Irrsinnige Kopfschmerzen.
Sand im Maul und trockener Hustenreiz. Unerträgliche Hitze. Robert versuchte, die Augen zu öffnen. Grelles Sonnenlicht blendete ihn. Er stöhnte.
»Na endlich«, sagte eine Stimme, die er noch nie gehört hatte. Er wachte endgültig auf. Er war ausgezogen und lag im Bett. Wenigstens das. Unter einem sauberen Laken. Es war nicht sein Bett. Zitronengelbe Wände und ein kitschiger Sonnenuntergang über einem gekachelten Tisch mit Rohrsesseln. Es war nicht mal sein Haus. »Hier, nimm das«, eine Hand gab ihm ein Wasserglas mit einem sprudelnden Alka-Seltzer drin. Viel half es nicht, aber er konnte immerhin den Kopf heben. Das Mädchen war Anfang zwanzig, pummelig, stupsnäsig und sommersprossig. Wasserblaue Augen hinter einer Nickelbrille, die ständig über die schweißnasse Nase herunterrutschte.
»Wer bist du denn?«
»Kennst du mich nicht mehr?« Die Augen wurden größer als die Brillengläser und schimmerten feucht, was aber vermutlich an der Hitze lag. »Ich bin doch die Britta.«
»Aha. Die Britta also.« Robert hustete, bis sich ihm der Magen umstülpte. Britta brachte ihm ein Glas Eiswasser, Britta steckte ihm eine Zigarette an. Nichts auszusetzen an Britta. »Tag, Britta.«
»Du erinnerst dich an nichts, was !« Vorwurf, Schmollmund. Sie setzte sich auf die Bettkante. Ein rosa Hängerchen über winzigen Shorts, mächtige Schenkel und runde Kinderknie. Robert rückte an die Wand und legte zum Ausgleich eine Hand auf das Knie. Die Hand schmerzte. Sah komisch aus. Fremd. Dick. Robert zog sie zurück und hielt sie sich vor das Gesicht. Öffnete sie, schloß sie. Schmerzen. Angst.
»Was ist passiert?«
»Du hast mir gesagt, daß du mich schön findest und daß du mich liebst, und daß du mich malen willst, und daß du mich …, sie brach ab, wartete auf eine Reaktion. Robert war noch mit seiner Hand beschäftigt.
»Wann soll das gewesen sein?«
»Heute nacht im Los Arcos.«
»Und?« Panik.
»Was und?«
»Haben wir?« Er hielt ihr das Glas hin, sie stand auf und füllte es mit neuen Eiswürfeln und Mineralwasser.
»Nein, du warst zu besoffen.«
Die Panik steigerte sich. Er hatte keine Ahnung, wo er war, wie er hergekommen war und was passiert war.
Etwas war passiert.
Etwas Mieses, etwas Gemeines. Etwas Böses. Das war es auch, was ihn geweckt hatte. Nicht die Kopfschmerzen und der Kater. Das untrügliche Gefühl, daß irgend etwas Schreckliches passiert war.
Er hatte nicht die geringste Ahnung.
Totales Blackout.
Schweißblasen traten gleichzeitig aus allen Poren, er bekam keine Luft. Setzte sich halb auf, lächelte unsicher. »Ist das dein Haus?«
»Gehört meinen Eltern. Aber die sind nicht da.«
»Ja, ich find dich auch wirklich schön. Aber wie bin ich hergekommen?« Ihr Lächeln schrumpfte so schnell, wie es gekommen war. Aber sie war der Mamityp, der für alles Verständnis hat. Sie erzählte es ihm.
Um drei Uhr nachts war er ins Arcos gekommen, zu Fuß, das Fahrrad auf der Schulter. Zu besoffen, um noch zu fahren, hatte er gesagt und eine Runde ausgegeben. Er hatte kein Geld dabei. Britta legte es für ihn aus. Er sagte, daß er sie liebte und sie heiraten wollte, und sie nahm ihn im Jeep ihrer Eltern mit heim.
So einfach war das.
Und Robert hatte noch immer keine Ahnung, was vorher passiert war.
»War ich aggressiv? Hab ich mich geprügelt?« Er rieb sein Handgelenk. Sie lachte und gab ihm ein Kinderküßchen auf die Backe.
»Nein, du warst richtig lieb. Und daß du dein Fahrrad den ganzen Berg hochgeschleppt hast, das find ich toll, ehrlich!«
Berg.
Kurt.
Er hatte unten im Dorf in seiner Stammkneipe gesessen. Und er wollte nicht zu Kurts Party rauf. Er war doch raufgefahren. Die Erben von Münchens wichtigster Galerie hatten seine Bilder gesehen und für gut befunden. Er hatte mit Gina geschlafen.
Und danach?
Aus.
Absoluter Filmriß.
Das letzte Bild war die Lichtung im Pinienwald. Gina und Robert. Robert und Gina. Und danach nichts.
Nichts.
Robert stand auf. Britta stand auf. Britta gab ihm seine Hosen und das T-Shirt. Er zog sich an. Dunkle, hart verkrustete Flecken.
Blut.
Er rannte. Britta schrie noch hinter ihm her, daß sie ihn doch überall hin fahren könnte und daß sie doch noch zusammen frühstücken wollten, und daß sie ihn mochte, er hörte nichts mehr. Erwischte auf der Hauptstraße einen Lieferwagen, der ihn ein Stück den Berg mit hochnahm, und fand sein Fahrrad vor dem Los Arcos an einer Pinie. Er hatte es sogar noch abgeschlossen.
Kurt.
Robert fuhr immer langsamer. Die Abzweigung. Bucklige Wurzeln unter dem felsigen Sandweg. Er stieg ab und schob. Angst. Panik. Horror. Die dunkel gebeizten Terrassenbalken gegen die kalkweiße Hauswand. Fenster und Türen offen. Türen. Wie gähnende Mäuler. Überall noch unverändert der Dreck von gestern. Fliegenschwärme, eine Ratte.
Sonne. Fäulnis. Das Sirren der Zikaden. Robert ließ sein Rad fallen und stieg die Stufen zur Terrasse hoch. Der Postkartenblick über die Küste und das Meer. Eine zottig verwilderte Katze an einem halbvollen Paellateller. Sie fauchte, fraß mit gesträubtem Fell weiter. Robert ging langsam ins Haus. Düster. Kalter Zigarettenrauch.
Er sah Kurt sofort. Er hatte es nicht anders erwartet.
Halb auf dem Rücken liegend, dick eingetrocknetes Blut auf dem Maisteppich und ein dunkler Faden von der Nase über das Kinn. Aus dem einen Ohr. Fliegen.
Robert machte noch zwei Schritte in das Haus hinein. Erstarrte. Gestank wie eine Mauer. Dumpf, süßlich. Er würgte, wollte wegrennen, sich übergeben, sich in Luft auflösen. Konnte sich nicht bewegen. Erst als er ein Geräusch hinter sich hörte, wandte er sich langsam um.
Maria. Die Schwester von dem Bauern, dem der Wald früher einmal gehört hatte. Sie putzte in einigen Häusern und war für heute bestellt. Auch sie bewegte sich nicht. Stand in der Tür, schwarz gegen das gleißende Sonnenlicht, das nur auf ihrem bestickten Kopftuch bunte Reflexe aufleuchten ließ. Ihr Mund war stumm geöffnet, und ihre Augen sahen nur Kurt, dann zu Robert und wieder zu Kurt. »Muerto?« flüsterte sie tonlos. Robert nickte. »El médico? Policía ?« Sie fragte es in einem Ton, als erwarte sie, Robert würde nein sagen. Würde irgend etwas tun, was den ganzen Spuk erklären und ihm ein Ende bereiten würde. Irgend etwas, was sie von der Notwendigkeit befreien würde, hier mit hineingezogen zu werden. Robert nickte wieder und hob gleichzeitig die Schultern. Versuchte, in ihrem Gesicht zu erkennen, ob sie verstand. Ob sie ihn für schuldig hielt. Aber alles, was er sah, war ein rundes mütterliches Gesicht mit einem schwarzen Oberlippenbart und einem dichten Geflecht von tiefen Falten. Dunkle Augen, in denen nichts zu lesen war als Mitleid. Und Angst.
Sie erschraken beide, als sie plötzlich den Automotor hörten, der die Serpentinen hochgeröhrt kam, kurz verstummte, dann in die Einfahrt zum Haus bog, näherkam, bremste, hielt. Sie sahen sich an, bewegten sich gleichzeitig wie synchron geschaltete Automaten, gingen hinaus und blieben links und rechts neben der Tür stehen wie zwei Austragsbauern auf einem Wandgemälde.
Ein Miet-Seat. Lachen, Stimmen, Türenknallen. Beate Schultz, ihr Mann. Und Gina. Sie sah schmal, bleich und übernächtigt aus. Folgte den beiden anderen schweigend über den Hügel zur Terrasse herauf. Sie hatten Tüten mit frischem Brot, Käse, Schinken und Orangensaft dabei. Zwei Sektflaschen.
»Mann, ist das eine Sauerei!«
»Pfui Teufel, bei der Hitze.!«
»Zuerst werden wir mal aufräumen!«
»Der schläft wohl noch.«
»Kurt!«
Sie bemerkten Robert und Maria, lächelten immer noch. Blieben stehen, ließen Gina vorbei.
Gina wirkte wie eine Schlafwandlerin. Nickte Maria kurz zu, nahm Robert nicht wahr. Ging ins Haus. Blieb stehen. Sah Kurt.
Sie schrie.
Stürzte sich hin und wollte sich auf ihn werfen. Robert war mit drei Sätzen bei ihr und riß sie zurück. Sie schrie, heulte, schlug um sich. »Er ist tot! Kurt ist tot! Ich hab ihn getötet! Ich hab ihn umgebracht!« Er preßte ihr die Hand auf den Mund.
»Sei still. Gina, sei ruhig! Bitte. Gina!« Sie biß so fest zu, daß es blutete. Er ließ nicht los. Die anderen standen in der Tür und schauten herein. Schultz, Beate und Maria. Schultz murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Endlich wurde Gina schlaff, Robert wollte sie in den Arm nehmen. Sie riß sich los.
»Wir müssen den Arzt holen«, ihre Stimme klang beherrscht und ruhig, »und die Polizei. Martin, Beate, könntet ihr das bitte machen? Maria, würdest du mitfahren und ihnen zeigen, wo es ist.« Maria zögerte, ging aber doch mit, als sie sah, daß nur Beate fahren wollte, daß Schultz hierblieb.
Gina wartete, bis das Auto mit Beate und Maria gewendet hatte und verschwunden war. »Ich hätte hierbleiben müssen. Ich hätte nicht weggehen dürfen.« Sie wandte sich an Robert, als wäre er der Kommissar. »Ich habe bei Beate und Martin übernachtet.«
Robert schwieg und vermied es, Schultz anzusehen.