Kapitel 26

Es war kein Problem, Club-Kurti schnell wieder loszuwerden. Er war begierig darauf, sofort über die Insel zu jagen und jedem die letzten Einzelheiten der schauerlichen Bluttat zu berichten. Robert ging mit ihm zum Rover. »Sag mal, hab' ich eigentlich einen Deckel bei dir?«

»Mach dir doch darüber keine Sorgen. Jetzt!«

»Hab' ich oder nicht?«

»Von wann denn bitte? Du warst ja seit Wochen nicht mehr im Toca Disco.«

»Und gestern?« Er gab sich Mühe, es beiläufig klingen zu lassen, aber in seinen eigenen Ohren klang die Stimme belegt und atemlos. Kurti war mit der Rovertür beschäftigt. Irgend etwas klemmte. Er fluchte und stieg dann auf der rechten Seite ein.

»Gestern? Da waren nur die anderen da.«

»Welche anderen?«

»Na, eure ganze eingeflogene Prominentenclique. Die Krannhals mit ihrem Team, die Schultzens, die Presch, sogar der alte Kuhse und der verklemmte Wendrich haben sich ins Flimmerlicht gestürzt.« Er kicherte. »Ich glaube gesehen zu haben, daß die beiden zusammen sogar was aufgerissen haben. Fummel-Henny, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Versteh' ich nicht.«

»Na, die Henny, die die Fummel näht und sich nebenbei noch ein bißchen Nadelgeld verdient, haha. War eine Mordsstimmung. Umsatz von einem Monat. Hab' nur Gina und dich vermißt. Darum dachte ich ja auch … oh, Scheiße!« Er versuchte Robert auf die Schulter zu klopfen, bekam das Fenster nicht runter, stand halb auf, aber Robert wich zurück. Kurti fuhr endlich los und ließ Robert in einer Staub- und Abgaswolke allein zurück.

Robert ging in sein Haus, wieder raus, wieder rein, stellte einen Stuhl um und leerte einen Aschenbecher. Vincent mienzte und strich ihm um die Beine, er kraulte ihn und machte eine Dose Ölsardinen für ihn auf. Vincent fraß schnurrend, Robert sah ihm zu und beneidete ihn.

Er hätte gern geheult oder geschlafen oder sich besoffen. Er hatte weder die Kraft noch die Zeit dazu. Stand auf, zog sich aus und rasierte sich. Kippte sich im Hof drei Eimer kaltes Zisternenwasser über den Kopf und trocknete sich ab. Fand noch saubere Klamotten und brühte sich einen schwarzen Kaffee auf. Seine Hände zitterten, und die Käfer und Reptilien in seinem Kopf kratzten und fiepten. Aber es war nicht mehr die bodenlos schwarze Angst und alles lähmende Panik von vorhin, eher so eine Art in Watte verpackte Nervosität. Er drehte sich einen Joint und inhalierte vorsichtig.

Zeit.

Er hatte Zeit. Zwischen acht und achtundvierzig Stunden. Bis sie alle da waren, bis sie die Ergebnisse hatten, bis die richtigen Verhöre begannen. Und auch dann noch würde es lange dauern, denn niemand hatte etwas gesehen, niemand etwas gehört. Die Spanier wollten in so was nicht hineingezogen werden, für sie war die Polizei noch immer die alte, die von Francos Zeiten. Und die Ausländer zogen schon die Köpfe ein, wenn an der Kreuzung ein Verkehrspolizist stand. Sie waren übervorsichtig. Entweder sie machten ihr Geld hier oder sie hatten keins. Permisos und multas, Kontrollen und Schikanen, sie hatten es gelernt, blind, taub und stumm zu sein.

Aber darauf kam es nicht an. Und auch nicht, ob sie ihn nun verdächtigten, verhafteten und einlochten. Darum ging es nicht.

Er mußte es wissen.

WISSEN.

Das, wovon er Hunderte von Malen geträumt hatte, wenn er schweißgebadet aus seinem Rausch aufgewacht war. Mit einem Black-Out. Und einem miesen Gefühl.

Daß er etwas getan hatte, was nicht wieder gutzumachen war.

Das war jetzt geschehen.

Robert stand auf, drückte den Joint aus, trank einen letzten Schluck Kaffee und stellte Vincent den Rest der Ölsardinen für später hin. Setzte sich aufs Rad und fuhr ins Dorf.

Toni Petit spülte Gläser. Wollte Robert ein Bier abzapfen, zog die Brauen hoch, als der nur ein Wasser bestellte, gab ihm liebevoll einen Eiswürfel und einen Zitronenschnitz dazu. Ja, klar erinnerte er sich, daß Robert gestern abend hier gesessen hatte. Bis elf etwa, dann war er um kurz vor halbzwei wiedergekommen. Mamma mia, voll wie ein Haus. Und dann hatte er sich prügeln wollen. Mit El Alemán. Ja, sicher, El Alemán war ein Nazi, aber er war auch ein alter kranker Mann. Und Toni Petit war ein comunista und haßte die Nazis. Aber er war auch Wirt und er konnte es nicht zulassen, daß ein junger Mann in seiner Bar einen alten Mann verprügelte.

»Du hast mich also rausgeschmissen?«

»Si, aber das tut mir leid. Cognac?«

Robert lehnte ab und fuhr im Tres Erres vorbei. Irina Zanca hockte hinter dem Tresen und las einen zerfledderten Raymond Chandler. Nein, hier hatte er sich gestern überhaupt nicht sehen lassen. Dasselbe hörte er im Sa Volta, im Café Central und im Cinq Polls. Aber in der Fonda Morna war er gewesen. Ja, betrunken war er schon gewesen, aber friedlich. Er hatte Schmerzen im linken Handgelenk gehabt, und Morna hatte ihm einen Kräuterumschlag gemacht. Sie schimpfte mit ihm, weil er ihn verloren hatte, und erneuerte ihn trotz seiner Proteste. Während er wartete und gekühlten Tee trank, holte eins der vielen Kinder die Kräuter aus dem Garten, die die alte Morna dann mit Spucke in ein Tuch drückte. Als er ging, tat das Handgelenk tatsächlich nicht mehr so weh. Vielleicht lag es auch nur daran, daß der Verband so fest war, daß Robert die Hand kaum noch bewegen konnte. Es war egal.

Im Ses Cançons hatte er versucht, die Internationale zu singen, im Sa Carabassa hatte er eine verheiratete Touristin angemacht, und das El Torre war um die Zeit schon zu. Lang war er nirgends geblieben, aber gesoffen hatte er überall. In der Carabassa war er vom Hocker gekippt, sie hatten ihn rausgelegt. Von dort war er dann irgendwann verschwunden. Er mußte wie ein Irrer gefahren sein. Bergauf. Und wenn Britta recht hatte, dann war er mindestens das letzte Stück mit dem Rad auf der Schulter gerannt.

Die meisten der Kneipen lagen nah beieinander oder zumindest an der Straße. Trotzdem. Von halb zwei Uhr an war da keine Sekunde Luft. Und wenn er die Fahrt runter ins Tal sehr knapp mit zehn Minuten dazurechnete, blieben immer noch zwanzig leere Minuten übrig., Wenn der Arzt recht hatte und Kurt zwischen eins und zwei gestorben war.

Ermordet.

Gina.

Robert fuhr auf der Serpentinenstraße den Berg hinauf. Mußte absteigen und ein Stück schieben. Hatte den Geschmack von Bier auf der Zunge. Bitter und eiskalt perlend. Stieg wieder auf und quälte sich weiter.

Das Haus schien leer und unbewohnt.

Alles war sauber und aufgeräumt, der Sand geharkt, die Terrasse gefegt. Fenster und Türen waren offen. Robert stellte sein Rad ab und rief. Keine Antwort. Er ging näher. Rief wieder.

Stand vor der Tür.

Die Sonne ging hinter den Pinien unter, und drin war es schon dunkel. Flackernder Kerzenschein. Robert ging hinein.

Gina war allein. sie hockte mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, vor sich das Selbstporträt von Kurt. Kerzen wie auf einem Altar. Kerzen auf der Bar, auf dem Tisch, auf der Staffelei. Kerzen auf dem Boden. Da, wo Kurt gelegen hatte. Der blutige Maisteppich war verschwunden und auch die Flaschen, Gläser und Aschenbecher. Sonst war alles unverändert. Er blieb hinter ihr stehen. »Gina«, sagte er leise, »Gina.« Sie reagierte nicht. »Gina, entschuldige, aber es ist wichtig. Kannst du dich noch erinnern, wann ich gestern nacht hier weggegangen bin?« Sie bewegte sich nicht, und seine Frage kam ihm plötzlich idiotisch vor. Er hockte sich neben sie. »Gina, es tut mir so leid.« Sie sah ihn nicht an, starrte nur auf das Bild von Kurt und bewegte die Lippen, als würde sie Kaugummi mümmeln. Im Wald vor dem Haus zwitscherten Dutzende von Vögeln hysterisch auf, vermutlich hatten sie eine Katze entdeckt. »Gina«, er hob die Hand, »ich bin doch da. Ich liebe dich. Wir sind zusammen. Sie können uns nichts anhaben.« Er berührte sie.

Sie zuckte zusammen, als hätte sie sich verbrannt, warf sich auf den Boden und wälzte sich weg von ihm. Schrie. »Faß mich nicht an. Ich liebe ihn. Ich habe immer nur ihn geliebt. Und außerdem bin ich vor dir gegangen. Du warst noch da, und ihr habt euch gestritten.« Sie stand auf, wich vor ihm in eine Ecke zurück, tastete hinter sich und fand über einen Stuhl gehängt die weiße Jeansjacke von Kurt. Nahm sie hoch und drückte sie an sich. »Du hast ihn gehaßt.«