Robert stand auf. »Ja, du hast recht. Ich habe ihn gehaßt. Ich habe ihn gehaßt, weil du ihn geheiratet hast, weil er immer mit dir zusammensein konnte, weil ich nie aufgehört habe, dich zu lieben.« Er ging zu seinen Bildern hinüber, die immer noch wie ein wirrer Haufen Puzzlesteinchen auf dem Boden lagen, und kniete sich hin.
»Das ist ja nicht wahr«, zischte sie hinter ihm her, »du hast mich nie wirklich geliebt, du wolltest nur mit mir schlafen, dich hat es doch überhaupt nicht interessiert, wer ich bin. Er hat mich verstanden. Er war ein Teil von mir.«
Robert nahm einen der weißgeränderten Fetzen, suchte einen anderen, legte ihn an, einen dritten, einen vierten. Drückte sorgfältig die Kanten zusammen. Es war sinnlos. Sobald er den Finger hob, verrutschten sie wieder. Narbig gezackt.
»Du hast ihn gehaßt, weil er besser war als du. Weil er ein echter Maler war, weil er Erfolg hatte, weil er einen Namen hatte und Geld.«
Robert setzte ein zweites und ein drittes Bild zusammen. Legte die Teile so aneinander, wie sie einmal gewesen waren, akribisch sorgsam, konzentriert.
»Und deshalb hast du ihn getötet.«
Die Bilder lagen jetzt ordentlich nebeneinander an der Wand. Es waren sieben Blätter, vier rot verschmiert, drei zerrissen. Die besten, die Robert in den letzten Jahren gemalt hatte. Robert selbst lag da. Zerfetzt und zerschnitten. Aber das Blut war eingetrocknet, und die Narben schmerzten nicht mehr. Er wandte sich langsam um und sah Gina an, die wieder vor Kurts Porträt hockte und sich wie in Trance hin und herwiegte. »Nein«, sagte er leise, »es war genau andersrum. Er war es, der mich gehaßt hat. Weil ich mir selbst treu geblieben bin, weil ich frei war. Lächerlich. Ich habe nie darüber nachgedacht, ich hab' das alles doch nicht absichtlich und bewußt gemacht, es ist ganz einfach so gekommen.« Er ging zum Kühlschrank, aber das einzige, was er fand, waren zwei Flaschen Sekt. Er machte eine auf und goß zwei Gläser voll. Brachte eins zu Gina und stellte es neben sie, steckte sich eine Zigarette an. »Ich habe ihn nicht getötet. Wir waren besoffen und haben uns geprügelt. Er ist wie ein Irrer auf mich losgegangen, ich hab' zugeschlagen, er ist gestürzt und auf den Tisch geknallt. Er hatte Nasenbluten und war bewußtlos. Aber er hat noch gelebt.« Es war alles wieder da, die ganzen verlorenen Stunden der Nacht, zusammengefügt mit fast unsichtbaren weißen Nähten. »Ich habe die Ginflasche nicht angerührt. Ich habe eine panische Angst vor Flaschen, sie können tödliche Waffen sein. Ich hatte auch Angst vor mir selbst. Ich bin weggerannt, um nicht noch einmal zuzuschlagen.« Er leerte das Glas mit einem Schluck und schenkte sich nach. Fühlte sich ausgelaugt und zu Tode erschöpft, als hätte er Tage und Nächte hindurch gearbeitet. Das endgültige Vakuum. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Kein Jetzt mehr.
Gina kicherte plötzlich. »Wenn du ihn nicht getötet hast, dann war es eben keiner«, ihre Stimme klang schrill und hoch, »oder ein Einbrecher oder ein Unfall.« Robert setzte sich auf einen Stuhl in ihrer Nähe und füllte sein Glas nach.
»Oder du.«
»Ich habe ein Alibi!« Sie rollte sich auf die Seite, warf das Glas um und stellte es vorsichtig wieder auf. »Ich habe bei Martin und Beate übernachtet.«
»Die waren alle noch im Toca Disco. Sind erst um vier Uhr morgens heimgekommen. Bis dahin hattest du genug Zeit, um noch, einmal herzukommen und wieder zurückzufahren.«
»Aber das weiß doch niemand.« Sie zog die Knie an und umschlang sie mit beiden Armen. »Die werden mich nicht verraten.«
»Ach, Gina«, sie tat ihm leid, aber er brachte es nicht fertig, aufzustehen und zu ihr hinzugehen, sie zu berühren. Sie war ihm fremd, und sogar das Gefühl des Mitleids war nicht faßbar. Weniger real zum Beispiel als damals, als Vincent nach seinem ersten Kampf mit einem zerbissenen Ohr heimgekommen war. »Kurt war bekannt, er war prominent. Wenn sich die Polizei hier noch zurückhält, dann doch nur, weil sie sich fürchten, einen Fehler zu machen. Aber die sind doch nicht blöd. Sie haben Fotos gemacht, und sie werden auf der Flasche deine Fingerabdrücke finden. Sie werden herumfragen und alles herausbekommen. Sie haben deinen Paß und deinen Ausweis, und in wenigen Stunden wird es hier von Presse und Polizisten wimmeln. Interpol, deutsche Kripo, ein Vertreter vom Staatsanwalt. Sie haben Kurts Eltern benachrichtigt, und die Presch und die Krannhals haben ihre Kollegen heißgemacht. Ich schwör' dir, die ersten Schlagzeilen sind schon raus.«
»Du mußt mir helfen«, sie begann zu wimmern, »hilf mir doch!«
»Das kann ich nicht mehr.«
»Aber du liebst mich doch!« Aufschrei.
»Ich weiß es nicht. Ich fühle nichts mehr.«
»Aber alles ist doch deine Schuld!« Sie setzte sich plötzlich auf und schrie mit verzerrtem Gesicht. »Deine Schuld! Weil du mich nie gefragt hast, ob ich dich heiraten will. Weil er dich immer beneidet hat, weil er eifersüchtig war. Glaubst du denn, er hat nicht genau gewußt, was zwischen uns war? Und daß es mir nur mit dir im Bett was bringt, verdammt noch mal! Der war doch eh so gut wie impotent.«
»Gina, bitte, hör auf!«
»Ich denk gar nicht dran! Jahrelang hab' ich das Maul halten müssen. Immer nur die liebe kleine süße Kindfrau sein. Immer hat er mich künstlich klein gehalten. Ich durfte ja nicht mal selber entscheiden, was ich mir zum Anziehen kaufe. Ich war so eine Art niedliches Dekorationsstück für ihn, das er auch selber rausputzen wollte. Und bloß keine eigenen Gedanken. Meine Freundinnen hat er der Reihe nach alle rausgebissen. Gelobt wurde nur, wer ihm nach dem Maul plapperte!«
»Gina …«
»Er hat mir sogar verboten, den Kurs auf der Volkshochschule fertigzumachen, alles hat er mir vermiest, was mich auch nur einen Millimeter von ihm entfernt hätte. Nur die Ferien mit dir. Die gab's als Bonbon. Damit er mich nachher um so mehr quälen konnte. Schuldgefühle, Anspielungen. Abhängigkeit.« Sie saß jetzt steil aufgerichtet mit verkrampftem Rückgrat. Starrte ihn an und starrte durch ihn hindurch. Die Stimme wieder leise, fast verträumt. »Ich habe mir seinen Tod gewünscht. Dutzende, Hunderte von Malen. Wenn er mit dem Auto allein unterwegs war, dann habe ich mir grausige Unfälle ausgemalt, wenn er nach Mailand oder London flog, hab' ich in der Tagesschau auf die Meldung von einem Flugzeugabsturz gelauert. Einmal hab' ich ihm sogar seine albernen Magenpillen gegen ein echt brutales Schlafmittel ausgetauscht. Aber er hat es gemerkt, er war ein Hypochonder, und die hatten auch nicht ganz genau die gleiche Form. Gesagt hat er nie was.«
»Warum hast du ihn nicht verlassen? Warum bist du nicht weg, zu mir oder sonstwohin. Warum?«
Sie sah ihn an. Zum erstenmal direkt und großäugig. »Ich konnte nicht. Ich hab's ja versucht, ganz am Anfang. Er hat es nicht zugelassen. Ich hab's nicht geschafft.« Ihre Stimme hob sich wieder. »So wie gestern. Ich hab's ja wieder versucht. Ich wollte nicht zurückkommen. Ich wollte es wirklich nicht. Dann hab' ich mir eingeredet, daß ich wenigstens ein paar Klamotten brauche. Und da lag er da. Mit blutverschmierter Schnauze. Besoffen. Schnarchend, röchelnd. Ekelerregend. Ich hab' versucht, mich an ihm vorbeizuschleichen. Er hat mich gehört. Und war so gemein wie noch nie. Daß ich nur von seinem Ruhm und von seinem Geld lebe. Und daß ich ohne ihn gleich ins Hurenhaus gehen könnte. Ich hab' nicht gewußt, was ich tu', ich hab' nur plötzlich die Flasche in der Hand gehabt.« Sie fiel plötzlich hin und begann zu weinen. »Und dann war alles voller Blut. Aber er hat nichts mehr gesagt.«
Robert ging ins Bad und holte ein Glas Wasser und zwei Valium. Er trug Gina ins Bett, deckte sie zu, redete leise auf sie ein und wartete, bis sie eingeschlafen war. Als ihr Atem schon ruhig ging, quollen immer noch Tränen unter ihren Wimpern hervor.
Robert ging ins Wohnzimmer zurück, packte die zerfetzten und verschmierten Bilder in die Mappe zurück und stellte sie wieder in die Ecke. Blies die Kerzen aus und drehte Kurts Portrait an die Wand. Lehnte die Haustür nur an.
Stieg auf sein Rad und fuhr davon.
Auf den engen Serpentinen den Berg hinunter. Ohne zu bremsen. Schneller und schneller. Kurven, das Meer, ein entgegenkommender Bus. Schatten. Licht.
Das Ende. Die lange Gerade. Er mußte wieder treten.