hintern und ging ins Bad. Gina deckte den Tisch mit Blumen und Kerzen.

Kurt strotzte vor Zufriedenheit. Aß für zwei und merkte nicht, daß Gina nur trank und ein bißchen im Salat herumstocherte.

»Das wird gut, sag ich dir. Hat sogar deine Mutter gesehen«, mampf, »sie hat mir herzlich gratuliert.«

»Nicht zu deinen Bildern.«

»Vor allem das Triptychon. Ich schaff's auch, ich bekomm es fertig. Da ist alles drin. Friede und Aggression, Hektik und Ruhe, Genuß und Konsum, Kommen und Gehen, Erotik und Tod. Ich glaube, das wird das Beste, was ich je gemacht habe.«

»Erika war heute überhaupt nicht drin in deinem Atelier.«

»Wie?« Er wischte sich den Mund ab, trank einen Schluck Wein und prüfte, ob er auch keinen Fettrand am Glas hinterlassen hatte. »Aber sie muß doch dagewesen sein, sonst hätte sie doch gar nichts sagen können. Sie hat mich sogar umarmt.« Er kam großartig mit Ginas Eltern aus, er verstand nicht, was sie immer an ihnen auszusetzen hatte. Das war doch infantil.

»Sie hat dir gratuliert, weil sie glaubt, daß du Vater wirst.«

Er verschluckte sich, bekam einen Hustenanfall, starrte sie an. Offener Mund, ein Schneidezahn stand schief. Sehr leise: »Ist das wahr?«

Gina nickte, beobachtete das nackte Entsetzen in seinem Gesicht, das mühsam verkrampfte Lächeln, nachdem Minuten verstrichen waren.

»Du bekommst ein Kind?«

»Das habe ich nicht gesagt. Meine Mutter glaubt, daß wir eins bekommen. Wir, nicht ich allein.«

Er schwieg, sah sie jetzt nicht mehr an, füllte sein Glas nach.

»Würdest du dich nicht darüber freuen? Platz genug haben wir doch und den Garten. Du wärst ja auch überhaupt nicht gestört in deinem Atelier drüben.«

»Ich dachte, du nimmst die Pille. Ich seh doch immer die Schachtel im Bad liegen, du hast noch nie eine vergessen.«

»Du kontrollierst das, wie?« Gina begann, den Tisch abzuräumen, Kurt sprang auf und half ihr eifrig.

»Aber doch nur, um dir zu helfen, ich mein, jeder kann mal was vergessen. Du wolltest doch auch kein Kind. Wir waren uns doch einig. Gina!« Er nahm ihr das Tablett aus der Hand, stellte es ab und umarmte sie, legte sich ihre schlaffen Arme um den Hals. »Gina, Liebling, du bist doch meine kleine Muse. Wir gehören doch zusammen, wir sind doch eins. Wir werden immer beieinander bleiben. Wir werden reisen, wir werden die Welt sehen. Wir werden berühmt werden. Ich hab jemand vom DAD kennengelernt. Wir könnten vielleicht ein Jahr nach Paris gehen oder Rom. Oder New York! Mein Gott, New York, stell dir vor! Guggenheim, und der ganze Globus gehört dir!« Er küßte sie auf den Hals. »Kleines, sag, daß es nicht wahr ist!«

Sie bewegte sich nicht. »Es ist nicht wahr. Nichts Kleines ist wahr.« Er küßte ihr Haar und ihr Kinn und versuchte, ihren Mund zu treffen. Zog sie mit ins Schlafzimmer.

Sie lag unter ihm und schaute über seine Schulter an die Decke. Dünne Spinnweben neben der Lampe. Die Putzfrau war kurzsichtig und zu eitel, eine Brille anzuziehen.

Er rollte sich runter. »Entschuldige. Ich war zu schnell, oder?« Küßchen. Er ging ins Bad. Als er zurückkam, hatte er seinen Schlafanzug an.

Sie wartete, bis er eingeschlafen war. Dachte an Robert.